Die politische Bühne der Schweiz wurde im Herbst 2003 mit der Wahl Christoph Blochers zum Bundesrat stark erschüttert. Vorausgegangen waren enorme Wählerzugewinne der rechts-konservativen SVP bei den Nationalratswahlen 1999 und 2003, in deren Folgte die Veränderung des seit 50 Jahren bestehenden Regierungsproporzes einherging. Aber welche Auswirkungen hat diese Veränderung auf das fein austarierte System der Regierungkonkordanz? Kann im Zusammenhang mit dieser formalen Modifikation der so geannten Zauberformel auch von einer inhaltlich veränderten Konkordanz gesprochen werden oder stehen die Weichen auf einen Umbau der Konkordanz? An diesen Fragen orientiert sich dieser Artikel, der sich auf die Theorie der Konkordanzdemokratie von Daalder und Lijphart stützt und drei zentrale Prinzipien für die schweizerische Regierungskonkordanz herausarbeitet: die inhaltlich-politische Integration der Bundesräte, das Zustandekommen von Aushandlungsprozessen als Entscheidungsfindung sowie die gemeinsame Vertretung der Regierungsposition nach außen. Ausgehend von einem hohen Erfüllungswert dieser drei Prinzipien, sind mit Blocher in der Regierung unterschidliche starke Veränderungen zu erkennen, die zusammengefasst auf eine Wandel der Regierungskonkordanz schließen lassen. Dieser Wandel erfordert jedoch eine äußerst differenzierte Bewertung. So kann diese Veränderung treffend als Neujustierung der schweizerischen Konkordanz bezeichnet werden.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungen
Tabellen
Abkürzungen
1. Einleitung
1.1 Problemaufriss und Fragestellung
1.2 Gliederung der Arbeit und Materialien
1.3 Stand der Forschung
2. Das Verständnis von Konkordanz im politischen System
2.1 Grundzüge der Verhandlungsdemokratie
2.1.1 Die Idee der schweizerischen Konkordanz
2.1.2 Institutionalisierung der Konkordanz im politischen System
2.2 Identifikation geeigneter Konkordanzprinzipien und Bildung der Indikatoren
2.2.1 Konkordanzprinzip 1: Beteiligung der großen Parteien an der Regierung
2.2.2 Konkordanzprinzip 2: Entscheidungsfindung durch Aushandlungsprozesse
2.2.3 Konkordanzprinzip 3: Praktizierung von Kollegialität
2.3 Indikatorenbildung zu den Konkordanzprinzipien
3. Prüfung des empirischen Befunds anhand der Indikatoren
3.1 Indikator zum Konkordanzprinzip 1: Ausmaß der Diskussion um die Zauberformel
3.2 Indikatoren zum Konkordanzprinzip 2: Polarisierung der Positionen und Ausgewogenheit der Gesetzesvorlagen
3.2.1 Verortung von issues im politisch-ideologischen Raum
3.2.2. Totalrevision des Ausländergesetzes
3.2.2.1 Indikator 1: Polarisierung der Positionen
3.2.2.2 Indikator 2: Ausgewogenheit der Gesetzesvorlage
3.2.3 Das neue Asylgesetz
3.2.3.1 Indikator 1: Polarisierung der Positionen
3.2.3.2 Indikator 2: Ausgewogenheit der Gesetzesvorlage
3.2.4 Beitritt zum Schengen/Dublin-Abkommen
3.2.4.1 Indikator 1: Polarisierung der Positionen
3.2.4.2 Indikator 2: Ausgewogenheit der Vorlage
3.2.5 Das neue Partnerschaftsgesetz
3.2.5.1 Indikator 1: Polarisierung der Positionen
3.2.5.2 Indikator 2: Ausgewogenheit der Gesetzesvorlage
3.2.6 Zusammenfassung der Analyse der Indikatoren für das Konkordanzprinzip 2
3.3 Indikatoren zum Konkordanzprinzip 3: Intransparenz und öffentlich ausgetragener Dissens
3.3.1 Indikator 1: Ausmaß an Indiskretionen
3.3.2 Indikator 2: Ausmaß der Austragung von Dissens in der Öffentlichkeit
4. Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit
4.1 Ergebnis der Prüfung des Prinzips 1: Beteiligung der großen Parteien an der Regierung .
4.2 Ergebnis der Prüfung des Prinzips 2: Entscheidungsfindung durch Aushandlungsprozesse
4.3 Ergebnis der Prüfung des Prinzips 3: Praktizierung von Kollegialität
4.4 Beurteilung der Arbeitshypothese anhand des Stabilitätsdreiecks der Regierungskonkordanz
4.5 Ausblick
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abbildungen
Abbildung 1: Stabilitätsdreieck der Regierungskonkordanz
Abbildung 2: Kreisdarstellung der politischen issues
Abbildung 3: Netzprofil nach issues, Sozialdemokratische Partei (SP)
Abbildung 4: Netzprofil nach issues, Christlichdemokratische Volkspartei (CVP)
Abbildung 5: Netzprofil nach issues, Freisinnig-demokratische Partei (FDP)
Abbildung 6: Netzprofil nach issues, Schweizerische Volkspartei (SVP)
Abbildung 7: Parteipolitische Abstimmungskoalitionen nach issue
Abbildung 8: Verhandlungspositionen Blochers nach ausgewählten Vorlagen
Abbildung 9: Stabilitätsdreieck der neuen Regierungskonkordanz
Abbildung 10: Stabilitätsdreieck der neuen Regierungskonkordanz - Versuch einer Richtungsbestimmung
Tabellen
Tabelle 1: Indikatoren zu den Konkordanzprinzipien
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Die schweizerische Demokratie weist seit Jahrzehnten ein hohes Maß an politi- scher Stabilität1 auf (vgl. Lutz/Vatter 2000: 67). Diese Stabilität basiert im Wesentlichen auf drei Merkmalen des politischen Systems: Zum einen auf den Elementen der direkten Demokratie, zum anderen auf dem Föderalismus und schließlich auf einer ausgeprägten Konkordanzstruktur (vgl. Neidhart 2002: 9; Linder 2005: 301)..2 Mit diesen Fundamenten garantiert das politische System eine hohe Leistungsfähigkeit, indem es die politische Ordnung gewährleistet und gestalterisch wirkt. Der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahre stellt diese Performanz des Regierungssystems zunehmend auf die Probe (vgl. Linder 2005: 19-20; Neidhart 2002: 9; Ladner 2004: 17). In der neueren politikwissen- schaftlichen Forschung schlägt sich dieser Wandel insbesondere in den Arbeiten von Andreas Ladner (2001, 2004) und Michael Brändle (2001, 2002) nieder. Während die Autoren den Blick auf die Stabilität und den Wandel von Parteien und Parteiensystemen richten und Ladner (2004) das Ende der These vom frozen party system postuliert, gilt die Perspektive der vorliegenden Arbeit dem Entscheidungssystem der Konkordanz.3 Die Struktur dieses Entscheidungssys- tems wird von dem Konkordanztheoretiker Gerhard Lehmbruch (1967: 7) als ein eigentümliches Muster der Konfliktregelung bezeichnet. Sie kann als Muster bezeichnet werden, da sie auf unterschiedlichen Grundsätzen basiert, die in ihren Ausprägungen das System durchziehen und zusammengenommen ein Gesamtsystem mit eigenen Merkmalen bildet. Eigentümlich ist dieses Muster deshalb, weil das Verständnis ihrer Grundsätze von außen betrachtet nur schwer erschließbar scheint. Die Interdependenzen zwischen den Gesellschaftsberei- chen sind in der schweizerischen Demokratie besonders stark ausgeprägt.4 Konkret ist die Konfliktregelung daher zunächst auf Machtteilung ausgerichtet.
