„Wir sind Papst“ titelte die BILD am 20. April 2005. Die größte deutsche Boulevardzeitung reagierte mit dieser, mittlerweile zum geflügelten Wort gewordenen Überschrift auf die Entscheidung des römischen Konklaves, den deutschen Kardinal Joseph Ratzinger zum Oberhaupt der Katholischen Kirche und Nachfolger des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. zu wählen. Mit Benedikt XVI., wie sich der frühere Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und Dekan des Kardinalskollegiums für die Zeit seines Pontifikats nennt, sitzt 60 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ein Deutscher auf dem Stuhl Petri. Diverse italienische, ungarische und britische Zeitungen nahmen diesen Umstand zum Anlass, Joseph Ratzinger bereits vor dem Konklave mit dessen Vergangenheit als Hitlerjunge und Flakhelfer zu konfrontieren. Die Aussage, er stehe mit seiner Vergangenheit in starkem Kontrast zu seinem Vorgänger Johannes Paul II., der im Krieg in Polen Theaterstücke gegen die Nationalsozialisten aufgeführt hatte, spiegelte die Zweifel wieder, die an dem Deutschen laut wurden. Die englische Zeitung THE SUN titelte am Tag nach der Papstwahl: „From Hitler Youth to... Papa Ratzi“ und druckte dazu ein Bild Ratzingers, das in seiner Zeit als Hitlerjunge aufgenommen wurde. Die türkische Zeitung „Sabah“ nannte den zum Papst Gewählten sogar einen „ehemaligen Nazi“. Die kritischen Reaktionen der internationalen Boulevardpresse auf die Tatsache, dass ein im nationalsozialistischen Deutschland aufgewachsener Geistlicher zum Oberhaupt der Katholischen Kirche gewählt wurde, mögen nicht die öffentliche Meinung widerspiegeln, dennoch zeigen sie, wie sehr die deutsche Vergangenheit bis in die Gegenwart nachwirkt. Dies betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, auch den der deutschen Kirchenvertreter.
Vorliegende Arbeit will sich auch aufgrund der bis zum heutigen Tag andauernden Nachwirkungen der deutschen Vergangenheit, eben auch im kirchlichen Bereich, der Frage widmen, wie das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Nationalsozialismus charakterisiert werden kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Verhältnis des Heiligen Stuhls zum Nationalsozialismus
2.1 Die Haltung des Heiligen Stuhls gegenüber der Nationalsozialistischen Bewegung
2.1.1 Die Anfangsjahre der NSDAP bis zur Reichstagswahl vom 14. September
2.1.2 Die NSDAP als ernstzunehmende politische Kraft
2.1.3 Die Entwicklungen nach dem Regierungsantritt Hitlers
2.2 Das Reichskonkordat vom 20. Juli
2.2.1 Die Bemühungen um ein Reichskonkordat vor der
Machtübernahme Hitlers
2.2.2 Die Verhandlungen über ein Reichskonkordat im Jahre
2.2.3 Die Ergebnisse des Reichskonkordats
2.2.4 Die Entwicklungen nach dem Reichskonkordat
2.3 Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937
2.3.1 Die Entstehung der Enzyklika
2.2.3 Der Inhalt der Enzyklika
2.3.3 Die Wirkung der Enzyklika
3. Das Verhältnis des deutschen Episkopats zum Nationalsozialismus
3.1 Die Haltung des deutschen Episkopats gegenüber der
Nationalsozialistischen Bewegung
3.1.1 Die Jahre bis zur Reichstagswahl am 05. März 1933
3.1.2 Der deutsche Episkopat bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges
3.1.3 Der deutsche Episkopat und der Beginn des Zweiten Weltkrieges
3.2 Kardinal Clemens August Graf von Galen
3.2.1 Biografie: Clemens August Graf von Galen
3.2.2 Das Wirken des Bischofs Clemens August Graf von Galen im Dritten Reich bis
4. Die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Entkirchlichung und
Entchristlichung der deutschen Gesellschaft
4.1 Die Zerschlagung des Politischen Katholizismus
4.1.1 Die Bedeutung des Politischen Katholizismus
4.1.2 Die Gründe für die Zerschlagung des Politischen Katholizismus.
4.1.3 Der zeitliche Ablauf der Zerschlagung
4.2 Die Zurückdrängung und das Verbot der katholischen Verbände und Presse
4.2.1 Das Ende der katholischen Verbände
4.2.2 Die Ausschaltung der katholischen Presse
4.3 Die Entchristlichung der Jugend durch die nationalsozialistische Erziehung
4.3.1 Das Ringen um die schulische Erziehung
4.3.2 Die Hitlerjugend und die katholische Verbandsjugend.
4.4 Exkurs: Die Nationalsozialistische Ersatzreligion, verdeutlicht am Beispiel des Films „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl.
4.4.1 Biografie: Leni Riefenstahl
4.4.2 Die Reichsparteitage der NSDAP
4.4.3 Die Analyse des Films „Triumph des Willens“.
5. Exkurs: Die Katholische Kirche und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus
6. Schlussbetrachtung und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Schriftliche Erklärung
1. Einleitung
„Wir sind Papst“ titelte die BILD am 20. April 2005. Die größte deutsche Boulevardzeitung reagierte mit dieser, mittlerweile zum geflügelten Wort gewordenen Überschrift auf die Entscheidung des römischen Konklaves, den deutschen Kardinal Joseph Ratzinger zum Oberhaupt der Katholischen Kirche und Nachfolger des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. zu wählen. Mit Benedikt XVI., wie sich der frühere Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und Dekan des Kardinalskollegiums für die Zeit seines Pontifikats nennt, sitzt 60 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ein Deutscher auf dem Stuhl Petri. Diverse italienische, ungarische und britische Zeitungen nahmen diesen Umstand zum Anlass, Joseph Ratzinger bereits vor dem Konklave mit dessen Vergangenheit als Hitlerjunge und Flakhelfer zu konfrontieren. Die Aussage, er stehe mit seiner Vergangenheit in starkem Kontrast zu seinem Vorgänger Johannes Paul II., der im Krieg in Polen Theaterstücke gegen die Nationalsozialisten aufgeführt hatte, spiegelte die Zweifel wieder, die an dem Deutschen laut wurden[1]. Die englische Zeitung THE SUN titelte am Tag nach der Papstwahl: „From Hitler Youth to... Papa Ratzi“[2] und druckte dazu ein Bild Ratzingers, das in seiner Zeit als Hitlerjunge aufgenommen wurde. Die türkische Zeitung „Sabah“ nannte den zum Papst Gewählten sogar einen „ehemaligen Nazi“[3].
Die kritischen Reaktionen der internationalen Boulevardpresse auf die Tatsache, dass ein im nationalsozialistischen Deutschland aufgewachsener Geistlicher zum Oberhaupt der Katholischen Kirche gewählt wurde, mögen nicht die öffentliche Meinung widerspiegeln, dennoch zeigen sie, wie sehr die deutsche Vergangenheit bis in die Gegenwart nachwirkt. Dies betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, auch den der deutschen Kirchenvertreter.
Vorliegende Arbeit will sich auch aufgrund der bis zum heutigen Tag andauernden Nachwirkungen der deutschen Vergangenheit, eben auch im kirchlichen Bereich, der Frage widmen, wie das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Nationalsozialismus charakterisiert werden kann. In der Literatur gibt es hierzu vielfältige Ansichten[4]. Deren Bandbreite erstreckt sich von der Auffassung, die Kirche habe versagt, sie habe sich verweigert, einen aufkommenden Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime zu unterstützen, über die Meinung, die Kirche habe in einer Zeit existenzieller Bedrohung gar nicht anders handeln können, als sie es tat, bis hin zu der Aussage, es sei gar nicht die Aufgabe der Kirche gewesen, aktiven politischen Widerstand zu leisten, es sei vielmehr deren Anspruch, ihre Anhänger in ihrem christlichen Glauben zu bestärken und diese auch in schwieriger Zeit auf dem Wege Christi zu halten.
Vorliegende Arbeit versucht, diese Bandbreite differierender Ansichten abzuwägen und ein möglichst objektives Urteil über das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Nationalsozialismus zu fällen.
