In der traditionellen Umfrageforschung werden zur Untersuchung der Präferenzen von Untersuchungseinheiten, die in der Regel durch Individuen repräsentiert werden, meist Zufallsstichproben verwendet. Die Ziehung von Stichproben stellt im Vergleich zur Vollerhebung natürlich eine kostengünstigere und praktikablere Alternative dar. Beispielsweise zur Prognose von Wahlergebnissen wäre eine Vollerhebung, also die Befragung der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung, wohl schon aus Zeitgründen, aber auch finanziell, kaum realisierbar. Um nun eine repräsentative Stichprobe zu erhalten, die verallgemeinernde Aussagen bezüglich der Grundgesamtheit zulässt, muss jede Untersuchungseinheit die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen, in die Stichprobe gezogen zu werden.1 Neben diesen so genannten einstufigen Wahrscheinlichkeitsauswahlen werden für große Grundgesamtheiten auch mehrstufige Auswahlprozesse angewendet. Im Fall der Wahlprognose werden beispielsweise auf der ersten Stufe Landkreise, auf der zweiten Stufe Haushalte innerhalb des zu befragenden Landkreises und im dritten Auswahlschritt Personen der jeweiligen untersuchten Haushalte ausgewählt. Herkömmlicherweise werden bei der Auswertung der Ergebnisse Unterschiede bei den erhobenen Daten lediglich auf Wesensmerkmale der Individuen zurückgeführt.
Das Konzept der Mehrebenenanalyse als „statistisches Instrument zur Auswertung von Daten der Umfrage- bzw. Surveyforschung“2 besteht hingegen darin, Unterschiede zwischen den erhobenen Daten auch durch die Zugehörigkeit der Individuen zu verschiedenen Gruppen zu erklären. Es wird also berücksichtigt, dass hinsichtlich der Wirkung auf eine abhängige Variable Merkmale sowohl individueller als auch kollektiver Einheiten Berücksichtigung finden3. Grundlage für Mehrebenenmodelle ist somit das Vorliegen einer hierarchischen Datenstruktur, wobei unterschiedliche Analyseebenen bei der Analyse berücksichtigt werden müssen. Die Anwendung von Mehrebenenanalysen im Bereich der Wahlforschung lässt sich scheinbar damit begründen, dass die Entscheidung eines Individuums einerseits durch individuelle Merkmale, aber andererseits auch durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Kollektiv“, also beispielsweise zu einer bestimmten Gruppe oder Clique, beeinflusst wird.
1 Vgl. Engel, U. (1998), S. 14.
2 Engel, U. (1998), S. 5.
3 Vgl. Ditton, H. (1998), S. 12.
Gliederung
1 Zielsetzung der Arbeit
2 Grundsätzliches zum Verständnis des Mehrebenengedankens
2.1 Die Entwicklung der Mehrebenenanalyse
2.1.1 Émile Durkheim als historisches Beispiel der Mehrebenenanalyse
2.1.2 Die Mehrebenenanalyse als Reaktion auf die Kritik an der Ein-Ebenen-Analyse
2.2 Die Unterscheidung von Individual-und Kollektivebene
2.2.1 Die Lazarsfeld-Menzel-Typologie individueller und kollektiver Eigenschaften
2.2.1.1 Kollektive Eigenschaften
2.2.1.2 Individuelle Eigenschaften
2.2.2 Die Klassifikation individueller und kontextueller Effekte nach Davis