Diese Machtteilung wird durch das Prinzip des Ausgleichs verwirklicht und trägt der stark fragmentierten schweizerischen Gesellschaft Rechnung. Der Ausgleich findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt. Die Verteilung der sieben Bundes- ratssitze auf die vier großen Parteien erfüllt demnach eine zentrale Funktion. Dieser Proporz wurde über 44 Jahre hinweg traditionell nach dem Verteilungs- schlüssel 2:2:2:1 vorgenommen. Dabei entsendeten die Sozialdemokratische Partei (SP), die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) sowie die Freisinnig- Demokratische Partei (FDP) jeweils zwei Mitglieder in die Regierung, die Schweizerische Volkspartei (SVP) hingegen stellte einen Repräsentanten. Dieser Verteilungsschlüssel wurde zwischen 1959 und 2003 unverändert beibehalten und wird auch als die so genannte Zauberformel bezeichnet.
1.1 Problemaufriss und Fragestellung
Ausgangspunkt dieser Arbeit sind die starken Wählerzugewinne der SVP in den 1990er Jahren. In dieser Zeit entwickelte sich die SVP von der ehemals kleinsten zur wählerstärksten Partei und forderte 1999 als stärkste Fraktion im National- rat einen zweiten Bundesratssitz ein. Erst die Bestätigung dieser Parlamentsmehrheit in der darauf folgenden Legislatur fand die mehrheitliche Zustimmung der Bundesversammlung für die Veränderung der proportionalen Verteilung der Bundesratssitze und beendete die Zauberformel in ihrer bis dahin geltenden Ausprägung.
Vor diesem Hintergrund ist die Wahl Christoph Blochers zu sehen, der im Herbst 2003 als zweiter Vertreter der SVP anstelle Ruth Metzler-Arnolds (CVP) in das siebenköpfige Regierungsgremium gewählt wurde. Mit Blocher in der Regierung konstatierten insbesondere die Medien einen erheblichen Rechtsruck des Gremiums. Auch die ausländische Presse verfolgte diese Entwicklung. So schrieb bspw. die BBC in einer ersten heftigen Reaktion: „The result marks a political transformation for the country […]” (BBC News 10.12.2003) und prophezeite der Schweiz damit eine neue, äußerst restriktive Politik. Diese Annahme ist nicht ganz unbegründet, denn Blocher spaltet durch seine radikale und stark polarisierende Politik seit rund 15 Jahren die politische Gemeinschaft (vgl. Guardian 11.12.2003). In der deutschen Presse wurde Blocher als eidgenös- sischer Querulant tituliert (FAZ 11.12.2003), nichtsdestotrotz krönte Blocher mit der Wahl in das Regierungskollegium seine äußerst erfolgreiche politische Karriere. Kritiker und Unterstützer streiten sich seitdem über die Auswirkungen seines Wirkungsanspruchs in der Funktion als Vorsteher des eidgenössischen Departements für Polizei und Justiz (EJPD). Neben der medialen Aufmerksam- keit um die Person Blocher, finden die dahinter stehenden Wählerverschiebungen zugunsten der SVP auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Beachtung. Dabei wird intensiv die Frage nach der politi- schen Stabilität diskutiert, die letztlich in der Frage nach dem Fortbestand der Konkordanz im Allgemeinen und der Regierungskonkordanz im Besonderen mündet. Linder (2005: 227) schreibt von einer aussergewöhnlichen politischen Stabilität im internationalen Vergleich seit der Installierung der Allparteienre- gierung 1959. Diese Kontinuität ist nun mit der Wahl Blochers gebrochen. Die vorliegende Arbeit untersucht daher die Auswirkungen dieser Veränderung auf die Regierungskonkordanz im Bundesrat.
Der als national-konservativ eingestufte Blocher machte Mitte der 1980er Jahre mit seinen Kampagnen gegen den EU-Beitritt der Schweiz auf sich aufmerksam. Als Reaktion auf die Ablehnung des Beitrittsgesuchs durch das Volk gründete der milliardenschwere Wirtschaftler 1986 die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS). Spätestens als Parteivorsitzender der Zürcher SVP nahm er in den folgenden Jahren die Rolle des Oppositionsführers im Bund ein. Dabei ist unerheblicher, dass sich die SVP mit Blocher im Parteienspektrum eindeutig nach rechts bewegt hat, als die Tatsache, dass sie sich als Oppositions- partei versteht. In parlamentarischen Konkurrenzdemokratien bezeichnet dieser Begriff die nicht an der Regierung teilhabende Partei. Das schweizerische Konkordanzsystem hingegen kennt keine Opposition in diesem Sinne. Vielmehr sind alle großen Parteien an der Regierung beteiligt. Seit 1959 wählt die Verei- nigte Bundesversammlung einen SVP-Vertreter in den Bundesrat und schafft somit Ausgleich zwischen den sonst konkurrierenden Parteien. Die Weltwoche schreibt bereits 2002 über die politische Agitation der SVP, sie sprenge die auf Balance ausgelegten Institutionen (Weltwoche 48/2002). Neidhart (2002: 9) spricht sogar davon, es gehe um die politische Apparatur des Landes.
Die Kandidatur Blochers fand schon im Vorfeld der Bundesratswahlen besonde- re mediale Aufmerksamkeit. Skeptisch gegenüber der Wahl Blochers zeigte sich besonders die Bevölkerung. Das GfS-Forschungsinstitut ermittelte in einer Umfrage eine nur geringe Unterstützung für Blochers Kandidatur (GfS 12/2003: 4).5 Vielfach wurde er als nicht wählbar im Sinne eines homogenen Regierungs- kollegiums bezeichnet. Church (2004: 117) schreibt dazu: „However, today there is a feeling that collegiality is breaking down and that individual ministers are ‚spinning’ for themselves and their parties.“ Derweil drohte die SVP bei einer Nicht-Wahl Blochers mit dem Rückzug ihres bislang einzigen Vertreters im Bundesrat, Samuel Schmid. Sie würde dann vollständig die Oppositionsrolle einnehmen. Insofern stand mit der Wahl Blochers nicht nur die Konkordanz auf dem Prüfstand6, sondern mit ihr das eigentümliche Muster des gegenseitigen Ausgleichs und der Suche nach einvernehmlicher Konfliktbeilegung.
Nach der Wahl Blochers war die Rede von einem Betriebsunfall (vgl. EJPD 16.01.2004). Auch Blocher selbst hatte dem Politsystem seine Wahl nicht zuget- raut. Gestärkt durch die Wählerzugewinne postulierte die SVP die bürgerliche Wende im Bundesrat, verschärfte ihre Positionen vor allem in der Migrationspo- litik und betonte ihre ultimative Nein-Parole zum EU-Beitritt. Mit diesen ungewohnt direkten und zum Teil provokant formulierten Forderungen schürte sie den Gedanken einer rein bürgerlichen Abstimmungskoalition in der Allpar- teienregierung. Schließlich sind die sieben Bundesratssitze mit der Wahl am 10. Dezember 2003 wie folgt verteilt: Micheline Calmy-Rey und Moritz Leuenberger für die SP, Josef Deiss für die CVP, Pascale Couchepin und Hans-Rudolf Merz für die FDP sowie Samuel Schmid und Christoph Blocher für die SVP.
Legt man diese Entwicklungen zugrunde, so lässt sich die Hypothese formulie- ren, dass das eigentümliche Muster der Konkordanz durch die stark polarisierenden und politisierenden Forderungen Blochers und der SVP vor neuen Herausforderungen steht. Die Arbeitshypothese der Untersuchung lässt sich damit wie folgt formulieren: Die Regierungsbeteiligung Blochers SVP verändert die politische Stabilität insofern, als dass sie die Prinzipien der Regie- rungskonkordanz schwächt. Dabei ist eine verstärkte Polarisierung und Politisierung von Sachverhalten zu erwarten, die den Ausgleich zwischen den konfliktfähigen Interessen erheblich einschränken. Die Hypothese wird durch die Tatsache gestützt, dass das politische System der Schweiz bislang nicht von besonders einflussreichen Persönlichkeiten geprägt war. Hanspeter Kriesi (1980: 384) hat in seiner Untersuchung über Entscheidungsstrukturen und Entschei- dungsprozesse in der Schweiz die Frage nach den drei einflussreichsten Persönlichkeiten der letzten Jahre aufgeworfen. Er zitiert dazu einen hohen Beamten, der diese Frage als für die Schweiz falsch gestellt bezeichnet. Die Schweiz sei kein Land mit profilierten und herausragenden Persönlichkeiten, gibt Kriesi die Antworten von weiteren befragten Schweizern wieder. Diese Antworten zeigen wohl am besten, welche Sprengkraft die Wahl Blochers in das Regierungsgremium und für die Konkordanz besitzt.