Der Zeitraum, der dieser Arbeit zugrunde liegt, beginnt mit den Anfängen der Nationalsozialistischen Bewegung, beinhaltet die Phase nach der Machtergreifung Adolf Hitlers ab dem 30. Januar 1933 und endet mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und dem damit verbundenen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Während das Ende des angeführten Zeitraums auf den Tag genau zu datieren ist, fällt es wesentlich schwerer, den Anfang exakt zu benennen. Bis zum Ende der nationalsozialistischen Kampfzeit, welche mit dem gescheiterten Hitlerputsch vom 09. November 1923 zusammenfällt, hatte der Nationalsozialismus „im deutschen Katholizismus außerhalb Bayerns nur ein geringes Echo gefunden“[5]. In der nachfolgenden Zeit fand angesichts der schwachen Wahlergebnisse der Nationalsozialisten ebenfalls keine große, öffentliche Auseinanderersetzung mit diesen in katholischen Kreisen statt[6]. Erst durch den Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 12. September 1930 wurde die Aufmerksamkeit der Katholischen Kirche wieder auf die Partei am rechten Rand gelenkt und der Katholizismus begann sich mit dieser auseinander zu setzen. Aus diesem Grund liegt das Hauptaugenmerk der Arbeit auf den neun Jahren zwischen dem ersten großen Wahlerfolg der Nationalsozialisten und dem Anfang des Zweiten Weltkrieges.
Nachdem die Geschichte den zeitlichen Rahmen vorgegeben hat, liefert der innere Aufbau der Institution „Katholische Kirche“ die Gliederung dieser Arbeit. Ein Kapitel beschäftigt sich mit dem Heiligen Stuhl und dem Papst als Kirchenoberhaupt. Ein weiteres beleuchtet den deutschen Episkopat, die Gesamtheit der Bischöfe. Ein nächstes beschäftigt sich mit dem Kirchenvolk und ein abschließender Exkurs thematisiert den Komplex Katholische Kirche und Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Es bedarf keiner Erläuterung, dass diese hier vorgenommene Gliederung eine starke Vereinfachung der Wirklichkeit darstellt und dennoch erscheint sie dem Verfasser geeignet, das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Nationalsozialismus differenziert zu betrachten.
Das erste Kapitel behandelt das Verhältnis des Heiligen Stuhls zum Nationalsozialismus. Dabei soll ein Blick auf die Haltung des Vatikans gegenüber der Nationalsozialistischen Bewegung den Anfang machen. Die Zeit vor der Machtergreifung findet in diesem Kapitel genauso Berücksichtigung, wie die Ereignisse nach dem 30. Januar 1933. Das zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich geschlossene Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 sowie dessen Folgen bilden den nächsten Abschnitt. Die Behandlung des „Päpstlichen Rundschreibens gegen den Nationalsozialismus und seine Folgen in Deutschland“, die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 21. März 1937, rundet die Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Heiligem Stuhl und dem Nationalsozialismus ab.
Das folgende Kapitel hat das Verhältnis des deutschen Episkopats zum Nationalsozialismus als Thema. Die Haltung der deutschen Bischöfe gegenüber der Nationalsozialistischen Bewegung soll hier den Anfang der Schilderung bilden. Eine solche Gemeinschaft von kirchlichen Würdenträgern ist und war keineswegs eine homogene Masse. Deutlich wird dies durch die einzelnen bischöflichen Stellungnahmen zur Beurteilung des Nationalsozialismus[7]. Aus diesem Grund sollen neben der mehrheitlichen und offiziellen Meinung des Episkopats Stimmen und Personen Aufnahme in die vorliegende Arbeit finden, welche zwar Teil dieser bischöflichen Gemeinschaft waren, deren Ansichten und Äußerungen jedoch von den offiziellen Verlautbarungen abwichen. Im Weiteren soll die Haltung der Bischöfe zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aufgezeigt werden. Dabei soll geklärt werden, inwieweit das Verhalten der Ordinaten Hitlers Krieg beeinflusste. Anschließend soll ein Blick auf den Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen erfolgen. Der durch seinen „Ruhm als unerschrockener Prediger gegen den braunen Antichristen“[8] zum Helden des katholischen Widerstands gewordene von Galen wurde am 09. Oktober 2005 selig gesprochen. Nach einer Biografie des streitbaren Bischofs soll eine genauere Betrachtung seines Handelns während des Dritten Reichs bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zeigen, ob er den Namen „Der Löwe von Münster“ zu Recht trägt.
Das dritte Kapitel soll die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Entkirchlichung und Entchristlichung der deutschen Gesellschaft schildern und die kirchlichen Gegenmaßnahmen dazu darlegen. Im Bereich der Zerschlagung des politischen Katholizismus ist die Frage zu beantworten, ob die Katholische Kirche ihre politischen Vertretungen, die Zentrumspartei und die Bayerische Volkspartei, für das Reichskonkordat „geopfert“ hat. Des Weiteren sollen die Zurückdrängungen und die Ausschaltung der katholischen Verbände sowie der katholischen Presse betrachtet werden. Neben dem Einreißen der Stützpfeiler des katholischen Milieus war die Entchristlichung der Jugend ein weiteres nationalsozialistisches Ziel. Dies lag zum einen in der Ansicht begründet, den Katholiken ihren Nachwuchs zu entreißen und zum anderen, diesen dem eigenen Einfluss zu unterwerfen, um ihn zu treuen Nationalsozialisten zu erziehen. Im abschließenden Exkurs wird die nationalsozialistische Ersatzreligion, die das Bedürfnis des Volkes nach Transzendentem befriedigen sollte, dargestellt. Dies soll an dem von Leni Riefenstahl inszenierten Film „Triumph des Willens“ geschehen. Kaum ein anderer Film zeigt in solch deutlicher Weise die der Religion entnommenen Symbole und Handlungen, derer sich der Nationalsozialismus in seiner Außendarstellung bediente.
Im letzten Kapitel soll der kirchliche Widerstand gegen den Nationalsozialismus das Thema sein. Hier wird der wissenschaftliche Diskurs über den Widerstand der Kirche dargelegt und versucht, das Verhalten der Katholischen Kirche in ein Schema einzuordnen. Dabei soll die Frage beantwortet werden, inwieweit sich die Kirche dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus entgegengestellt hat.
Abschließend soll die Schlussbetrachtung die aus der Bearbeitung des Themas gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassend wiedergeben und kurz bewerten. Eine Stellungnahme des Verfassers und ein Ausblick auf mögliche zukünftige Forschungsfelder runden die Arbeit im Folgenden ab.
Nach dieser ausführlichen Darstellung des formalen und inhaltlichen Aufbaus vorliegender Arbeit sollen an dieser Stelle noch einige Worte über die zur Bearbeitung des Themas gewählte Methode und zur Literaturlage verloren werden.
Es ist der Anspruch dieser Arbeit, die in der vielfältigen Literatur vorherrschenden Ansichten und wichtigsten Äußerungen zum Thema wiederzugeben. Durch eine umfassende Literaturanalyse zur nationalsozialistischen Kirchenpolitik soll dem Leser ein möglichst objektiver Einblick in das Verhältnis von katholischer Kirche zum Nationalsozialismus gewährt werden.
Der Bestand an Literatur zum Thema Nationalsozialismus und Katholische Kirche könnte ganze Bibliotheken füllen. Dennoch hat dieser Themenkomplex kaum an Reiz auf die wissenschaftliche Forschung verloren, was alleine schon die Zahl der jährlich dazu auf den Markt kommenden Neuerscheinungen belegt. Und so war es die Hauptaufgabe des Verfassers, die relevante Literatur zu sichten, die ergiebigsten und wichtigsten Titel auszuwählen und unter Zuziehung von kirchlichen und staatlichen Dokumenten das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Nationalsozialismus bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zu dokumentieren. Als besonders umfassend kann hier das Werk „Deutsche Katholiken 1918 bis 1945“ von Heinz Hürten und die von Rainer Bendel herausgegebene Aufsatzsammlung „Die katholische Schuld?“ genannt werden. Besonders detailliert sind die Jahre 1918 bis 1934 in Klaus Scholders Doppelband „Die Kirchen und das Dritte Reich“ beschrieben. Als Dokumentensammlung dienten unter anderem die vier Bände der „Akten deutscher Bischöfe“ von 1933 bis 1939 und die von Georg Kretschmar herausgegebenen „Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches“.