2.2.3 Die Unterscheidung individuen- und gruppenbezogener Effekte anhand von Beispielen hierarchischer Datenstrukturen
3 Die Durchführung von Mehrebenenanalysen
3.1 Grundsätzliche Voraussetzungen zur Durchführung
3.2 Die Problematik bei der Anwendung traditioneller statistischer Analyseverfahren
3.2.1 Konsequenzen der Ignorierung der Mehrebenenstruktur
3.2.2 Die Durchführung getrennter Regressionsanalysen
3.2.3 Die Aggregation von Individualdaten
3.2.4 Die Disaggregation von Daten und die Problematik des ökologischen Fehlschlusses
3.2.5 Weitere Typen von Fehlschlüssen
3.3 Das Hierarchisch Lineare Modell (HLM)
3.3.1 Die Regressionsanalyse als Ausgangspunkt
3.3.2 Die Einbeziehung von Merkmalen der Aggregateinheiten
3.3.3 Die Unterscheidung von Zufalls- und festen Effekten
3.3.4 Die Metrik in Mehrebenenmodellen
3.3.4.1 Die Zentrierung um Gesamtmittelwert und Gruppenmittelwert
3.3.4.2 Die Verwendung von Dummy-Variablen
3.3.5 Die praktische Umsetzung der Mehrebenenanalyse
4 Spezielle Anwendungsmöglichkeiten des Modells und Ergänzungen zum Mehrebenenansatz
4.1 Die Analyse von Längsschnittdaten
4.2 Metaanalysen
4.3 Die Erweiterung des Modells auf drei oder mehr Analyseebenen
4.4 Spezielle Software zur Mehrebenenanalyse
5 Die Mehrebenenanalyse am Beispiel der Auswertung des Fragebogens „Logistik-Standort Niederbayern“
5.1 Beschreibung des Vorgehens mit SPSS
5.2 Präsentation und Auswertung der Ergebnisse mit Hilfe von SPSS
5.2.1 Die Ergebnisse bei linearer Einfachregression
5.2.2 Die Ergebnisse unter Einbeziehung der Dummy-Variablen
6 Abschließende Beurteilung des Mehrebenenmodells
1 Zielsetzung der Arbeit
In der traditionellen Umfrageforschung werden zur Untersuchung der Präferenzen von Untersuchungseinheiten, die in der Regel durch Individuen repräsentiert werden, meist Zufallsstichproben verwendet. Die Ziehung von Stichproben stellt im Vergleich zur Vollerhebung natürlich eine kostengünstigere und praktikablere Alternative dar. Beispielsweise zur Prognose von Wahlergebnissen wäre eine Vollerhebung, also die Befragung der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung, wohl schon aus Zeitgründen, aber auch finanziell, kaum realisierbar. Um nun eine repräsentative Stichprobe zu erhalten, die verallgemeinernde Aussagen bezüglich der Grundgesamtheit zulässt, muss jede Untersuchungseinheit die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen, in die Stichprobe gezogen zu werden.[1] Neben diesen so genannten einstufigen Wahrscheinlichkeits-auswahlen werden für große Grundgesamtheiten auch mehrstufige Auswahlprozesse angewendet. Im Fall der Wahlprognose werden beispielsweise auf der ersten Stufe Landkreise, auf der zweiten Stufe Haushalte innerhalb des zu befragenden Landkreises und im dritten Auswahlschritt Personen der jeweiligen untersuchten Haushalte ausgewählt. Herkömmlicherweise werden bei der Auswertung der Ergebnisse Unterschiede bei den erhobenen Daten lediglich auf Wesensmerkmale der Individuen zurückgeführt.