Wird die Arbeitshypothese bestätigt, liegt also ein Defizit im Konkordanzsystem vor, kann folglich von politischer Instabilität gesprochen werden, da die Kon- kordanz ein wesentliches Element der schweizerischen Stabilität ist. Der Bundesrats-Historiker Urs Altermatt spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Schweiz von der Stabilität der Regierung lebe, die die Labilität der Referendumsdemokratie ausgleiche (NZZ 28.11.2004). Im Rahmen der politik- wissenschaftlichen Forschung ergibt sich damit folgendes Analyseverfahren: Die Regierungsbeteiligung Blochers wird als die unabhängige Variable gewählt, deren Auswirkungen auf die Konkordanz als die abhängige Variable analysiert werden.
1.2 Glieder u ng der Arbeit un d M aterialien
Die Prüfung der Arbeitshypothese wird in zwei Schritten vorgenommen: Im ersten Teil werden die Prinzipien der Regierungskonkordanz in der Schweiz entwickelt. Die Forschung über die Konkordanzdemokratie zeigt diese grundlegenden Annahmen. Ausgehend von diesen Annahmen werden die Prinzipien der Regierungskonkordanz und ihre Indikatoren entwickelt. Somit erfüllt der Theorieteil eine methodisch notwendige Funktion. Der zweite Teil der Arbeit behandelt die konkrete Prüfung dieser Prinzipien am empirischen Befund. Im Fazit werden schließlich die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung herausgestellt und die Stabilitätshypothese wird bewertet.
Für das dritte Kapitel werden vorwiegend Artikel aus der überregionale Tages- und Wochenpresse herangezogen. Unter ihnen bildet die Neue Zürcher Zeitung die wichtigste Quelle. Die große mediale Aufmerksamkeit um die Kandidatur Blochers sowie die Dokumentation der Ereignisse in der gegenwärtigen Legisla- tur ermöglichen eine sehr dichte Beobachtung der Entwicklung. Berücksichtigt werden dabei Artikel und Aufsätze, die bis Mitte Juni 2005 veröffentlicht wur- den.
1.3 Stand der Forschung
Die Konkordanztheorie ist im Wesentlichen in den 1970er Jahren von Gerhard Lehmbruch und Arend Lijphart entwickelt worden. Ihre Studien zu den kleinen, und gesellschaftlich stark segmentierten Demokratien Europas, die sich entge- gen der bis dahin vorherrschenden Theorie durch ein hohes Maß an Stabilität auszeichneten, lösten eine intensive wissenschaftliche Debatte aus (vgl. Steiner 1981: 339). Bis heute sind unterschiedliche Begriffe für diesen Demokratietypus verwendet worden. Ein kurzer Überblick schafft hier Klarheit.7 So geht der Begriff der Proporzdemokratie auf Lehmbruch (1967) zurück, der ihn später durch den Begriff der Konkordanzdemokratie (Lehmbruch 1968) ersetzt. Ihm entspricht der von Lijphart (1977) geprägte Begriff der consociational demo- cracy. In Abgrenzung zum Begriff der Konsensdemokratie (Lijphart 1984), den ebenfalls Lijphart prägt, macht er folgende Bemerkung: „Consociational is the stronger medicine.“ (Lijphart 1989: 40-41). Neidhart (1970) hingegen verwendet für die Schweiz den Begriff der Verhandlungsdemokratie. Er umfasst dabei Phänomene der politischen Machtteilung, die durch alle anderen genannten Begriffe erfasst würden. Für diese Arbeit soll die Typologie nicht weiter verfolgt werden. Es wird der Begriff der Konkordanzdemokratie bzw. der weiter gefasste Begriff der Verhandlungsdemokratie verwendet, der das politische System der Schweiz hinreichend kennzeichnet.
Hans Daalder (1974) und Brian Barry (1975) bereicherten die Diskussion um die Konkordanztheorie mit ihren Beiträgen zur Theoriebildung und trugen wesentlich zur Entwicklung einer allgemeinen Theorie der Konkordanzdemokratie bei. Daalder hat die Merkmale der Konkordanzdemokratie 1974 in neun Punkten zusammengefasst. Sie bilden noch heute das Grundgerüst vieler Analysen zur Konkordanzdemokratie und treffen auf die Schweiz in besonders hohem Maße zu; daher dienen sie auch als Grundpfeiler für diese Arbeit.
Daran anknüpfend seien die Arbeiten von Jürg Steiner/Robert H. Dorff (1980), Erwin Rüegg (1985) sowie Raimund Germann (1994) exemplarisch erwähnt, die sich insbesondere mit dem Konkordanzsystem schweizerischer Prägung ausei- nandersetzten. Rüegg identifiziert zwei Prinzipien, anhand derer er die Regierbarkeit durch Konkordanz8 allgemein im politisch-administrativen System der Schweiz analysiert. Die vorliegende Arbeit hingegen fokussiert sich ausschließlich auf die Regierungskonkordanz im Bundesrat. Die Auswirkungen der Regierungsbeteiligung Blochers auf die einzelnen Konkordanzprinzipien sind in der wissenschaftlichen Diskussion noch nicht in dieser Form behandelt worden. Aktuelle Beiträge liegen u. a. von Lutz/Vatter (2000) sowie Linder (2005)9 vor. Sie weisen auf Leistungsdefizite der Konkordanz hin und skizzieren unterschiedliche Alternativen. Die öffentliche Diskussion in der Tages- und Wochenpresse zeigt indessen ein sehr detailliertes Bild des Wirkungsanspruchs Blochers und der SVP. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ergibt sich daraus die Frage nach dem Fortbestand des konkordanzdemokratischen Mo- dells in seiner gegenwärtigen Ausprägung. Anspruch dieser Arbeit ist es, die Zusammenhänge aufzuzeigen und anhand des theoretischen Modells der Kon- kordanzdemokratie zu bewertens.
2. Das Verständnis von Konkordanz im politischen System
Untersucht man ein politisches System hinsichtlich seines Charakters als Kon- kordanzdemokratie, so müssen zwei Fragen beantwortet werden: zum einen, was unter Konkordanz im politischen System verstanden wird und zum anderen, wie diese im jeweiligen System realisiert wird. Diese beiden Fragen werden in der Theorie über die Konkordanzdemokratie behandelt, die Gegenstand dieses Kapitels ist. Im Abschnitt über die Grundzüge der Verhandlungsdemokratie wird eingangs die Idee der schweizerischen Konkordanz herausgearbeitet, worin sich die Prinzipien der Machtteilung und des Ausgleichs gründen. Daran an- schließend wird die Institutionalisierung dieser Konkordanzprinzipien behandelt.