2. Das Verhältnis des Heiligen Stuhls zum Nationalsozialismus
2.1 Die Haltung des Heiligen Stuhls gegenüber der Nationalsozialistischen Bewegung
2.1.1 Die Anfangsjahre der NSDAP bis zur Reichstagswahl vom 14. September 1930
Die am 05. Januar 1919 in München gegründete „Deutsche Arbeiterpartei“ war eine der vielen in der bayerischen Landeshauptstadt entstandenen antimarxistischen und antisemitischen völkischen Splittergruppen jener Zeit. Doch erst in der Folgezeit des Parteieintritts Adolf Hitlers im Spätsommer desselben Jahres gewann die Partei an Bedeutung. Denn dieser setzte seine agitatorischen Fähigkeiten als Werbeobmann so geschickt ein, dass es der sich mittlerweile in „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ umbenannten rechtsextremen Bewegung gelang, am 24. Februar 1920 zu ihrer ersten Massenkundgebung 2 000 Menschen in das Münchner Hofbräuhaus zu locken[9]. Auf dieser Versammlung wurde das für unveränderlich erklärte, 25 Punkte umfassende Parteiprogramm vorgestellt, das neben antisemitischen auch antiliberale und sozialistische Elemente enthielt[10]. In Punkt 24 wurde die Forderung nach der „Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen“[11] festgehalten. Weiter hieß es: „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden“[12]. Diese Formulierungen schienen zwar die durch die Weimarer Reichsverfassung garantierte Religionsfreiheit zu bestärken, stellten sie aber unter den doppelten Vorbehalt der Staatssicherheit und der nationalsozialistischen Ideologie[13].
Im folgenden Jahr wurde der in seiner bisherigen Aufgabe so erfolgreiche Adolf Hitler zum Parteivorsitzenden gewählt. Dieser lehnte eine Teilnahme an Wahlen zur Erlangung der politischen Macht kategorisch ab und propagierte stattdessen einen Putsch gegen die Republik. In Preußen zu diesem Zeitpunkt schon verboten, zählte die NSDAP bei ihrem ersten Reichsparteitag in München im Januar 1923 20 000 Mitglieder[14]. Im November dieses Jahres sah Hitler, an der Spitze eines „Deutschen Kampfbundes“, die Zeit für eine „Nationale Erhebung“, einen Putsch gegen die bayerische Regierung, gekommen. Dieser scheiterte jedoch und Hitler wurde zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt, von der er lediglich acht Monate in Landsberg am Lech verbüßte.
In seiner „Kampfzeit“, welche mit dem niedergeschlagenen Putsch am 09. November 1923 endete, hatte der völkische Nationalismus im deutschen „Katholizismus außerhalb Bayerns nur ein geringes Echo gefunden“[15]. Selbst der sich zu dieser Zeit in München aufhaltende päpstliche Nuntius Eugenio Pacelli schien unbeeindruckt von den Ereignissen. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, einen ausführlichen Bericht an Pietro Gasparri, den Kardinalstaatssekretär im Vatikan, zu schicken, in dem er den „‘antikatholischen Charakter’“[16] der Nationalsozialistischen Bewegung betonte. Am 23. November 1923 wurde die NSDAP in der gesamten Republik verboten. Dennoch blieb der Nationalsozialismus in den Berichten des Nuntius nach Rom stets präsent. Im Vatikan war man durch den Putsch aufgeschreckt und hatte die Befürchtung, „‘daß aus dieser Bewegung der christlichen Lehre im allgemeinen und der katholischen Kirche im besonderen nicht zu unterschätzende Gefahren zu erwachsen drohen’“[17]. Diese Ansicht versuchte Pacelli im April 1924 zu bekräftigen, indem er mit Hilfe von Artikeln der deutschen völkischen Presse verdeutlichte, dass die Nationalsozialistische Bewegung Katholiken und Juden gemeinsam als ihre schlimmsten Feinde betrachte[18].
Nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der verhängten Festungshaft gründete Hitler die NSDAP im Februar 1925 neu. Hierbei kam es zu einem Paradigmenwechsel. Er beabsichtigte nun durch die Teilnahme an Wahlen in Regierungsverantwortung zu kommen. Doch dies schien in weiter Ferne, da die Partei in den Jahren der relativen Konsolidierung der Weimarer Republik nicht aus der Bedeutungslosigkeit heraustreten konnte. Durch das vorübergehende Schwinden rechtsradikaler Aktivitäten gerieten auch die Programme und Träger der NSDAP aus dem Blickfeld kirchlicher Aufmerksamkeit[19]. Dennoch sah sich der Vatikan gezwungen, Stellung gegen den latenten, auch durch die NSDAP repräsentierten Antisemitismus zu nehmen. In dem in den „Acta Apostolicae Sedis XX.“ erschienenen Aufhebungsdekret der Amici Israel des Heiligen Offiziums vom 25. März 1928 formulierte der Vatikan: „‘Wie der Hl. Stuhl allen Hass und alle Feindschaft unter den Völkern verwirft, so verdammt er ganz besonders den Hass gegen das Volk, das Gott in uralten Tagen zu seinem gemacht, nämlich jenen Hass, den man gemeinhin mit Antisemitismus zu bezeichnen pflegt’“[20]. Dieses Dekret stellt einen Meilenstein in den Stellungnahmen der römisch-katholischen Kirche zum Antisemitismus dar. Neue Archivöffnungen deuten darauf hin, dass Pius XI. höchstpersönlich diese ausdrückliche Absage an den Antisemitismus in diesem Dekret durchsetzte[21]. Weiter wurde der Entwicklung der Nationalsozialistischen Bewegung von Seiten des Heiligen Stuhls jedoch kaum Aufmerksamkeit zuteil.
2.1.2 Die NSDAP als ernstzunehmende politische Kraft
Erst nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 wendete sich der Vatikan wieder den Nationalsozialisten zu. Denn durch diese Wahl stieg die NSDAP zur zweitstärksten Partei auf, wurde zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor im politischen Leben und hatte den Durchbruch zur klassenübergreifenden Volkspartei geschafft[22]. Eine Einschätzung dieser Wahl, die der neue Apostolische Nuntius in Deutschland, Cesare Orsenigo, nach Rom sandte, zeigt jedoch, dass die Gefahr für die Katholische Kirche durch den Nationalsozialismus wohl immer noch unterschätzt wurde. So schreibt dieser, dass das Programm der NSDAP zwar „‘vorerst keinen Grund zum Vertrauen’“[23] gebe, die Partei jedoch wegen ihrer entschiedenen Opposition zum Bolschewismus Aufmerksamkeit verdiene. Erst zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte sich im Vatikan die Ansicht durchgesetzt, „dass es sich beim Nationalsozialismus um nichts anderes handelte als um eine Art Bolschewismus mit anderen Vorzeichen“[24]. Weiter meldete der Apostolische Nuntius im Bezug auf die Septemberwahl 1930, dass es sich bei dem bemerkenswerten Stimmenzuwachs für die Kommunistische Partei – sie konnte 13,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und dadurch 77 Reichstagssitze erringen – um das vielleicht „‘schlimmste Symptom der politisch-religiösen Lage in Deutschland’“[25] handle, da sich in dieser die reine Antireligiösität widerspiegle.
Trotz dieser Einschätzung beschäftigte man sich im Vatikan auch weiterhin mit dem Nationalsozialismus. So schrieb die Zeitung des Vatikans, der „Osservatore Romano“, in der Folge: „‘Das Hakenkreuz ist heidnisch... Die Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Partei ist unvereinbar mit dem katholischen Gewissen’“[26]. Und weiter bekräftigte er im Frühjahr des Jahres 1931: „‘Die katholische Lehre und der Nationalsozialismus sind unvereinbar’“[27].