Das Konzept der Mehrebenenanalyse als „statistisches Instrument zur Auswertung von Daten der Umfrage- bzw. Surveyforschung“[2] besteht hingegen darin, Unterschiede zwischen den erhobenen Daten auch durch die Zugehörigkeit der Individuen zu verschiedenen Gruppen zu erklären. Es wird also berücksichtigt, dass hinsichtlich der Wirkung auf eine abhängige Variable Merkmale sowohl individueller als auch kollektiver Einheiten Berücksichtigung finden[3]. Grundlage für Mehrebenenmodelle ist somit das Vorliegen einer hierarchischen Datenstruktur, wobei unterschiedliche Analyseebenen bei der Analyse berücksichtigt werden müssen. Die Anwendung von Mehrebenenanalysen im Bereich der Wahlforschung lässt sich scheinbar damit begründen, dass die Entscheidung eines Individuums einerseits durch individuelle Merkmale, aber andererseits auch durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Kollektiv“, also beispielsweise zu einer bestimmten Gruppe oder Clique, beeinflusst wird. Oder um es mit den Worten von J.W. Falter zu sagen:
„The basic idea of contextual analysis is that in addition to such individual attributes as age or certain attitudinal structures, individual behaviour is also influenced by the characteristics of the environment.”[4]
Diese Arbeit beschäftigt sich nun mit der Analyse des Konzepts der Mehrebenenanalyse. Dabei gehe ich in einem ersten Schritt auf die Grundlagen zur Anwendung der Mehrebenenanalyse ein, wobei es dabei einerseits um die historische Entwicklung der Mehrebenenanalyse geht. Andererseits werden hier aber auch bereits grundlegende Charakteristika dieses Analyseverfahrens erläutert. Anschließend behandle ich in einem sehr ausführlichen Teil die Durchführung von Mehrebenenanalysen. Dabei wird die Frage geklärt, warum Mehrebenenanalysen bei Vorliegen komplexer Datenstrukturen notwendig sind und welche Konsequenzen eine Ignorierung der Mehrebenenstruktur mit sich bringt. Neben den Grundzügen des Hierarchisch Linearen Modells und spezifischen Anwendungsmöglichkeiten der Mehrebenenanalyse wird anschließend noch auf spezielle Software für dieses Analyseverfahren eingegangen. Im letzten Abschnitt werden die in der Theorie gewonnenen Erkenntnisse auf ein konkretes Anwendungsbeispiel übertragen.
2 Grundsätzliches zum Verständnis des Mehrebenengedankens
2.1 Die Entwicklung der Mehrebenenanalyse
2.1.1 Émile Durkheim als historisches Beispiel der Mehrebenenanalyse
Schon 1897 beschäftigte sich der französische Philosoph und Soziologe Émile Durkheim in seinem Werk „Le Suicide“ mit Mehrebenenanalysen. Durkheim untersuchte dazu mehrere Jahre lang die Selbstmordraten unterschiedlicher Gesellschaften. Sein Interesse gilt hierbei dem Phänomen der Selbstmordraten und weniger den Motiven des einzelnen Selbstmords selbst. Bei seinen Untersuchungen unterscheidet Durkheim grundsätzlich vier Formen des Suizids, nämlich den egoistischen, den altruistischen, den fatalistischen sowie den anomischen. Die Bereitschaft, Selbstmord zu begehen, erklärt sich laut Durkheim aus Gründen, die nicht so sehr psychologischer Natur sind, vielmehr spielt die Gesellschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Aus seiner Studie folgert er beispielsweise, dass die Selbstmordrate in einer bestimmten Gesellschaft im Laufe der Zeit in etwa konstant bleibt, obwohl sich die Zusammensetzung der Gesellschaft von Jahr zu Jahr ändert. Ebenso lässt sich festhalten, dass beispielsweise gemäß dem egoistischen Selbstmord die Selbstmordrate mit dem Grad der sozialen Integration in einer Gruppe sinkt. Katholiken etwa sind in der Regel viel intensiver in die Glaubensgemeinschaft eingebunden als Protestanten und praktizieren ihren Glauben vor allem in der Gruppe. Deshalb sind Selbstmorde bei Katholiken weitaus weniger verbreitet als bei Protestanten. Je mehr ein Individuum also in eine Glaubensgemeinschaft, in die Ehe oder in die Familie eingebunden ist, desto geringer ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass es Selbstmord begeht. Folglich sind kinderlose Paare eher selbstmordgefährdet als Familien mit Kindern. Außerdem neigen geschiedene oder verwitwete Menschen deutlich häufiger dazu, sich das Leben zu nehmen als verheiratete Paare.