Auf Grundlage dieses theoretischen Gerüsts der Verhandlungsdemokratie im Allgemeinen und der Schweiz im Besonderen wird der Blick auf den Bundesrat als Regierungsgremium gerichtet. Er ist Gegenstand der weiteren Untersuchung, da die Arbeitshypothese hier ansetzt und die Frage nach der Regierungskonkor- danz in den Mittelpunkt stellt. Zur Untersuchung dieser Regierungskonkordanz werden drei Konkordanzprinzipien herausgearbeitet, denen jeweils Indikatoren zugeordnet werden. Sie bilden die Basis der Analyse. Zunächst wird das Prinzip der Beteiligung aller konflikt- und organisationsfähigen Interessen10 am Ent- scheidungsprozess herangezogen. Konkret wird darunter die Beteiligung aller wichtigen Parteien an der Regierung verstanden. Zusätzlich bildet die Entschei- dungsregel des einmütigen Konsenses zwischen den Verhandlungspartnern ein weiteres charakteristisches Merkmal. Außerdem garantiert das Prinzip der gemeinsamen Vertretung von Entscheidungen nach außen die notwendige Kollegialität des Gremiums.11 Diese drei Konkordanzprinzipien sind im politi- schen System der Schweiz in wesentlichen Teilen institutionalisiert und bilden die Hauptpfeiler des schweizerischen Konkordanzgefüges. Sie werden gewählt, da sie die Merkmale der schon bei Lehmbruch und Lijphart entwickelten Kon- kordanzdemokratie sehr präzise erfassen. Mit Konkordanz ist hier ausschließlich die Regierungskonkordanz gemeint, nicht hingegen die Ausprägungen des Korporatismus als Beteiligung von Wirtschafts- und Verbandsinteressen im Entscheidungsprozess.12
2.1 Grundzüge der Verhandlungsdem okratie
Bis in die 1970er Jahre hinein wurde zur Erklärung stabiler Demokratien das Konzept der Mehrheitsdemokratie herangezogen. Dieser in der Literatur auch als das Westminster Modell bezeichnete Ansatz erklärte die hohe Stabilität der großen Demokratien Westeuropas sowie der USA (vgl. Lijphart 1984). Gabriel Almond (1956) prägte diesen Ansatz und vertrat die These, dass die politische Stabilität dieser Demokratien in ihrer geringen gesellschaftlichen Fragmentie- rung begründet sei (Steiner 2002: 7, vgl. auch Lijphart 1969 in: McRae 1974: 70). Anfang der 1970er Jahre wendeten Lijphart (1968) und Lehmbruch (1967) unabhängig voneinander den Blick auf die kleinen Demokratien Europas: die Niederlande, Österreich und die Schweiz. Ihr Augenmerk galt der Tatsache, dass auch sie ein erstaunlich hohes Maß an Stabilität aufwiesen, obgleich sie eine ausgeprägte Segmentierung der Gesellschaft zeigten (Rüegg 1985: 48). Lehm- bruch gründete seine ersten Untersuchungen auf die Demokratien Österreich und die Schweiz, Lijphart hingegen auf die Niederlande. Beiden Ansätzen war ein eigenständiger Demokratietypus gemein, der sich gegenüber der bisherigen Definition stabiler Demokratien im Wesentlichen durch eine besondere Struktur (pattern) der Regelung von Konflikten unterschied. Lehmbruch (1967) bezeich- nete diesen Typus als Proporzdemokratie bzw. Konkordanzdemokratie.13
2.1.1 D ie Idee der schw eizerischen K onkordanz
Die Konkordanz schweizerischer Prägung basiert auf der Vorstellung eines Systems mit hoher Integrationsfähigkeit und weit verzweigter Machtteilung zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen. Dabei orientieren sich alle politischen Prozesse am Prinzip des Ausgleichs durch das gütliche Einvernehmen (Lehmbruch 1967: 8). Ihm entspricht das Verständnis der amicabilis compositio der Religionsfriedensschlüssen des 17. und 18. Jh. (vgl. Lehmbruch 1967: 15). Auf diese Weise trägt das System der gesellschaftli- chen Heterogenität und insbesondere den konfessionell und sprachlich unterschiedlich geprägten Regionen des Landes Rechnung. Gütliches Einver- nehmen heißt, dass Entscheidungen durch Verhandlungen einstimmig beschlossen werden. Mehrheitsentscheide werden durch die Einstimmigkeitsre- gel ersetzt (Steiner 1970: 139). Damit unterscheidet sich die Konkordanzdemokratie von der so genannten Konkurrenzdemokratie, die durch den Wettbewerb pluralistischer Interessen um politische Macht gekennzeichnet ist (Lijphart 1968: 13).14 Dieses Merkmal schlägt sich traditionell in einem Zweiparteiensystem mit Regierung und Opposition nieder, wohingegen die Konkordanzdemokratie meist ein stark fragmentiertes Parteiensystem aufweist und die Regierung von einer großen Koalition gestellt wird (Rae 1969: 95).
Lehmbruch (1967: 7) bezeichnet Konkordanz auch als ein eigentümliches Muster der Regelung von Konflikten zwischen den wichtigsten politischen Gruppen. Dieses Regelsystem folgt speziellen Spielregeln. Es wird ein Arrange- ment von Spieregeln vereinbart, die den gegenseitigen Ausgleich ermöglichen. In diesem Arrangement überlagern Verhandlungsprozesse die Konkurrenz um Wählerstimmen (Lehmbruch 1991: 15). Dabei wird das von Almond (1956) formulierte Prinzip des britischen Parlamentarismus, nach dem Machtzuteilung über den Markt der Wählerstimmen gesteuert wird, in der Konkordanz weitest- gehend zurückgedrängt. Dieses Prinzip von Almond wird auch als votes in exchange for policies bezeichnet und in der Konkordanzdemokratie ersetzt durch ausgeprägte Verhandlungsprozesse (Lehmbuch 1991: 16). Zwar bleibt die Mehrheitsregel gültig, das Verhandlungsprinzip jedoch überlagert es eindeutig. Czada (2000: 6) spricht in diesem Zusammenhang von einer Überwölbung des Parteienwettbewerbs durch Konsensgremien, wie es für die Schweiz in der Institution des Bundesrats als Kollegialorgan realisiert ist.