Unter dem Eindruck dieser Stellungnahmen des vatikanischen Presseorgans schickte Adolf Hitler den NSDAP-Reichstagsabgeordneten und Generalsekretär der Partei, Hermann Göring, als „politischen Beauftragten“ in der Absicht nach Rom, den Eindruck zu korrigieren, dass der Nationalsozialismus der Katholischen Kirche feindlich gegenüberstehe. Göring bat den Kardinalstaatssekretär Pacelli in einem Schreiben um eine Audienz, um „‘mich Eurer Eminenz gegenüber über die Probleme unserer Bewegung aussprechen zu können’“[28]. Doch diese Bitte wurde abschlägig behandelt und Göring wurde lediglich eine Audienz bei Unterstaatssekretär Giuseppe Pizzardo gewährt. In dieser versuchte der Nationalsozialist zu verdeutlichen, dass seine Partei weder beabsichtigte eine Nationalkirche zu errichten, noch etwas gegen die Dogmen der Katholischen Kirche unternehmen wolle und schließlich, dass sie die Autorität des Papstes in religiösen und moralischen Angelegenheiten anerkenne[29]. Doch die Beteuerungen Görings hinterließen am Heiligen Stuhl kaum Wirkung. Man sah die Nationalsozialistische Bewegung weiterhin mit Argwohn, ohne sich jedoch über deren Charakter völligen im Klaren zu sein.
Im folgenden Jahr wurde die NSDAP im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der um sich greifenden Enttäuschung breiter Schichten bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 zur stärksten politischen Kraft gewählt[30]. Nachdem die Wahlen zum Reichstag am 06. November 1932 jedoch mit erheblichen Stimmeneinbußen für die NSDAP endeten, hoffte man nicht nur im Vatikan, dass die nationalsozialistische Erfolgskurve ihren Höhepunkt überschritten hätte.
2.1.3 Die Entwicklungen nach dem Regierungsantritt Hitlers
Doch diese Einschätzungen wurden am 30. Januar 1933 widerlegt. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte an diesem Tag den Führer der Nationalsozialistischen Bewegung Adolf Hitler zum Reichskanzler eines Kabinetts mit konservativer Mehrheit. Damit wurde auch ein neues Kapitel im Hinblick auf die vatikanische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus aufgeschlagen.
Papst Pius XI. und Kardinalstaatssekretär Pacelli waren davon überzeugt, dass es sich bei den neuen Machthabern in Deutschland nicht um eine kurzfristige Sache handeln werde[31]. Der Kardinalstaatssekretär äußerte sich sogar wie folgt: „‘Das ist eine schwerwiegende Sache. Das ist verhängnisvoller, als ein Sieg der sozialistischen Linken gewesen wäre’“[32]. Dennoch sahen sich diejenigen, die eine Koexistenz zwischen dem totalitären Regime und dem Heiligen Stuhl für möglich erachteten, durch die Hitlersche Regierungserklärung vom 23. März 1933 bestärkt. Denn in seiner feierlichen Erklärung zu dem von allen Reichstagsparteien außer der Sozialdemokratie beschlossenen „Ermächtigungsgesetz“ zur „Behebung der Not von Volk und Reich“ erklärt Hitler: „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen wichtigste Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. [...] Ihre Sorge gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat“[33]. Und an die direkte Adresse des Vatikans führt der Reichskanzler aus, dass „die Reichsregierung, die im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes sieht, den größten Wert darauf [legt], die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhl weiter zu pflegen und zu vertiefen“[34]. Von diesen Äußerungen unbeeindruckt wies Kardinalstaatssekretär Pacelli bereits am 04. April 1933 den Berliner Nuntius Orsenigo dazu an, Möglichkeiten zu erkunden, um gegen die sich in Deutschland ereignenden „antisemitischen Exzesse“ zu intervenieren[35]. Doch die römische Kurie musste nach der Machtergreifung und darüber hinaus nach den langjährigen Erfahrungen, die sie mit dem italienischen Faschismus gemacht hatte, rasch erkennen, dass „derartige Möglichkeiten der Einwirkung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland entscheidend eingeengt waren“[36]. Der Vatikan musste zuvorderst versuchen, gegenüber dem Allmachtsanspruch des totalitären Regimes „das kirchliche Leben in Deutschland überhaupt aufrecht zu erhalten“[37]. Zu diesem Zweck versuchte man von kirchlicher Seite, die Nationalsozialisten durch einen Vertrag zwischen Staat und Kirche auf gewisse Weise „an die Leine zu nehmen“. Dieser sollte „die rechtliche Stellung der Institution Kirche in dem neuen Staatsgefüge stärker absichern und verankern“[38]. Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 sollte aus Sicht der römischen Kurie diese Forderung erfüllen.
2.2 Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933
„‘Wie viele Divisionen hat der Papst?’“[39] Diese rhetorische Frage wird Joseph Stalin zugeschrieben. Bekanntlich hat der Vatikan keine Divisionen, doch jener Frage mitsamt ihrer Antwort lässt sich mehr entnehmen, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Heilige Stuhl ist in seinen Mitteln auf die innerstaatliche Willensbildung einzuwirken und seine Vorstellungen durchzusetzen begrenzt. Ihm steht dafür lediglich, „die moralische Autorität des Papsttums; das Interesse der Regierungen an kirchlicher Wirksamkeit in ihrem Machtbereich; die Existenz von politischen Parteien, die sich in ihren allgemeinen Zielsetzungen an christlichen Prinzipien orientieren; schließlich die vertragliche – und das heißt auf einem Kompromiss beruhende – Absicherung der Existenz und der Betätigung kirchlicher Institutionen und Organisationen im öffentlichen Bereich“[40] zur Verfügung. Den Versuch einer solchen vertraglichen Absicherung des kirchlichen Einflusses auf die deutsche Gesellschaft stellt das zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl am 20. Juli 1933 abgeschlossene Reichskonkordat dar.
2.2.1 Die Bemühungen um ein Reichskonkordat vor der Machtübernahme Hitlers
Bereits im August 1919 versuchte der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) durch einen Besuch beim Berliner Apostolischen Nuntius Eugenio Pacelli Vorbedingungen für gute Beziehungen zum Vatikan zu schaffen. Er hoffte, die Katholische Kirche im Hinblick auf deutsche staatliche Interessen gewinnen zu können. Gute Beziehungen zum Reich waren auch für den Heiligen Stuhl erstrebenswert, da die römische Kurie den in Deutschland immer noch spürbaren Nachwirkungen des Kulturkampfes entgegenwirken wollte. Als unmittelbare Folge der Ebertschen Bemühungen wurde die Errichtung einer deutschen Botschaft beim Vatikan beschlossen und der damalige Reichsaußenminister Hermann Müller (SPD) befürwortete schon zu jenem frühen Zeitpunkt ein Konkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan[41].
Doch ehe es zu einem solchen Vertragsabschluss auf Reichsebene kommen sollte, unterzeichneten die deutschen Staaten Bayern (1925), Preußen (1929) und Baden (1932) ihrerseits Länderkonkordate. Diese waren gewiss beachtlich, konnten aber andererseits das Fehlen eines Reichskonkordates nicht verdecken[42]. Eugenio Pacelli, der auch nach seiner Berufung vom Apostolischen Nuntius in Berlin zum Kardinalstaatssekretär am 07. Februar 1930 die Verhandlungen mit Baden weiterleitete und schließlich zum Abschluss brachte, konnte jedoch „sein größtes Ziel, ein Konkordat mit dem Deutschen Reich“[43] bis zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen. Für ein solches sollten die Lateranverträge, die der Vatikan am 11. Februar 1929 mit dem faschistischen Italien geschlossenen hatte, das „große Vorbild“[44] sein. Darin hatte sich einerseits die Kirche dazu bereit erklärt, ihren politischen Einfluss zurückzunehmen, andererseits machte der faschistische Staat Zugeständnisse, welche die juristische Absicherung der Kirche als selbstständigen Rechtsträger und die Berücksichtigung bestimmter kirchlicher Interessen enthielten[45]. Nach dem Einsetzen der letzten Existenzkrise der Weimar Republik ab 1930 wurde das Streben nach einem Reichskonkordat für die deutsche Politik vollends „ein Projekt von untergeordneter Wichtigkeit“[46]. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in den Jahren 1921, 1924 und 1926/27 drei Vorstöße zum Abschluss eines solchen Vertragswerks von der jeweiligen Reichsregierung ausgegangen. Nachdem diese alle gescheitert waren, war die Phase nach 1930 dann ganz vom „einseitigen Drängen der Kurie bestimmt“[47], die hoffte, die innerstaatliche Instabilität für ihre Interessen nutzen zu können.