Zusätzlich zieht Durkheim aus seinen Untersuchungen den Schluss, dass die kollektive Eigenschaft „Scheidungsrate in einer Stadt“ mit den individuellen Eigenschaften „Selbstmordwahrscheinlichkeit“ und „Geschlecht“ interagiert. Denn unabhängig davon, ob ein Individuum verheiratet oder geschieden ist, je höher die Scheidungsrate in einer Region, desto höher ist auch die dort beobachtete Selbstmordrate. Besonders verheiratete Männer sind laut Durkheim davon betroffen, denn für sie bedeutet eine erhöhte Scheidungsrate in ihrer Stadt eine ebenso erhöhte Selbstmordwahrscheinlichkeit, obwohl sie selbst ja in einer Ehe leben. Wenn in einer Region zusätzlich Scheidungen sehr weit verbreitet sind, reagieren Verheiratete darauf sogar stärker als Geschiedene, so dass sich mit zunehmender Scheidungshäufigkeit die Selbstmordneigung von Verheirateten und Geschiedenen immer mehr angleicht bzw. nur noch geringfügig unterscheidet. Abbildung 1 veranschaulicht diesen Zusammenhang graphisch.
Abbildung 1: Das Ergebnis Durkheims Untersuchung zur Selbstmord-
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: in Anlehnung an Langer, W. (2004), S. 13.
Durkheim erklärt sich diesen beobachteten Zusammenhang mit Hilfe der Stabilitätsfunktion der Ehe[5], die dafür sorgt, dass Verheiratete einerseits zwar grundsätzlich einer geringen Suizidgefahr ausgesetzt sind. Aber andererseits wird diese Funktion der Ehe mit steigender Scheidungsrate im sozialen Umfeld mehr und mehr außer Kraft gesetzt.
Durkheim bewies mit diesen Ergebnissen letztendlich die Existenz eines so genannten „Kollektivbewusstseins“ und zeigt damit auf, dass der soziale Kontext eines Individuums häufig von stärkerem Gewicht für persönliche Entscheidungen ist als individuelle Eigenschaften und deshalb bei den Analysen miteinbezogen werden sollte.
2.1.2 Die Mehrebenenanalyse als Reaktion auf die Kritik an der Ein-Ebenen-Analyse
Mehrebenenanalysen waren also schon zur Zeit Durkheims bekannt, haben aber seitdem deutlich an Bedeutung gewonnen. Das über lange Zeit in der Umfrageforschung angewandte, einfache Konzept der Ein-Ebenen-Analyse, bei dem lediglich Daten analysiert werden, die Individuen charakterisieren, wird durch die simultane Einbeziehung mehrerer Aggregationsebenen zu einer Mehrebenenanalyse erweitert. Diese traditionelle Ein-Ebenen-Analyse wird häufig kritisiert, weil dadurch die Zusammenhänge von Mikro- und Makroebene nicht ausreichend erklärt werden können. Häufig liegen bei Untersuchungen z.B. aber individuelle Daten, also Daten niedrigerer Ebenen vor, die sich in natürlicher Weise zu übergeordneten Einheiten zusammenfassen lassen. Schüler beispielsweise lassen sich Klassen oder Schulen zuordnen, Angestellte Abteilungen oder Betrieben. Zusätzlich zeigt die Praxis der Umfrageforschung, dass sich Individuen grundsätzlich durch das Zusammenspiel von individuellen Mikrofaktoren und sozialen Makrofaktoren charakterisieren lassen, was bei Ein-Ebenen-Analysen nicht berücksichtigt wird. Beispielsweise die Leistungen von Schülern hängen einerseits von individuellen Merkmalen wie Begabung oder Ehrgeiz des Schülers ab, werden andererseits aber auch von der Zusammensetzung der Klasse, der Qualität des Unterrichts oder dem Schulsystem beeinflusst. Der Verdienst eines Beschäftigten in einem Betrieb hängt zum einen von seiner Ausbildung und Einsatzbereitschaft ab, zum anderen aber auch von der regionalen Arbeitslosenquote. Um grundsätzlich das Verhalten von Individuen vollständig erklären zu können, muss man auch die Beziehungen zu anderen Personen sowie das soziale Umfeld betrachten. Wenn folglich „Objekte verschiedener Ordnung gleichzeitig zum Gegenstand der Untersuchung werden“[6], spricht man von einer Mehrebenenanalyse. Es gibt Mehrebenenanalysen mit zwei, mit drei oder auch mit mehr Ebenen. Wichtig ist dabei, dass alle untergeordneten Einheiten jeweils einer höheren Ebene zugerechnet werden können.