In der Literatur wird häufig die Frage diskutiert, welche Ursachen die Entste- hung solcher Konkordanzstrukturen insbesondere in der Schweiz haben. Ein Blick auf die Diskussion verdeutlicht die Idee der Konkordanz. Lehmbruch (1967: 14-15) sieht die Ursache in der gesellschaftlichen Fragmentierung be- gründet und folgert auf ein pragmatisches bargaining für die Konfliktregelung. Lijphart stützt diese These, indem er schreibt: „Consociational democracy means government by elite cartel designed to turn a democracy with a frag- mented political culture into a stable democracy.” (Lijphart in: McRae 1974: 79). Steiner stellt diese These in Frage, indem er postuliert, „dass die Schweiz zwar einen hohen Grad an kultureller Vielfalt aufweise, aber nicht kulturell segmen- tiert sei.“ und weiter: „Zudem sei die schweizerische Entscheidfindung keineswegs durch den Typ des ‚einmütigen Konsenses’ gekennzeichnet.“ (beide Zitate Rüegg 1985: 49). Er stützt sich dabei auf eine empirische Erhebung in FDP-Gremien des Kantons Bern, in denen überwiegend durch Mehrheitsent- scheid statt durch Einstimmigkeit entschieden wurde (Steiner/Dorff 1980: 52). Rüegg (1985: 49-50) weist Steiner in diesem Punkt der Untersuchung jedoch methodische Defizite nach, so dass die These von Lehmbruch und Lijphart in wesentlichen Teilen heute noch gültig ist. Für die Konkordanz ergibt sich daraus, dass sie in der Heterogenität der Gesellschaft begründet ist und sich als Prinzip des Ausgleichs und der Integration von Interessen herausgebildet hat. Damit steht die Konkordanz im direkten Verhältnis zu den Elementen der direkten Demokratie, wie sie im Volksreferendum und der Volksinitiative institutionali- siert sind. Wird im politisch-administrativen Apparat kein hinreichender Ausgleich zwischen den Interessen geschaffen, so kann das Volk die Entschei- dungen durch das Referendum de facto blockieren. Vor diesem Hintergrund kann von Konkordanzzwängen gesprochen werden (vgl. Linder 2005: 227; Germann 1994: 18,89; Vatter in: NZZ 15.10.2004).15
Auch Klöti (1999), Neidhart (2002) und Linder (2005) sehen die Merkmale der schweizerischen Konkordanz übereinstimmend im zentralen Element der Konfliktregelung. Nach Klöti (1999: 164) erzeugt Konkordanz als Verhandlungs- prinzip im Idealfall Einstimmigkeit. Der Kompromiss aber stelle meist den Realfall dar. Neidhart (2002: 351) betont einen weiter gefassten Begriff von Konkordanz, indem er schreibt, dass Föderalismus und direktdemokratische Volksrechte ein nicht zu vernachlässigendes Maß an Opposition ermöglichten. Dabei spielt der Begriff des Ausgleichs auch bei ihm eine besondere Rolle. Dieser nämlich könne auf verschiedenen Ebenen erreicht werden. So könne im schweizerischen Konkordanzsystem zum einen von einem Ausgleich bei der Beteiligung verschiedener Interessensgruppen am Verhandlungstisch gespro- chen werden. Zum anderen gewährleiste ein möglichst breit abgestützter Kompromiss die Zustimmung zum Verhandlungsergebnis und schafft somit Ausgleich. Neidhart (2002: 352) spricht folglich von einer kontinuierlichen und berechenbaren Politik und einem niedrigen Niveau von Konflikten. Damit skizziert die wissenschaftliche Diskussion ein Bild der Konkordanz als Übereinkunft über eine besondere Technik der Konfliktregelung. Dieses Ab- kommen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen wird von Linder (2005: 301) als ein spezieller Politikstil bezeichnet, der nicht heute oder morgen ohne große Konzessionen gegen das Mehrheitsprinzip ersetzt werden könne. Vielmehr umfasse die schweizerische Konkordanz „eine Reihe von festen Grundstruktu- ren und entsprechende Funktionsabläufe, die ebenfalls verändert werden müssten, falls man Politik nach dem Stil der Mehrheitspolitik vorzieht.“ (Linder 2005: 301). Das Zitat macht deutlich, dass der Verankerung der Konkordanz im politischen System eine besondere Rolle zukommt. Der folgende Abschnitt zeigt diese Verankerung im politischen System der Schweiz auf.
2.1.2 Institutionalisierung der Konkordanz im politischen System
Die Idee des Ausgleichs von Interessen zeigt sich im politischen System der Schweiz im ausgeprägten Gesetzgebungsverfahren. Eine festgelegte Aufeinan- derfolge von Konsultationen garantiert den Einfluss möglichst aller wichtigen Interessen auf die Entscheidungen. Der Bundesrat leitet dabei das Vorverfahren der Gesetzgebung als zentrale Behörde (Art. 7 RVOG). Nach der Initiation eines Gesetzes werden die unterschiedlichen Departements und die Bundesämter informiert und zur Stellungsnahme aufgefordert. Im Anschluss daran findet das so genannte Vernehmlassungsverfahren statt.16 Es bildet den Kern des vorpar- lamentarischen Verfahrens (Linder 2005: 305). Erst dann wird der Entwurf an die parlamentarischen Kommissionen weitergeleitet und es beginnt ein oft langer Prozess der Verständigung im Zweikammernsystem zwischen Stände- und Nationalrat sowie dem Bundesrat als leitende Behörde (vgl. Klöti 1986: 12). Letztlich kann das Volk durch das Referendum über Annahme oder Ablehnung entscheiden.17 Durch diesen Prozess der gegenseitigen Konsultationen und letztlich dem Referendumsvorbehalt erstreckt sich das Gesetzgebungsverfahren oft über mehrere Monate. Mindestens zwölf Monate sind dabei der Regelfall (Bundeskanzlei 2003: 28-29).
Die Berücksichtigung und Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen am Entscheidungsprozess zeigt sich nicht nur im Konsultations- verfahren, sondern auch in der Binnenorganisation des Bundesrats selbst. Neidhart (2002: 351) bezieht sich insbesondere auf diese Prinzipien, wenn er schreibt, dass Konkordanz im politischen Entscheidungsprozess ein „faktisch zur Institution gewordene[s] Verfahren der politischen Entscheidungsfindung […]“ ist.
Kemann (1996 in: Klöti 1999: 165) nennt drei Aspekte, durch welche dieses Verfahren realisiert wird: kooperatives Verhalten, angemessene Vertretung von Minderheiten sowie eine spiegelbildliche Repräsentation der Gesellschaft durch Proportionalisierung. Alle drei Aspekte finden sich im organisatorischen Aufbau und in der Arbeitsweise des Bundesrats wieder. So unterliegt der Bundesrat nach Neidhart (2002: 333) folgenden acht Konstitutionsregeln, die in der Verfassung niedergeschrieben sind (Art. 174-178 BV):
- Die Verfassung schreibt die kleine Anzahl von sieben Mitgliedern vor, die nicht Mitglied des Parlaments sind.
- Es gilt das Kollegial- sowie das Departementalprinzip. Dies meint, die Mitglieder entscheiden gemeinsam als Kollektiv und stehen als einzelne aber jeder einem Departement vor.
- Der Präsident ist primus inter pares und wechselt jährlich reihum.18
- Die Bundesversammlung wählt die Bundesräte auf vier Jahre.19 Eine Abwahl ist jedoch nicht vorgesehen. Jeder Bundesrat wird separat ge- wählt; die Amtsdauer bestimmt die Reihenfolge der Wahl. Eine Wiederwahl ist uneingeschränkt möglich.
- Die verschiedenen Landesregionen sind zu berücksichtigen.
- Die vier großen Parteien sind proportional vertreten.
- Die Departements werden von den Mitgliedern untereinander zugeteilt.
- Schließlich ist der Bundesrat im administrativen Bereich oberste leitende Behörde.
Der Ausgleich durch parteipolitische Interessen ist dabei nicht in der Verfassung verankert. Neben den acht Konstitutionsregeln ist keine weitere Vorschrift zur Proportionalität des Bundesrats vorgeschrieben. Auch die Kantonszugehörigkeit wurde 1999 aus der Verfassung gestrichen.20 Demnach unterliegt der parteipoli- tische Proporz lediglich einer informellen Regel. Man spricht auch von freiwilligem Proporz.
In diesem Zusammenhang macht Klöti (1999: 166) folgende Bemerkung: Kon- kordanz sei den schweizerischen Bürgern mittlerweile so vertraut, dass sie bisweilen für ein Verfassungsprinzip gehalten werde. Die Verfassung jedoch enthalte weder explizit den Begriff der Konkordanz noch schreibe sie dem Bundesrat eine spezielle parteipolitische Zusammensetzung vor. Auch Kriesi (1980: 32) schreibt von Werten, die als selbstverständliche angenommen und nicht mehr hinterfragt würden. Adrian Vatter und Markus Freitag (2002: 57) stützen diese These, indem sie schreiben: Die Konkordanz sei „das Produkt langfristig wirksamer und gesellschaftlich internalisierter Lernprozesse zur Konfliktregulierung […]“. Die Folge ist ein weit verzweigtes und tief verwurzeltes Geflecht weithin anerkannter Prinzipien der Regelung von Konflikten unter- schiedlicher gesellschaftlicher Interessen. Auch Steiner trennt ein Institutionengefüge von einer nicht verfassten gesellschaftlichen Übereinkunft, indem er schreibt:
It is not sufficient to look at the institutional setting of a country. […] It is necessary to look beyond the institutional arrangements and to inquire how a political system operates in concrete decision-making situations. (Steiner 1981: 346)
Damit zeigt sich ein Muster des gegenseitigen Ausgleichs durch unterschiedlich festgelegte Regeln. Sie skizzieren ein Gesamtsystem der Konkordanz, in dem zum einen Konfliktlösung mittels institutionalisierter Prinzipien praktiziert wird. Zum anderen sind informelle Regeln als weithin anerkannte Normen wesentlicher Bestandteil dieses Musters.