2.2.2 Die Verhandlungen über ein Reichskonkordat im Jahre 1933
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 hatte auch die Führung des deutschen Staates wieder ein ausgeprägtes Interesse an dem Abschluss eines Reichskonkordates. Adolf Hitler versicherte in seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933, dass die Reichsregierung „den größten Wert darauf [lege], die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter zu pflegen und [zu] vertiefen“[48]. Hitlers Äußerungen hatten wohl eher kurzfristig-taktische Hintergründe, als dass sie ehrliche Absichten widerspiegelten. Er wollte mit einem ähnlichen Vertrag, wie ihn bereits das faschistische Italien mit dem Heiligen Stuhl geschlossen hatte, die Kirche und die Geistlichen aus dem Bereich der Politik entfernen sowie die beiden katholischen Parteien, Zentrum und Bayerische Volkspartei, entscheidend schwächen[49]. Infolgedessen sollten dann die deutschen Katholiken enger an den Nationalsozialismus gebunden werden.
Am Tag von Hitlers Regierungserklärung brachten die Nationalsozialisten zusammen mit der Deutschnationalen Volkspartei den Entwurf eines „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“ in den Reichstag ein. Dieses „Ermächtigungsgesetz“ sah vor, dass die Reichsregierung für die Dauer von vier Jahren ohne Beteiligung des Reichstags und des Reichsrats Gesetze beschließen dürfe, die von der Reichsverfassung abwichen. Ein solch weitreichendes Gesetz, welches die Verfassung außer Kraft setzen konnte, bedurfte der Zustimmung einer Zweitdrittelmehrheit der Mitglieder des Reichstages, um angenommen zu werden. Dass die noch anwesenden 94 Sozialdemokraten den Gesetzentwurf ablehnen würden, war unzweifelhaft. So benötigte die Regierung etwa 25 bis 30 Stimmen der insgesamt 91 Abgeordneten der Parteien des Katholizismus, Zentrum und BVP. Während in einer Probeabstimmung noch 14 Abgeordnete mit „Nein“ stimmten – unter ihnen die beiden ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth und Heinrich Brüning – fügten sich bei der Abstimmung im Plenum alle Parlamentarier der Fraktionsdisziplin und stimmten dem Ermächtigungsgesetz zu. Nicht unerheblich dürfte hierbei der Aufruf des Parteivorsitzenden Prälat Ludwig Kaas gewirkt haben, der, „um einen moralischen Einfluß auf Hitler und seine [in der Regierungserklärung abgegebenen] Zusicherungen an die katholische Kirche“[50] ausüben zu können, seine Fraktion dazu aufforderte, einheitlich dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Die Verabschiedung dieses Gesetzes war der letzte Schritt in der nationalsozialistischen Machtergreifung, die mit der Ernennung Hitlers am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler begonnen und sich über das „Gesetz zum Schutze von Volk und Staat“ am 28. Februar fortgesetzt hatte. Infolge dieses für den deutschen Parlamentarismus so fatalen Ermächtigungsgesetzes lösten sich die BVP und das Zentrum unter schwerstem Druck am 04. und 05. Juli 1933 selbst auf[51].
Doch was veranlasste die beiden Parteien des politischen Katholizismus dazu, diesem Gesetzesentwurf zuzustimmen? Das Abstimmungsverhalten der Zentrums- und BVP-Abgeordneten führte noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu großen Kontroversen zwischen den Historikern. Während die einen, repräsentiert durch den Tübinger Kirchenhistoriker Klaus Scholder, einen Zusammenhang zwischen der Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz und der Konkordatsofferte sahen und somit Rom eine entscheidende Verantwortung für das Ende des politischen Katholizismus sowie der Zerstörung der katholischen Resistenz gegen den Nationalsozialismus vorwarfen, sahen die anderen, repräsentiert durch den Bonner Historiker Konrad Repgen, in den Quellen keinen Halt für ein solches Junktim[52].
Nach der Offenlegung neuen vatikanischen Archivmaterials durch den Heiligen Stuhl im Jahre 2003, welches die Geschichte des Verhältnisses zwischen Rom und dem Deutschen Reich betrifft, urteilte der Münchner Historiker Thomas Brechenmacher, dass ein etwaiger „‘Teufelspakt’ mit Hitler, etwa beim Reichskonkordat von 1933, [...] nun noch überzeugender als bisher zurückgewiesen werden“[53] kann.
Es erscheint unzweifelhaft, dass die Initiative für den Abschluss eines Reichskonkordats im Frühjahr 1933 von der Reichsregierung ausging. Doch wie kam es konkret zu einem solchen Angebot?
Der von Hitler zu seinem Vizekanzler berufene ehemalige Zentrumspolitiker Franz von Papen, der am 03. Juni 1932 durch Parteiaustritt seinem Ausschluss zuvorkam, kannte die erfolglosen Bemühungen zum Ende des Weimarer Staates im Hinblick auf das Zustandekommen eines Reichskonkordats. Er unterbreitete dem Heiligen Stuhl bei seiner Reise nach Rom an Ostern 1933 das Angebot der deutschen Regierung zu einem Staatsvertrag[54]. Unterstützt wurde der ehemalige Reichskanzler von dem Vorsitzenden der Zentrumspartei Prälat Kaas, einem engen Vertrauten Pacellis. Der katholische Politiker war, unter dem Eindruck des gerade zu Ende gegangenen, kaum mehr demokratisch zu nennenden Wahlkampfs, davon überzeugt, mit Hilfe eines solches Vertragswerkes die kirchlichen Rechte im Deutschen Reich sichern zu können[55]. „Eine Garantie zugunsten der kirchlichen Handlungsmöglichkeiten wurde von dem Zentrumsführer wie von dem Kardinalstaatssekretär [Pacelli] höher bewertet als das Fortbestehen eines gespaltenen politischen Katholizismus, der seine Schwäche in den gerade beendeten Wahlkampfauseinandersetzungen überdeutlich gezeigt hatte“[56].
Infolgedessen nahm der Heilige Stuhl das Angebot zu Konkordatsverhandlungen Mitte April 1933 an[57]. Dabei legte der Verhandlungsführer der Reichsregierung, Vizekanzler von Papen, eine solche Eile an den Tag, dass diese sogar von seinem Gegenüber auf vatikanischer Seite, Kardinalstaatssekretär Pacelli, als unangebracht empfunden wurde. Des Weiteren beeinflusste die innerdeutsche Lage die Verhandlungen in erheblichem Maße. Nachdem sich der nationalsozialistische Terror in den nachfolgenden Wochen vor allem gegen katholische Organisationen intensiviert hatte, fand er in den Demonstrationen und der Straßengewalt anlässlich des „Gesellentags“ des katholischen Kolpingvereins, der im Juni 1933 in München stattfand, seinen vorläufigen Höhepunkt. Einzelnen SA-Angriffen auf junge Katholiken folgten zwei Tagen später organisierte Überfälle auf größere Gruppen. Dabei wurden hunderte katholischer Jugendlicher verprügelt und von den Straßen gejagt[58].
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse unterbrach Pacelli die Verhandlungen, setzte sie aber alsbald fort, da sich aus Sicht der Vatikandiplomatie die Verhandlungsposition des Heiligen Stuhls durch die alarmierenden Nachrichten aus Deutschland zusehends verschlechterte[59]. So kam es, dass das Konkordat am 08. Juli 1933 paraphrasiert, am 20. Juli unterzeichnet und am 10. September ratifiziert wurde.