2.2 Die Unterscheidung von Individual- und Kollektivebene
2.2.1 Die Lazarsfeld-Menzel-Typologie individueller und kollektiver Eigenschaften
2.2.1.1 Kollektive Eigenschaften
Bei der Untersuchung von individuellen und kollektiven Eigenschaften greift man in der Regel auf einen Aufsatz von Paul F. Lazarsfeld und Herbert Menzel aus dem Jahre 1961 zurück. Nach der Lazarsfeld-Menzel-Typologie existieren zwei Ebenen, die bei Untersuchungen von Interesse sind, nämlich die Individualebene sowie die Kollektivebene. Die niedrigste Untersuchungsebene wird dabei nicht immer zwangsläufig durch ein Individuum repräsentiert, sondern kann auch eine Personengruppe sein, z.B. also eine Abteilung in einem Betrieb, eine Klasse in einer Schule, oder eine Gemeinde in einem Landkreis.
Bei der Beschreibung von Kollektiven unterscheiden Lazarsfeld und Menzel globale, analytische und strukturelle Eigenschaften. Globale Eigenschaften als „echte“ Aggregateigenschaften sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht auf Informationen über die Eigenschaften der einzelnen Mitglieder basieren[7], sondern nur abhängig von der jeweiligen Aggregatebene sind. Beispiele für globale Merkmale sind die Infrastruktur einer bestimmten Region, die Währung eines Landes oder die Regierung eines Bundeslands.
Im Gegensatz zu den globalen Eigenschaften beruhen analytische und strukturelle Eigenschaften auf Informationen der einzelnen Mitglieder eines Aggregats. Von analytischen Eigenschaften spricht man, wenn sich diese ausgehend von „absoluten Merkmalen der Mitglieder“[8] mit bestimmten mathematischen Berechnungen, also mit Hilfe von Durchschnittsbildung oder Berechnung von Standardabweichung und Korrelationskoeffizient ermitteln lassen. Man kann beispielsweise den Lebensstandard in einer Stadt durch die Höhe des durchschnittlichen Einkommens der Haushalte, die die Mitglieder des Kollektivs „Stadt“ darstellen, ableiten. Der Grad der Streuung um diesen Mittelwert ergibt sich durch Ermittlung der Standardabweichung. Den Zusammenhang zwischen Alter und Einkommenshöhe etwa erhält man durch Berechnung des Korrelationskoeffizienten. Hingegen strukturelle Eigenschaften ergeben sich aus Daten über die sozialen Beziehungen der Mitglieder eines Kollektivs. Beispiele dafür sind die innerhalb einer Klasse zwischen Schülern bestehenden Interaktionen. Jeder Schüler versteht sich mit irgendeinem anderen Klassenkameraden besser, woraus jeweils gewisse Beziehungsstrukturen resultieren, die sich über bestimmte statistische Kennwerte abbilden lassen.[9]
2.2.1.2 Individuelle Eigenschaften
Diesen gerade erläuterten kollektiven Merkmalen stehen die Eigenschaften der Individuen der Aggregate gegenüber. Dabei unterscheiden Lazarsfeld und Menzel zwischen absoluten, komparativen, relationalen und kontextuellen Eigenschaften.