Diese theoretischen Annahmen haben für die Arbeitshypothese entscheidende Konsequenzen: Wenn Konkordanz durch das Anerkennen bestimmter Spielre- geln funktioniert, so gilt es zu überprüfen, inwieweit Blocher und die SVP diese Regeln anerkennen und sie ebenfalls praktizieren. Die Analyse der Regierungs- beteiligung Blochers soll zeigen, ob Veränderungen in zentralen Elementen der Konkordanz vorliegen und wenn dies zutrifft, dann gilt es diese Veränderungen zu beurteilen. Für die Analyse werden im Folgenden aus den theoretischen Grundannahmen konkrete Konkordanzprinzipien abgeleitet, die den Bundesrat kennzeichnen.
2.2 Identifikation geeigneter Konkordanzprinzipien und Bildung der Indikatoren
Die elementaren Implikationen der Konkordanztheorie, wie sie Lijphart und Lehmbruch analysiert haben, hat Daalder (1974: 607-608; vgl. Germann 1994: 80) in neun Punkten zusammengefasst. Auf sie wird in dieser Arbeit zurückge- griffen.21 Rüegg (1985: 49) bemerkt zu diesen Punkten, dass die sehr präzise auf die Schweiz zuträfen, die lange Zeit als das Idealbild einer Konkordanzdemokra- tie galt.
Da sich die Punkte auf das Konkordanzsystem im Allgemeinen beziehen, werden für diese Arbeit lediglich die Prinzipien für den Bundesrat verwendet. Rüegg (1985) hat in seiner Arbeit über die Regierbarkeit durch Konkordanz aus diesen neun Punkten zwei Prinzipien herausgearbeitet, anhand derer er die Regie- rungstätigkeit der Konkordanzdemokratie untersucht. Sein Erklärungsziel richtet sich darin allgemein auf die Auswirkungen der Konkordanz auf die Regierbarkeit von hoch entwickelten, kapitalistischen Gesellschaften und als Beispiel untersucht er das pluralistisch-bürokratische System der Schweiz.22 Die in dieser Arbeit entwickelten Prinzipien sind der Arbeit Rüeggs entlehnt. Das Erklärungsziel ist jedoch enger gefasst und richtet sich ausschließlich auf das Regierungsgremium und nicht auf das gesamte pluralistisch-bürokratische System der Schweiz.
Rüegg legt seiner Untersuchung zwei Konkordanzprinzipien zugrunde: zum einen der Einbezug aller organisations- und konfliktfähigen Interessen in den Entscheidungsprozess und zum anderen die Abstützung der Entscheidungen im Regierungsgremium durch einmütigen Konsens (Rüegg 1985: 62).23 Diese Arbeit greift die beiden Prinzipien von Rüegg auf und ergänzt sie durch ein drittes: die Abschottung der Verhandlungen und die gemeinsame Vertretung der Entschei- dung nach außen, was mit dem Begriff der Kollegialität bezeichnet wird. Rüegg hat den Aspekt der Abschottung und Intransparenz der Verhandlungsteilneh- mer zwar schon als Unterpunkt seines zweiten Prinzips angeführt, der Grund für die Betonung als eigenständiges Prinzip wird hier durch die Tatsache gerechtfer- tigt, dass die gemeinsame Darstellung des Regierungskollegiums seit 1985 zunehmend mehr mediale Aufmerksamkeit erlangt hat. In der öffentlichen Diskussion wird unter Konkordanz bisweilen sogar ausschließlich das so ge- nannte Kollegialitätsprinzip verstanden, so dass es hier als eigenständiges Prinzip benannt wird. Damit ergeben sich folgende drei Prinzipien, anhand derer die Regierungskonkordanz untersucht wird:
- Die Repräsentanten der großen Parteien werden proportional an der Re- gierung beteiligt und bilden ein Gemeinschaftsgremium.
- Innerhalb der Regierung werden Entscheidungen durch Aushandlungs- prozesse getroffen.
- Nach außen hin wird Kollegialität praktiziert.
Im Grunde erfassen diese drei Prinzipien die zentralen Fragen: Wer regiert unter Konkordanzbedingungen? Wie wird durch Konkordanz regiert? Und schließlich: Wie werden Entscheidungen unter Konkordanzbedingungen nach außen hin kommuniziert? Somit skizzieren sie das Konkordanzmuster des administrativen Entscheidungsprozesses. Im Folgenden werden diese Prinzipien für das schweizerische System präzisiert und es werden Indikatoren als messba- re Größen definiert.
2.2.1 K onkordanzprinzip 1:
Beteiligung der großen Parteien an der Regierung
Die Herausbildung der parteipolitischen Proportionalisierung findet in der Schweiz seine institutionelle Entsprechung in der Allparteienregierung von 1959 (Germann 1994: 18).24 Lijphart betont diese Institutionalisierung als besonderes Kennzeichen der Konkordanzdemokratie: „The primary characteristic of conso- ciational democracy is that the political leaders of all significant segments of the plural society cooperate in a grand coalition […].“ (Lijphart 1977: 25).
Für die Vertretung der vier großen Parteien hat sich in der Vergangenheit die so genannte Zauberformel herausgebildet. Sie ist der Verteilungsschlüssel für die sieben Bundesratssitze. Nach Neidhart (2002: 343) ist das Zauberhafte an ihr, dass sie trotz der nur wenigen Vertreter eine extrem breite Repräsentation von Interessen erreicht. So vereinigen die vier großen Parteien rund drei Viertel aller Wählerstimmen auf sich (Klöti 1999: 166; Lehner/Widmaier 2002: 136). Diese Tatsache zeigt die hohe Legitimität des Proporzes. Für Steiner (1970: 139) ist diese Verteilung deshalb problemlos realisierbar, da die Sitze als gleichwertige wahrgenommen werden. Wäre diese Gleichwertigkeit nicht gegeben, könnte den repräsentierten Gruppen nur mit einer zusätzlichen Maßnahme, wie z. B. einer regelmäßigen Rotation der Ämter, Rechnung getragen werden.
Die Zauberformel schreibt gegenwärtig folgende Verteilung der Sitze vor: Die Freisinnigen (FDP), die Sozialdemokraten (SP) und die Schweizer Volkspartei (SVP) erhalten jeweils zwei Sitze, die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) hingegen einen (Linder 2005: 227). Während die Vereinigte Bundesversamm- lung zwischen 1959 und 2003 statt der SVP der CVP zwei Sitze zuteilte, wurde diese Kontinuität durch die Wahl Blochers im Dezember 2003 gebrochen. Die erdrutschartigen Zugewinne der SVP bei den eidgenössischen Wahlen zum Nationalrat von 1999 und 2003 haben diese erste Veränderung der Zauberfor- mel seit nunmehr 44 Jahren bewirkt. Formal wurde die Zauberformel damit lediglich den Wählerstimmenanteilen der Parteien angeglichen. Darüber hinaus hat diese Veränderung jedoch eine weitreichende Implikation. So ist die Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold (CVP) die erste Abwahl eines Bundesrats überhaupt.25 In der Regel amtieren die Räte bis zur selbst gewählten Demission.
Dies ist vor allem begünstigt durch das Fehlen von Abberufungsmechanismen wie dem Misstrauensvotum durch das Parlament (Klöti 1999: 163; Schumann 1971: 179). Neben dem formalen Proporz besteht zudem auch Übereinkunft über einen inhaltlichen Proporz, der sich aus der Funktion des Bundesrats als Ge- meinschaftsgremium ergibt. Somit besitzt die Zauberformel einen Doppelcharakter, der durch zwei Interpretationen gekennzeichnet ist: die rein arithmetische und die politisch-inhaltliche Interpretation (vgl. Linder 2005: 227).