2.2.3 Die Ergebnisse des Reichskonkordats
Das 32 Artikel umfassende Vertragswerk klärte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, mit dem Ziel, wie es im Prolog hieß, „die zwischen dem Heiligen Stuhl und Deutschen Reich bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und zu fördern“[60]. Das Konkordat bestätigte in Artikel 2 die drei bestehenden Länderkonkordate, die mit Bayern, Preußen und Baden geschlossen worden waren. Für das übrige Reichsgebiet hatte der neue Vertrag uneingeschränkte Geltung. Die einzelnen Artikel garantierten unter anderem die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion (Artikel 1). Ferner wurde die gegenseitige diplomatische Vertretung bestätigt, die freie Korrespondenz zwischen dem Heiligen Stuhl und den Bischöfen zugesichert und die Geistlichen unter den Schutz des Staates gestellt (Artikel 3-10). Weiterhin wurde die Freiheit der Orden und religiösen Genossenschaften festgeschrieben (Artikel 13), ebenso wie der katholische Religionsunterricht an den Schulen (Artikel 21)[61]. Im Folgenden wurden „diejenigen kath. Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und caritativen Zwecken dienen und als solche der kirchlichen Behörde unterstellt sind, [...] in ihren Einrichtungen und in ihrer Tätigkeit geschützt“[62] (Artikel 31). Dabei wurde jedoch von vatikanischer Seite „versäumt, den Unterschied zwischen religiösen und ‘politischen’ Verbänden zu klären“[63]. Den Vorschlag von Seiten des Reichs zu akzeptieren, dies nach der Unterzeichnung des Konkordates nachzuholen, war, „wie der Lauf der Dinge zeigte, eine völlige Fehlentscheidung Pacellis“[64]. Denn bereits wenige Tage nach der Unterzeichnung nutzten die Nationalsozialisten diese Grauzone und verboten die doppelte Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und den konfessionellen Jugendverbänden, da diese sich angeblich nicht auf ihren eigentlichen kirchlichen Aufgabenkreis beschränkten[65]. Das ausgesprochene Verbot verstieß zwar nicht explizit gegen das Konkordat, tangierte es aber in sofern, da durch dieses eine rechtliche Benachteiligung von Mitgliedern katholischer Vereine gegeben war. Erfüllt wurde dieser Tatbestand bereits durch die Tatsache, dass für immer mehr Berufslaufbahnen und Arbeitsplätze die Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation Vorbedingung war[66].
Im Gegenzug für die oben benannten Garantien, die der Katholischen Kirche zugute kamen, verpflichtete sich diese darauf, dass die Bischöfe ihren Treueeid auch auf das Deutsche Reich und die verfassungsgemäß gebildete Regierung ablegen mussten (Artikel 16) sowie, dass nach den sonn- und feiertäglichen Hauptgottesdiensten „ein Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes eingelegt“ werden sollte (Artikel 30)[67]. Doch „die elementare Gegenleistung, die der Katholizismus zu erbringen hatte“[68], war im Artikel 32 des Reichskonkordats festgeschrieben. In diesem verpflichtete sich der Heilige Stuhl dazu, die Mitgliedschaft in politischen Parteien und die Tätigkeit für solche für Geistliche und Ordensleute auszuschließen. Dies bedeutete faktisch die Rücknahme des katholischen Einflusses auf die Politik.
Adolf Hitler äußerte in einer Sitzung des Reichskabinetts am 14. Juli 1933 seine Zufriedenheit über den ihm vorgelegten Entwurf des Vertragswerks. Er sah in diesem drei große Vorteile:
Erstens zeigte er sich sehr erleichtert darüber, dass der Vatikan überhaupt in Verhandlungen eingestiegen sei[69]. Aus dieser Einschätzung ist ersichtlich, dass Hitler durch einen Vertragsabschluss mit dem Heiligen Stuhl, seinem dritten großen internationalen Vertrag, nach der Erneuerung des deutsch – sowjetischen Freundschaftsvertrags und dem Viermächtepakt, mit einer propagandistischen Wirkung sowohl auf das Ausland, als auch auf die deutschen Katholiken rechnete.
Zweitens sah der deutsche Reichskanzler in der Tatsache, dass die römische Kirche ihre Bischöfe sich auf den deutschen Staat verpflichten ließ, „zweifellos eine rückhaltlose Anerkennung des derzeitigen Regiments“[70]. Hitler erhoffte sich hierdurch eine Symbolwirkung, welche die katholischen Bevölkerungsteile dem Deutschen Reich näher bringen und den Nationalsozialismus tiefer im Volk verankern sollte.
Und als dritten und wichtigsten Vorteil beurteilte Adolf Hitler den Umstand, „daß mit dem Konkordat sich die Kirche aus dem Vereins- und Parteileben herauszöge, z. B. auch die christlichen Gewerkschaften fallen ließe“[71]. Erst damit sei die Auflösung des politischen Katholizismus endgültig, äußerte der Reichskanzler weiter.
Der These, dass es zwischen dem Abschluss des Konkordats und der Auflösung der Parteien des politischen Katholizismus einen direkten Kausalzusammenhang gab, widersprach Kardinalstaatssekretär Pacelli: „‘Vor allem muß man daran denken, daß das Zentrum und die Bayerische Volkspartei sich aus eigener Initiative aufgrund einer vom Heiligen Stuhl völlig unabhängigen Entscheidung aufgelöst haben. [...] er trägt also keine Verantwortung für die Auflösung dieser Parteien’“[72]. Und zu den Beweggründen für den Vertragsabschluss sagte der vatikanische Verhandlungsführer weiter: „‘Aber wegen der neuen politischen Lage, die sich in Deutschland herausgebildet hat, ohne daß der Heilige Stuhl den geringsten Anteil daran gehabt hätte, blieb kein anderer Weg – um die Rechte der Kirche in einer so wichtigen Nation wie Deutschland zu sichern – als der eines Konkordats’“[73]. Bei einer anderen Gelegenheit äußerte der Kardinalstaatssekretär: „‘Wenn die deutsche Regierung das Konkordat verletze, und dies würde gewiß geschehen, dann werde der Vatikan eine Grundlage haben, von der aus er protestieren könne’“[74]. Das Reichskonkordat sollte Pacellis Vorstellungen zufolge künftig als völkerrechtlicher Schutzwall dienen, von dem aus der Heilige Stuhl für die inzwischen ihrer Bastionen beraubten und von einem neuen Kirchenkampf bedrohten Katholiken eintreten könne[75].
Auch der Historiker Heribert Smolinsky sieht im Reichskonkordat die Absicherung der Kirche, in einer Zeit, in welcher „der Politische Katholizismus ohnehin verloren war“[76].
War bei vielen Katholiken infolge des Konkordats der Eindruck entstanden, dass dieses den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch einschränke – in dem Sinne, dass er da aufhöre, wo die Kirche ihren autoritären Anspruch auf das religiöse Denken, Fühlen und Handeln der Menschen geltend mache – so wurden diese bald eines besseren belehrt[77]. Die Ansicht, dass das Vertragswerk eine neue Ära im Verhältnis zwischen Kirche und Staat einleiten und die bisherige Schutzfunktion der konfessionellen Parteien überflüssig machen würde, wurde ebenfalls bald enttäuscht[78]. „Der ideologische Gegensatz zwischen NS und Kirche war unüberbrückbar“[79], urteilt Karl-Joseph Hummel, Direktor der Kommission für Zeitgeschichte. Der Historiker Heinz Hürten äußert sogar, dass eine dauerhafte Koexistenz zwischen Nationalsozialismus und Kirche von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei, da eine Trennung von Geistlichem und Weltlichem sowie Kirchlichem und Staatlichem mit einem totalitären System nicht vereinbar sei. Er führt weiter aus: „Die Einhaltung seiner konkordatären Verpflichtungen hätte das Reich daran gehindert, zu einem totalitären System zu werden, der Gleichschaltungsanspruch hätte eine Grenze gehabt und die nationalsozialistische Ideologie hätte nie beanspruchen können, die alleingültige Sinngebung und die Norm für alles gesellschaftliche Leben in Deutschland zu sein“[80]. Analog zu dieser Beurteilung wurde die Hoffnung vieler Katholiken, gerade vor dem Hintergrund eines soeben euphorisch vollzogenen Zusammenschlusses der evangelischen Landeskirchen zu einer deutschen Reichskirche, enttäuscht, „beim Neuaufbau eines christlich – nationalen Deutschlands nicht abseits stehen zu müssen“[81].
Abschließend lässt sich aus heutiger Sicht urteilen, dass das Reichskonkordat in dem Versuch, einen neuerlichen Kulturkampf gegen die Katholische Kirche in Deutschland zu verhindern, gescheitert ist.