Absolute Eigenschaften nehmen weder Bezug auf Charakteristika des Aggregats noch auf andere Mitglieder des Aggregats, sondern kennzeichnen typische persönliche Merkmale eines Individuums wie Alter, Beruf, Geschlecht, Körpergröße, etc. Ist die niedrigste Untersuchungsebene etwa eine Gruppe könnte eine absolute Eigenschaft hingegen auch die Regierungsform eines Landes sein. Erfolgt ein Vergleich zwischen beispielsweise dem Alter eines Mitglieds und dem durchschnittlichen Alter des Aggregats, dem dieses angehört, so spricht man von komparativen Eigenschaften. Dabei kann beurteilt werden, ob das Alter des Mitglieds bezogen auf die Altersstruktur seiner Gruppe über- oder unterdurchschnittlich ist oder genau dem Durchschnitt der Gruppe entspricht. Relationale Eigenschaften sind dadurch charakterisiert, dass sie aufgrund der Beziehung zweier gleichrangiger Untersuchungseinheiten der niedrigsten Ebene zustande kommen. Dabei sind beispielsweise die Beziehungen zweier Individuen zueinander von Interesse. Wird ein Individuum durch eine bestimmte Eigenschaft des Aggregats, dem es angehört, charakterisiert, so spricht man von kontextuellen Eigenschaften von Individuen. Dem Mitglied wird folglich „eine Merkmalsausprägung „seines“ Kollektivs zugeschrieben“[10]. Etwa die Einwohnerzahl der Stadt, in der ein Befragter lebt, stellt ein kontextuelles Merkmal des Individuums dar.
Letztendlich gelingt es also mit der Typologie von Lazarsfeld und Menzel, die Eigenschaften von Kollektiven sowie die Eigenschaften der Mitglieder der Kollektive systematisch einzuordnen. Die Aggregierung von Untersuchungseinheiten der Ebene n zur Ebene n+1 ist dabei Voraussetzung für diese Typologie. Abbildung 2 fasst anschließend die so eben erläuterte Variablentypologie von Lazarsfeld und Menzel in einer Tabelle zusammen.
Abbildung 2: Lazarsfeld-Menzel-Variablentypologie
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: in Anlehnung an Engel, U. (1998), S. 32.
Da die Aggregierung häufig auf Basis regionaler Kriterien erfolgt, spricht man statt von Aggregatdaten auch häufig von ökologischen Daten[11]. Denn Individuen werden beispielsweise häufig als Wahlberechtigte innerhalb eines Wahlkreises analysiert, Schüler als Teil einer Klasse oder Unternehmen als Arbeitgeber einer bestimmten Region.
2.2.2 Die Klassifikation individueller und kontextueller Effekte nach Davis
Nach J. A. Davis, J. L. Spaeth und C. Huson gibt es nun verschiedene Möglichkeiten der Kombination von Individual- und Kontexteffekten. Bei ihrer Klassifikation unterscheiden die Autoren fünf mögliche Typen von Effekten, wobei auch Interaktionseffekte zwischen Individual- und Kontexteffekten berücksichtigt werden. Graphisch lassen sich diese verschiedenen Varianten jeweils durch eine Regressionsgerade in einem Koordinatensystem darstellen. Dabei wird die Variable Y in Abhängigkeit vom Individualmerkmal X und dem Kollektivmerkmal, der Verteilung von X, betrachtet und es werden lineare Zusammenhänge unterstellt. Davis bezeichnet mit dem Merkmal X diejenigen Individuen, die die Eigenschaft X besitzen und mit Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten entsprechend diejenigen, die die Eigenschaft X nicht besitzen.
Im ersten Fall, dem Typ 0, haben weder X noch die prozentuale Verteilung von X eine Auswirkung auf Y. Graphisch erhält man eine für X und Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten identische Parallele zur (%X)-Achse.
Beim Typ I wird Y zwar durch das Individualmerkmal X beeinflusst, die Verteilung von X spielt dabei aber keine Rolle. In der Graphik ergeben sich entsprechend für X und für Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten zwei zur (%X)-Achse parallele Linien. Es liegt also ein reiner Individualeffekt vor.
Typ II hingegen beschäftigt sich mit reinen Kollektiveffekten, denn die Variable Y wird von der prozentualen Verteilung von X beeinflusst, nicht aber vom Individualmerkmal X selbst. Graphisch ergibt sich eine für X und Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten identische Linie in Abhängigkeit von %X.