Die Befürworter einer politisch-inhaltlichen Interpretation betonen die Fähig- keit der Kandidaten, sich in das Regierungskollegium zu integrieren, ausgleichend zu wirken und Konsens zu ermöglichen. Diese politischen Krite- rien sind ein wesentlicher Teil der allgemeinen Lesart des Proporzprinzips (vgl. NZZ 30.11.2002). Linder (2005: 234) weist darauf hin, dass die Bundesver- sammlung bei der Bundesratswahl der persönlichen Fähigkeiten der Kandidaten zur Zusammenarbeit im Kollegium ein hohes Gewicht beimisst. Hinter der politisch-inhaltlichen Interpretation steht letztlich die Idee des Bundesrats als zusammenarbeitendes Regierungsgremium. Demnach muss ein Kandidat möglichst gut in die Regierungspolitik integrierbar sein, um die Funktionalität und die hohe Stabilität des Regierungsorgans zu gewährleisten (vgl. NZZ 17.03.2004). Prof. Georg Müller von der Universität Zürich bestärkt in der NZZ diese Lesart des Proporzprinzips, indem er schreibt: „Das Konkordanzsystem verlangt nicht, dass die Parteien in der Regierung proportional zum Wähleranteil vertreten sind. […] wichtig ist nur, dass die Erarbeitung tragfähiger politischer Lösungen möglich ist.“ (NZZ 18.11.2003a).
Damit zeigt sich, dass der Ausgleich durch Proportionalisierung zwei Aspekte besitzt, die beide ausschließlich der Einsicht der Bundesversammlung in die Konkordanz unterliegen. Wie oben bereits erwähnt existiert keine Verfassungs- norm, die einen bestimmten Parteienproporz vorschreibt (Linder 2005: 228). Ihr Fortbestand ist demnach von der erfolgreichen und gemeinsamen Zusam- menarbeit der Bundesräte abhängig. Da die Regierungsmitglieder gleichberechtigt sind und gegenseitig keinerlei Weisungsbefugnis besitzen, hängt diese erfolgreiche Zusammenarbeit folglich von den Fähigkeiten der einzelnen Bundesräte ab. Nicht zuletzt erfährt der Integrationscharakter des Proporzes indirekt durch die Wahl der Bundesräte eine institutionelle Veranke- Wahlgang, in dem Blocher 121 Stimmen, gegenüber Metzler-Arnold mit 116 Stimmen, erhielt. Erster Wahlgang: 116/116, zweiter Wahlgang: 119/117 (Amtliches Bulletin 03.207). rung. So ist die Wahl als Einzelwahl mit absoluter Mehrheit vorgeschrieben. Die Parteien sind damit gezwungen, möglichst kompromissfähige Kandidaten aufzustellen, denn keine Fraktion kann alleine die absolute Mehrheit erreichen (Neidhart 2002: 341). Erst die Zustimmung anderer Fraktionen, oder zumindest einzelner Parlamentarier aus anderen Fraktionen, ermöglicht eine erfolgreiche Kandidatur. Aussichtsreich ist eine Bewerbung daher erst dann, wenn sich der Kandidat kompromissfähig in seinen Positionen und somit als integrierbar in das Regierungsgremium zeigt (vgl. Linder 2005: 226).
Es wurde gezeigt: Der Bruch der Zauberformel durch die Wahl Blochers in den Bundesrat hat die parteipolitische Zusammensetzung formal verändert. Damit hat die Bundesversammlung die arithmetische Interpretation der Zauberformel bestätigt. Die gegenwärtige politische Stabilität wird jedoch auch durch die Akzeptanz des Proporzes als inhaltlicher Übereinkunft zwischen den Bundesrä- ten als Parteirepräsentanten gestützt. Für die Analyse des ersten Konkordanzprinzips ergibt sich damit die Frage, ob Blocher und die SVP die Allparteienregierung in ihrer Funktion als Gemeinschaftsgremium akzeptieren. Damit trägt die Analyse dem Doppelcharakter der Zauberformel Rechnung.
2.2.2 Konkordanzprinzip 2:
Entscheidungsfindung durch Aushandlungsprozesse
Was in der angelsächsischen Literatur als bargaining26 oder problem solving27 bezeichnet wird, findet im schweizerischen Konkordanzsystem seinen Ausdruck in der Aushandlung von tragfähigen Kompromissen zwischen den Bundesräten als Repräsentanten ihrer Parteien.28 Für Linder (2005: 233) hängt ein gutes Funktionieren des Regierungskollegiums davon ab, „ob ein fairer interner Verhandlungsstil gepflegt und der blosse Mehrheitsstil unter konstanter Block- bildung vermieden wird.“ Darauf verweist auch Linder im Tages-Anzeiger (11.12.2003): Im Regierungsgremium gewährleiste nicht die zahlenmäßige Vertretung der Parteien allein Kompromisse. Erst wechselnde Mehrheiten ermöglichten ausgewogene Kompromisse. Sind diese nicht mehr gegeben, so wäre das Konkordanzprinzip nicht mehr funktionsfähig und somit nur noch scheinbare Konkordanz, hinter der sich Mehrheitspolitik durchgesetzt hätte. Feste Blockbildung verhinderte den Aushandlungsprozess (Linder in: Tages- Anzeiger 11.12.2003). Der St. Galler Rechtsprofessor Mastronardi verweist hierzu auf die Abhängigkeiten gegenüber den Elementen der direkten Demokra- tie, indem er schreibt, dass die Suche nach inhaltlicher Konkordanz eine Systemanforderung an die Parteien sei (NZZ 17.03.2004). Mit inhaltlicher Konkordanz meint er die intensive Aushandlung tragbarer Kompromisse, die vor dem Volk Bestand haben.
Dabei ist der Kompromiss nicht gleichzusetzen mit einer inhaltlichen Koaliti- onsvereinbarung (Church 2004: 117; vgl. auch Hablützel 1986: 273).29 Es gilt nicht Koalitionen festzuschreiben durch vorheriges Abgleichen von Positionen. Der Konsens wird vielmehr stets neu gebildet, eigene Positionen gilt es fortwäh- rend zu überprüfen und neu zu beurteilen. Neidhart schreibt dazu, dass der inhaltliche Konsens über aktuelle und konkrete Problemlösungen nicht a priori vorausgesetzt, sondern als Ergebnis von occasionellen Einigungen gefunden werden muss. Abgesehen vom politischen Ba- siskonsens besteht Einigkeit im Prinzip nur darüber, dass man sich einigen sollte und gemeinsam regieren will (concordia discors). Ein förmliches Koalitionsabkommen könnte die Stabilität der Zauber- formel gefährden, weil bei Abweichungen Sanktionen fällig würden. (Neidhart 2002: 344)
Von Koalitionen kann also nur insofern gesprochen werden, als dass sie nur ad- hoc und darüber hinaus äußerst wechselhaft gebildet werden. Damit sind wechselnde Mehrheiten im Bundesrat ein Kennzeichen für die Funktionalität der Konkordanz (Hablützel 1986: 274; vgl. auch Tages-Anzeiger 11.12.2003; NZZ 18.11.2003a). Konkordanz erweist sich demnach genau dann nicht als funktionsfähig, wenn die Akteure nicht mehr bereit sind, ihre Positionen für einen bestimmten Spielraum zu öffnen, um durch diesen überhaupt erst Über- einstimmung zu ermöglichen.
[...]
1 In dieser Arbeit wird der Begriff der politischen Stabilität in der Bedeutung verwendet, wie ihn Lijphart (1968: 8) definiert. Demnach bedeutet der Begriff „the system’s ability to survive intact, which depends on its capacity to deal effectively with the problems confronting it and to adjust flexibly to changing circumstances.”
2 Neidhart bezeichnet die drei Merkmale später allgemeiner als das direktdemokratische, das föderative und das repräsentative Element. In dieser Formulierung kennzeichnet er sie als die drei Hauptelemente des schweizerischen Regierungssystems (Neidhart 2002: 235).