2.2.4 Die Entwicklungen nach dem Reichskonkordat
Hitler verstieß in der Zeit nach dem Konkordatsabschluss nicht nur vereinzelt gegen die Artikel des Reichskonkordats, wie Pacelli 1933 gehofft hatte, sondern missachtete dieses als solches[82]. So kam es zu einer raschen Abkühlung der Konkordatseuphorie infolge zahlreicher schikanöser Maßnahmen, die Staat und Partei gegen die Stützpfeiler des katholischen Milieus einleiteten und die vom alltäglichen, oft sozial motivierten oder konfessionell überlagerten „Kleinkrieg vor Ort“ begleitet wurden[83]. Der Versuch, einen Kulturkampf Hitlers gegen die Katholische Kirche mit Hilfe eines Konkordats zu verhindern, war gescheitert. Ein derartiges Vertragswerk konnte keinen dauerhaften Schutz vor dem totalitären Gleichschaltungswillen der Nationalsozialisten bieten[84]. Durch den Einsatz des Staatsapparats und einer allgegenwärtigen Parteiorganisation war es diesen nun möglich, aktive und initiative Politik zu machen, mit dem Ziel eines Zugriffs auf alle Lebensbereiche und dadurch die Katholische Kirche in die Defensive zu zwingen[85]. Aus dieser konnte sie sich in den Folgejahren kaum mehr befreien. „Die [vom Heiligen Stuhl] in Abstimmung mit führenden Vertretern des deutschen Episkopats verfolgte Linie des Protestes via diplomatischer Eingaben hatte ebenso wenig zu Erfolgen geführt wie die fortgesetzten Versuche, mit führenden Vertretern des NS-Regimes zu verhandeln. Spätestens im Laufe des Jahres 1936 hatte Pacelli erkannt, dass jedes weitere Verhandeln sinnlos sein musste“[86]. Der Kirchenkampf war zu diesem Zeitpunkt voll ausgebrochen. Es wurde von Seiten der Nationalsozialisten versucht, die Katholische Kirche sukzessive auf ein „Sakristeichristentum“ zurückzudrängen[87]. Die katholischen Jugend- und Arbeitervereine waren in der Folge des Konkordatabschlusses immer weiter bedrängt, die Kirchenpresse auf rein kirchlich-religiöse Berichterstattung beschränkt worden. Zahllose deutsche Geistliche sahen sich Verleumdungs- und Diffamierungskampagnen gegenüber.
Diese für die römische Kirche äußerst bedrohlichen Entwicklungen im Deutschen Reich klagte die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ im März 1937 vor aller Welt an.
2.3 Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937
2.3.1 Die Entstehung der Enzyklika
In einer außerordentlichen Plenarsitzung der deutschen Bischöfe in Fulda am 12. und 13. Januar 1937 berieten diese über die Lage der Katholischen Kirche im Deutschen Reich. Es wurde darüber diskutiert, ob es angesichts der „fortwährenden Verletzungen des Reichskonkordats“[88] durch den deutschen Staat und die nationalsozialistische Partei überhaupt noch sinnvoll sei, mit der Reichsregierung über die ständigen Konkordatsverletzungen zu reden. Zu diesem Zeitpunkt war sich der deutsche Episkopat durchaus darüber im Klaren, dass die bei den staatlichen Stellen vorgetragenen Appelle zur unbedingten Vertragserfüllung mehr der Tatsache Rechnung trugen, erlittenes Unrecht nicht schweigend hinzunehmen, als die Hoffnung beinhalteten, dass die beklagten Missstände künftig eine Abänderung erfahren würden[89].
In einem Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Pacelli bat dieser die drei Kardinäle Adolf Kardinal Bertram, Michael Kardinal von Faulhaber und Karl Joseph Kardinal Schulte sowie die beiden Bischöfe Konrad Graf von Preysing und Clemens August Graf von Galen nach Rom, um sich die Situation im Reich schildern zu lassen und die Meinungen der deutschen Geistlichen dazu aus erster Hand zu erfahren.
Am 15. Januar 1933 führte der Kardinalstaatssekretär ein Gespräch mit den beiden Kardinälen Bertram und Faulhaber. In diesem lehnte er die Bitte Bertrams ab, der Papst möge einen persönlichen Brief an Adolf Hitler schreiben, um dem Protest der Katholischen Kirche mehr Ausdruck zu verleihen[90]. Am darauf folgenden Tag waren alle fünf deutschen Ordinaten zu einem Gespräch mit dem Vatikanvertreter geladen. In diesem stellte Pacelli den Vorschlag einer öffentlichen päpstlichen Erklärung zur Diskussion, von welcher er sich mehr Wirkung erhoffte, als von einem persönlichen Schreiben an Hitler. Dieser stieß bei den Deutschen auf Zurückhaltung. Dennoch konnte der Kardinalstaatssekretär im Laufe der Unterredung jene von der Richtigkeit eines solchen Vorhabens überzeugen. Am Ende des Gesprächs bat er den Münchner Kardinal Faulhaber darum, Gedanken und Stichworte für ein päpstliches Schreiben zu notieren[91].
Bei der Papstaudienz am nächsten Tag sollte der schwer kranke Papst Pius XI. über den Stand der kirchlichen Entwicklungen im Deutschen Reich informiert werden. Unter dem Eindruck der von den drei Kardinälen und zwei Bischöfen vorgetragenen Ausführungen äußerte Pius XI., dass die Praxis seit der Ratifizierung des Reichskonkordats die an diese geknüpften Hoffnungen zwar widerlegt habe, es aber dennoch die Aufgabe der Kurie sei, den Vertragspartner immer wieder dazu zu ermahnen, das unterzeichnete Abkommen zu respektieren und wortgemäß einzuhalten. Er war der Ansicht, dass es nicht im Interesse der Kirche sei, diese wertvolle juristische Grundlage preiszugeben[92].
Letztere Aussage war die Vorgabe des Heiligen Vaters an den mit dem ersten Entwurf der Enzyklika beauftragten Kardinal Faulhaber. Um die Gefahr, dass das Deutsche Reich das Konkordat aufkündigt, zu minimieren, vermied dieser in seinem Entwurf alle offenen Schärfen. Der Kardinal wählte vielmehr „einen seelsorglichen, gelegentlich auch belehrenden Ton, nahm das Papst-Motiv des Leidens auf und unterließ alle harschen Verurteilungen“[93].
[...]