Typ III zeigt den Fall, dass sowohl kollektive als auch individuelle Effekte beobachtet werden ohne dass jedoch Interaktionen zwischen den beiden Effekten vorliegen. Das zeigt sich graphisch dadurch, dass die beiden Geraden X und Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenparallel zueinander verlaufen. Dabei unterscheidet man den Fall, dass die beiden Effekte in die gleiche Richtung wirken (Typ III a) vom Fall, dass Kontexteffekt und Individualeffekt entgegengesetzt verlaufen (Typ III b). Dieser besondere Fall, dass das gleiche Merkmal als individuelle Eigenschaft genau umgekehrt wirken kann wie als kollektive Eigenschaft, illustriert am besten das bekannte Beispiel von S. A. Stouffers aus dem „American Soldier“[12]. Darauf wird im letzten Teil dieses Abschnitts 2.2.2 noch näher eingegangen. Abbildung 3 fasst die Typologie nach Davis in einer graphischen Darstellung zusammen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Die Klassifikation individueller und kontextueller Effekte
Quelle: in Anlehnung an Langer, W. (2004), S. 15.
Zusätzlich zu den Individual- und Kontexteffekten werden beim Typ IV zusätzlich Interaktionen der beiden Effekte berücksichtigt. Dies zeigt sich in der Graphik durch die Nicht-Parallelität der beiden Regressionsgeraden X und Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten. Die prozentuale Verteilung von X beeinflusst die Variable Y, aber mit steigendem %X in unterschiedlicher Weise für die Merkmale X undAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten. Dieser Interaktionseffekt lässt sich an der zuvor erläuterten Studie Durkheims zum Selbstmord (vgl. Abschnitt 2.1.1) veranschaulichen. Bei seinen Untersuchungen hat Durkheim nämlich herausgefunden, dass der soziale Kontext auf verheiratete Männer deutlich mehr Einfluss hat als auf Geschiedene. Verheiratete reagieren auf steigende Scheidungsraten mit stärker erhöhten Selbstmordraten als Geschiedene bzw. allgemeiner formuliert reagieren Individuen mit dem Merkmal X auf Veränderungen von %X anders als Individuen, die das Merkmal X nicht besitzen.
Abschließend zur Klassifikation der Effekte nach Davis wird nun der Typ III b mit entgegengesetzten Individual- und Kontexteffekten wie bereits oben erwähnt am Beispiel des „American Soldier“ graphisch anhand von Abbildung 4 veranschaulicht.
Abbildung 4: Entgegengerichtete Effekte am Beispiel des „American
Soldier“
Unzufriedenheit Y
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
X
xk
Anteil der Beförderungen
Quelle: eigene Darstellung
Stouffer beschäftigte sich mit den Auswirkungen von Beförderungen auf individueller und kollektiver Ebene. Er fand dabei heraus, dass auf Kollektivebene die Beförderten (X) mit dem Beförderungssystem natürlich deutlich zufriedener waren als die Nicht-Beförderten (Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten). Mit steigender Anzahl von Beförderungen innerhalb einer Gruppe stieg jedoch auf Individualebene die Unzufriedenheit (Y) sowohl der Beförderten als auch der Nicht-Beförderten. Das Merkmal „Beförderung“ wirkt also auf individueller Ebene genau umgekehrt wie auf kollektiver Ebene.
[...]
[1] Vgl. Engel, U. (1998), S. 14.
[2] Engel, U. (1998), S. 5.
[3] Vgl. Ditton, H. (1998), S. 12.
[4] Alpheis, H. (1988), S. 11.
[5] Vgl. Welz, R. (1974), S. 182.
[6] Hummel, H.J. (1972), S. 13.
[7] Vgl. Hummel, H.J. (1972), S. 22: „not based on information about the properties of
individual members”.
[8] Pappi, F.U. (1977), S. 80.
[9] Vgl. Engel, U. (1998), S. 30f.
[10] Clar, M. R. (1981), S. 48.
[11] Pappi, F.U. (1977), S. 78.
[12] Vgl. Welz, R. (1974), S. 184.
- Quote paper
- Diplom-Kauffrau Elisabeth Glöckner (Author), 2006, Theorie der Mehrebenenanalyse und deren Anwendung im Bereich der logistischen Standortanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63951
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