3 Die These vom frozen party system wurde ursprünglich von Lipset und Rokkan (1967) postuliert und geht von einer seit den 1920er Jahren bestehenden Stabilität der Parteien und Parteiensysteme in westeuropäischen Demokratien aus.
4 Gemeint sind hier die drei wesentliche Gesellschaftsbereiche: das politisch-administrative System, das wirtschaftliche System sowie die Zivilgesellschaft.
5 Von 1021 Befragten stimmten 43 Prozent gegen einen zweiten Sitz für Blocher. 40 Prozent sind dafür. 17 Prozent kannten die Person nicht, waren unentschlossen oder gaben keine Antowort.
6 So lautet der Titel eines Artikels in der NZZ vom 27.09.2002.
7 Linder (2005: 303-304) gibt einen Überblick über die näheren Bedeutungen der verschiedenen Begriffe.
8 So lautet der Titel seiner Arbeit von 1985.
9 Linder (2005: 328-331) diskutiert in einem kurzen Abschnitt seines Buches Schweizerische Demokratie die Alternativen zur Konkordanz.
10 Der Begriff wird von Rüegg (1985) verwendet.
11 Die Auswahl der Prinzipien geht auf Daalder (1974) und Rüegg (1985) zurück.
12 Durch das ausgeprägte System des Korporatismus/Neo-Korporatismus unterscheidet sich das politische System der Schweiz gegenüber pluralistischen Systemen. Unter Pluralismus wird der Wettbewerb konkurrierender Wirtschafts- und Verbandsinteressen verstanden (vgl. zur Unterscheidung von Korporatismus und Pluralismus auch Schubert 1998: 334-335, 482-484).
13 Einen Überblick über die grundlegenden Positionen in der Konkordanztheorie insbesondere von Lehmbruch und Lijphart geben McRae (1974) sowie Barry (1975). Lijphart selbst stellt die Positionen in einem Artikel 2002 übersichtlich dar (siehe Lijphart 2002).
14 Der Begriff der Konkordanz leitet sich aus dem Lateinischen ab von concordancia = Eintracht, Übereinstimmung. Der Begriff der Konkurrenz hingegen von concurrere = zusammenlaufen, im Wettstreit stehen.
15 Gemeint ist damit der Zwang zur Konkordanz.
16 Beim Vernehmlassungsverfahren wird der vom Bundesrat ausgearbeitete Entwurf Verbänden, Parteien und Kantonen vorgelegt, die sich in einer schriftlichen Stellungnahme zu der Vorlage äußern können (vgl. Art. 147 BV). Änderungsvorschläge werden wiederum vom Bundesrat berücksichtigt und integriert.
17 Das obligatorische Referendum ist bei Verfassungsänderungen, Beitritt zu supranationalen Organisationen oder Organisationen kollektiver Sicherheit vorgeschrieben (Art. 140 BV; vgl. auch Linder 2005: 248). Das fakultative Referendum hingegen kann gegen Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse und unbefristete Staatsverträge ergriffen werden (Art. 141 BV; Schweizerische Bundeskanzlei 2003: 6; vgl. auch Linder 2005: 249f).
18 Zur Bezeichnung primus inter pares vgl. auch Klöti (1999: 170) sowie Church (2004: 117). Eine abweichende Meinung zur Stellung des Bundespräsidenten ist bei Herz/Carter (1962: 44) nachzulesen: „Keines seiner Mitglieder kann mit einem Ministerpräsidenten verglichen wer- den, nicht einmal im Sinne des primus inter pares“. In der vorliegenden Arbeit wird die im Text wiedergegebene Ansicht zugrunde gelegt.
19 Die Vereinigte Bundesversammlung tritt insbesondere bei der Wahl der Bundesräte zusammen. Sie ist die Vereinigung von National- und Ständerat.
20 Die so genannte Kantonsklausel, nach der aus einem Kanton nicht mehr als ein Bundesrat gewählt werden darf, ist in der geltenden Fassung vom 18.04.1999 aufgehoben (vgl. auch Lehner/Widmaier 2002: 137; Müller in: NZZ 18.11.2003a).
21 Die neun Merkmale der Konkordanztheorie von Daalder sind bei Rüegg (1985: 48-49) zusammengefasst wiedergegeben: „1. Die Stabilisierung fragmentierter Gesellschaften erfolgt durch die bewusste Interaktion der verschiedenen subkulturellen Eliten. 2. Dazu müssen die Eliten das kompetitive Modell der Demokratie (Konkurrenzprinzip) aufgeben und ein Eliten- kartell bilden. 3. Einfache Mehrheitsentscheide werden zugunsten von Proporzspielregeln aufgegeben. 4. Die Macht der Zentralregierung ist gering; die Autonomie der Subkulturen dagegen groß. 5. Es existiert eine eigenartige Mischung von ideologischer Rigidität und prag- matischem ‚bargaining’. 6. Um die Tendenz zum Immobilismus zu vermeiden, werden die politischen ‚issues’ depolitisiert. Elitenverhandlungen werden gegen die Öffentlichkeit ‚abge- schottet’. 7. Die Bedeutung von Wahlen ist gering. 8. Es existiert eine Kombination von geringer Partizipation und hoher Legitimität des Systems. 9. Die Infrastruktur der Eliteninteraktionen wird durch ein Netz von funktionalen Organisationen gebildet.“
22 Unter pluralistisch-bürokratischem System versteht Rüegg den gesamten exekutiven Entscheidungsapparat.
23 Rüegg schreibt im Zusammenhang mit dem Regierungsgremium auch von einem Elitenkartell.
24 Allparteienregierung bedeutet hier die Beteiligung der vier großen Parteien, SP, CVP, FDP und SVP, an der Regierung.
25 Metzler-Arnold (CVP) amtierte von 1999 bis 2003 als Bundesrätin (Schweizerische Bundes- kanzlei 2005: 71). Die Abwahl Ruth Metzler-Arnolds erfolgte erst im seltenen dritten
26 Hier wird das Verständnis des Begriffs von Sidney Webb in Flanders (1968: 13-14) zugrunde gelegt. Er schreibt: “Bargaining has been accurately defined as ‘the process by which the antithetical interests of supply and demand […] are finally adjusted’ so as to end ‘in the act of exchange’”.
27 Hier wird das Verständnis des Begriffs von Linder (2005: 315) zugrunden gelegt: „In Problem solving-Situationen […] sind die Akteure bemüht, die Auszahlung aus dem Spiel für sich selbst dadurch zu vergrößern, dass sie durch Kooperation den Nutzen des gesamten Spiels erhöhen“. (Vgl. dazu auch Schumann 1971: 234).
28 Die Begriffe Kompromiss und Konsens werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Damit wird nicht eine semantische Differenzierung bestritten. Entscheidend für diese Arbeit ist je- doch die Abgrenzung von Aushandlungsprozessen, die durch Konsens und Kompromiss erreicht werden, gegenüber Mehrheitsentscheidungen.
29 Hablützel weist darauf hin, dass die so genannten von Wattenwyl-Gespräche, die seit 1971 regelmäßig zwischen einer Bundesratsdelegation und den Parteispitzen stattfinden, Anfang der 1970er Jahre einen Legislaturvertrag zwischen den Regierungsparteien ermöglichte. „Dieser Vertrag […] diente der bundesrätlichen Regierungspolitik mehr zur verbalen Rückenstärkung, als dass er sie konkurrenzierte oder sonst wie konkrete Früchte trug.“ (Hablützel 1986: 284). Dieser Koalitionsvertrag wurde jedoch schon in der darauf folgenden Legislatur nicht mehr erneuert.
- Citation du texte
- Oliver Liedtke (Auteur), 2005, Das schweizerische Konkordanzsystem vor neuen Herausforderungen: Die Regierungsbeteiligung Christoph Blochers SVP und die politische Stabilität der Schweiz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63702
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