[1] Vgl.: Kulke, Ulli: Hitlerjunge Ratzinger. Wie Papst Benedikt XVI. die deutsche Vergangenheit sieht, in: Die Welt 21.04.2005, Online verfügbar unter http://www.welt.de/data/2005/04/21/707652.html, Stand: 16. Februar 2006
[2] Matussek, Matthias: England fumes over Selection of “Papa Ratzi”, Online verfügbar unter http://service.spiegel.de/cache/international/0,1518,352550,00.html, Stand: 16. Februar 2006
[3] Vgl.: Kulke, Ulli: Hitlerjunge Ratzinger. Wie Papst Benedikt XVI. die deutsche Vergangenheit sieht
[4] Literaturverweis: u.a.: Cornwell, John: Hitler´s pope. The secret history of Pius XII., New York 1999; Hochhuth, Rolf: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel, Reinbek bei Hamburg 1994; Senninger, Gerhard: Glaubenszeugen oder Versager? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, St. Ottilien 2003; Hürten, Heinz: Die katholische Kirche zwischen Nationalsozialismus und Widerstand, Berlin 1989
[5] Morsey, Rudolf: Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, in: Bendel, Rainer (Hg.): Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich zwischen Arrangement und Widerstand, Münster 2002, S.43
[6] Vgl.: Weis, Roland: Würden und Bürden. Katholische Kirche im Nationalsozialismus, Freiburg im Breisgau 1994, S.28
[7] Vgl.: Zimmermann-Buhr, Bernhard: Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus in den Jahren 1930-1933, Frankfurt / Main 1982, S.11
[8] Klausa, Ekkehard: Ein Löwe für den Himmel, in: Die Zeit 40 (2005), Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2005/40/A-Galen_neu, Stand: 16. Februar 2006
[9] Vgl.: Benz, Wolfgang: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S.11
[10] Vgl.: Hürten, Heinz: Geschichtliche und ideologische Wurzeln (Stichwort: Nationalsozialismus), in: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 7, Freiburg im Breisgau 1998 (3. Aufl.), S.654
[11] Pätzold, Kurt / Weißbecker, Manfred: Geschichte der NSDAP. 1920 bis 1945, Köln 1998, S.36
[12] Pätzold / Weißbecker, Geschichte der NSDAP, S.37
[13] Vgl.: Senninger, Gerhard: Glaubenszeugen oder Versager? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, St. Ottilien 2003, S.32
[14] Vgl.: Benz, Geschichte des Dritten Reiches, S.13
[15] Morsey, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, S.43
[16] Pacelli, Eugenio, zitiert nach: Besier, Gerhard: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004, S.65
[17] Deuerlein, Ernst, zitiert nach: Besier, Der Heilige Stuhl, S.66
[18] Vgl.: Brechenmacher, Thomas: Keine Sensation, doch das Bild wird schärfer. Pius XI. und die Nazis, in: Die Tagespost 09.08.2003, Online verfügbar unter
http://www.die-tagespost.com/Archiv/titel_anzeige.asp?ID=4991, Stand: 16. Februar 2006
[19] Vgl.: Morsey, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, S.45
[20] „Acta Apostolicae Sedis XX.“ des Heiligen Offiziums vom 25. März 1928, zitiert nach: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.29
[21] Vgl.: Brechenmacher, Keine Sensation, doch das Bild wird schärfer
[22] Vgl.: Morsey, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, S.43
[23] Orsenigo, Cesare, zitiert nach: Besier, Der Heilige Stuhl, S.130
[24] Brechenmacher, Thomas: Der Heilige Stuhl und die europäischen Mächte im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, in: zur debatte 3 (2005), S.9
[25] Orsenigo, Cesare, zitiert nach: Besier, Der Heilige Stuhl, S.130
[26] Osservatore Romano, zitiert nach: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.32
[27] Osservatore Romano, zitiert nach: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.32
[28] Göring, Hermann, zitiert nach: Besier, Der Heilige Stuhl, S.152
[29] Vgl.: Besier, Der Heilige Stuhl, S.153
[30] Vgl.: Hürten, Heinz: Geschichtliche und ideologische Wurzeln (Stichwort Nationalsozialismus), S.654
[31] Vgl.: Albrecht, Dieter: Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, in: Gotto, Klaus / Repgen, Konrad (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich, Mainz 1990, S.26
[32] Pacelli, Eugenio, zitiert nach: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.37
[33] Auszug aus der Regierungserklärung Hitlers vom 23. März 1933, in: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band I: Das Jahr 1933, bearb. v. Carsten Nicolaisen , München 1971, S.24
[34] Auszug aus der Regierungserklärung Hitlers vom 23. März 1933, S.24
[35] Vgl.: Brechenmacher, Keine Sensation, doch das Bild wird schärfer
[36] Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.26
[37] Brechenmacher, Keine Sensation, doch das Bild wird schärfer
[38] Groß, Alexander: Gehorsame Kirche – ungehorsame Christen im Nationalsozialismus, Mainz 2000, S.15
[39] Stalin, Joseph, zitiert nach: Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.25
[40] Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.25
[41] Vgl.: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.58
[42] Vgl.: Volk, Ludwig: Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Von den Ansätzen in der Weimarer Republik bis zur Ratifizierung am 10. September 1933, Mainz 1972, S.57
[43] Besier, Der Heilige Stuhl, S.171
[44] Groß, Gehorsame Kirche – ungehorsame Christen im Nationalsozialismus, S.18
[45] Vgl.: Groß, Gehorsame Kirche – ungehorsame Christen im Nationalsozialismus, S.18
[46] Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, S.58
[47] Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, S.58
[48] Auszug aus der Regierungserklärung Hitlers vom 23. März 1933, S.24
[49] Vgl.: Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.27
[50] Cornwell, John: Pius XII.. Der Papst, der geschwiegen hat, München 1999, S.193
[51] Vgl.: Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.27
[52] Vgl.: Kösters, Christoph: Katholische Kirche im nationalsozialistischen Deutschland. Aktuelle Forschungsergebnisse, Kontroversen und Fragen, in: Ethica (2003), S.230
[53] Brechenmacher, Keine Sensation, doch das Bild wird schärfer
[54] Vgl.: Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? S.61
[55] Vgl.: Besier, Der Heilige Stuhl, S.191
[56] Besier, Der Heilige Stuhl, S.191
[57] Vgl.: Albrecht, Der Hl. Stuhl und das Dritte Reich, S.26
[58] Vgl.: Cornwell, Pius XII., S.207
[59] Vgl.: Besier, Der Heilige Stuhl, S.193
[60] Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, in: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band I: Das Jahr 1933, bearb. v. Carsten Nicolaisen , München 1971, S.190
[61] Vgl.: Weis, Würden und Bürden, S.48
[62] Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, S.197
[63] Cornwell, Pius XII., S.223
[64] Cornwell, Pius XII., S.213
[65] Vgl.: Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, S.189
[66] Vgl.: Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, S.191
[67] Vgl.: Reichhold, Anselm: Die deutsche katholische Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) unter besonderer Berücksichtigung der Hirtenbriefe, Denkschriften, Predigten und sonstigen Kundgebungen der deutschen katholischen Bischöfe, St. Ottilien 1992, S.36
[68] Weis, Würden und Bürden, S.48
[69] Vgl.: Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Reichskabinetts vom 14. Juli 1933, in: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Band I: Das Jahr 1933, bearb. v. Carsten Nicolaisen, München 1971, S.106
[70] Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Reichskabinetts vom 14. Juli 1933, S.106
[71] Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Reichskabinetts vom 14. Juli 1933, S.106
[72] Pacelli, Eugenio, zitiert nach Besier, Der Heilige Stuhl, S.197
[73] Pacelli, Eugenio, zitiert nach Besier, Der Heilige Stuhl, S.197
[74] Pacelli, Eugenio, zitiert nach Cornwell, Pius XII., S.219
[75] Vgl.: Morsey, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, S.55
[76] Vgl.: Smolinsky, Heribert: Nationalsozialismus und Kirchen (Stichwort: Nationalsozialismus), in: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 7, Freiburg im Breisgau 1998 (3. Aufl.), S.659
[77] Vgl.: Besier, Der Heilige Stuhl, S.198
[78] Vgl.: Morsey, Die katholische Volksminderheit und der Aufstieg des Nationalsozialismus 1930-1933, S.53
[79] Hummel, Karl-Joseph: Kirche und Katholiken im Dritten Reich, in: zur debatte 2 (2004), S.16
[80] Hürten, Heinz: Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Kirche im Nationalsozialismus; Fragen eines Historikers, Mainz 1987, S.27
[81] Deutsche Bischofskonferenz, Geschichte der Kirche in Deutschland, Online verfügbar unter http://dbk.de/stichwoerter/in_sw_gesch.html, Stand: 02. Februar 2006
[82] Vgl.: Brechenmacher, Der Heilige Stuhl und die europäischen Mächte im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, S.9
[83] Vgl.: Deutsche Bischofskonferenz, Geschichte der Kirche in Deutschland
[84] Vgl.: Hürten, Heinz: Nationalsozialistische Diktatur 1933-45 (Stichwort: Nationalsozialismus), in: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 7, Freiburg im Breisgau 1998 (3. Aufl.), S.655
[85] Vgl.: Smolinsky, Nationalsozialismus und Kirchen (Stichwort: Nationalsozialismus), S.658
[86] Brechenmacher, Der Heilige Stuhl und die europäischen Mächte im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, S.9
[87] Vgl.: Kösters, Katholische Kirche im nationalsozialistischen Deutschland, S.230
[88] Protokoll der Plenarsitzung des deutschen Episkopats vom 12./13. Januar 1937, in: Akten Deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Band IV: 1936-1939, bearb. v. Ludwig Volk, Mainz 1981, S.87
[89] Vgl.: Raem, Heinz-Albert: Pius XI. und der Nationalsozialismus. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937, Paderborn 1979, S.31
[90] Vgl.: Besier, Der Heilige Stuhl, S.261
[91] Vgl.: Raem, Pius XI. und der Nationalsozialismus, S.35
[92] Vgl.: Raem, Pius XI. und der Nationalsozialismus, S.36
[93] Besier, Der Heilige Stuhl, S.263
- Citation du texte
- Torsten Kopf (Auteur), 2006, Die Katholische Kirche im Nationalsozialismus bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Zwischen Widerstand, Selbstbehauptung und Anpassung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63930
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