Die gegenwärtige türkische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen fundamentalen Veränderungsprozess, der beginnend von der Gründung der Republik bis heute, insbesondere jedoch in den letzten zwanzig Jahren, durch die kontinuierlichen Modernisierungsanstrengungen des Staates, aber auch durch die diversen diesbezüglichen Gegenbewegungen von seiten der Zivilgesellschaft zu einer äußerst differenzierten und komplexen Gesellschaft führte.
So spiegeln vor allem die türkischen Großstädte diese kontrastive Pluralität wider, sind sie doch der Raum, in dem westlich orientierte, in ihrem Verständnis emanzipierte Städterinnen mit traditionell gekleideten Geschlechtsgenossinnen zusammentreffen, die zwar im Zuge der Urbanisierung ihr von der Agrarwirtschaft geprägtes Leben aufgegeben haben, sich jedoch auch nach Jahren nicht den „modernen“ Gepflogenheiten der türkischen Metropolen angepasst haben.
In diesem Sinne gilt es, die oftmals in elementaren Punkten differierenden Forderungen der verschiedenen Frauengruppen in der Türkei zu untersuchen, um so zu einem Überblick über die jeweiligen - subjektiv empfundenen – Bedürfnisse der Frauen und den diesbezüglichen staatlichen Reaktionen und Handlungen zu gelangen.
Nach einer ersten Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Frauenbewegung in der Türkei, ihrer Ziele, Organisation und Zusammensetzung, steht im zweiten Teil der Arbeit der Einfluss der türkischen Frauenbewegung auf den Nationenbildungsprozess und den Demokratisierungsprozess einerseits, aber auch der Einfluss des türkischen Staates sowie internationaler Organisationen auf diese Bewegung im Mittelpunkt der Überlegungen.
Inhalt
Demokratie und Frauen - Die Frauenbewegung in der Türkei
I. Die Entwicklung der Frauenbewegung in der Türkei
1. Die türkische Frauenbewegung im Osmanischen Reich
1.1. Tanzimat-Periode (1839-1876)
1.2. Die Jungtürken in der Zweiten Konstitutionsperiode (1908-1918)
2. Die türkische Frauenbewegung in der Gründungszeit der Republik
3. Die Neue Frauenbewegung in der Türkei seit den 1980er Jahren
4. Islamistischer Feminismus
3. Organisation der türkischen Frauenbewegung
3.1. Kemalistische Frauenorganisationen
3.2. Islamistische Frauenorganisationen
3.3. Feministische Frauenorganisationen
II. Die türkische Frauenbewegung – Erfolge und Konsequenzen
1. Die türkische Frauenbewegung und die EU
2. Die Autonomie der türkische Frauenbewegung im Spannungsfeld europäischer Integration
Literaturverzeichnis
Demokratie und Frauen - Die Frauenbewegung in der Türkei
Vor fast zwanzig Jahren, am 14. April 1987, richtete die Türkei ihre offizielle Bewerbung um volle Mitgliedschaft an die Europäische Gemeinschaft. Und obwohl die Europäische Union die Türkische Republik auf dem Gipfel von Helsinki im Jahre 1999 als offiziellen Kandidaten anerkannte, ist eine endgültige Einigung über das zukünftige Verhältnis der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft auch weiterhin nicht zu erzielen gewesen.[1]
Neben verschiedenen anderen Faktoren, wie die ökonomische Stabilität oder die vollständige Durchsetzung internationaler Menschenrechtsstandards, begründen die europäischen Entscheidungsträger ihre Ablehnung konkreter Beitrittsverhandlungen unter anderem mit dem Hinweis auf die – trotz verschiedener wesentlicher Fortschritte – fortbestehenden geschlechtsbezogenen Diskriminierungen innerhalb des türkischen Staates.[2]
Die wie auch immer geartete Anbindung der Türkei an das politische Europa wird so unter anderem auch von der erfolgreichen Implementierung der Geschlechtergleichheit innerhalb der türkischen Gesellschaft abhängen.
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, die türkische Frauenbewegung einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Ihre Entwicklungsphasen und ihre Zielsetzungen werden deshalb ebenso Eingang finden, wie ihre verschiedenen Strömungen, Zusammensetzungen und konkreten Erfolge hinsichtlich der Durchsetzung ihrer jeweiligen Forderungen.
Die gegenwärtige türkische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen fundamentalen Veränderungsprozess, der beginnend von der Gründung der Republik bis heute, insbesondere jedoch in den letzten zwanzig Jahren, durch die kontinuierlichen Modernisierungsanstrengungen des Staates, aber auch durch die diversen diesbezüglichen Gegenbewegungen von seiten der Zivilgesellschaft zu einer äußerst differenzierten und komplexen Gesellschaft führte.
So spiegeln vor allem die türkischen Großstädte diese kontrastive Pluralität wider, sind sie doch der Raum, in dem westlich orientierte, in ihrem Verständnis emanzipierte Städterinnen mit traditionell gekleideten Geschlechtsgenossinnen zusammentreffen, die zwar im Zuge der Urbanisierung ihr von der Agrarwirtschaft geprägtes Leben aufgegeben haben, sich jedoch auch nach Jahren nicht den „modernen“ Gepflogenheiten der türkischen Metropolen angepasst haben.
In diesem Sinne gilt es, die oftmals in elementaren Punkten differierenden Forderungen der verschiedenen Frauengruppen in der Türkei zu untersuchen, um so zu einem Überblick über die jeweiligen - subjektiv empfundenen – Bedürfnisse der Frauen und den diesbezüglichen staatlichen Reaktionen und Handlungen zu gelangen.
Nach einer ersten Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Frauenbewegung in der Türkei, ihrer Ziele, Organisation und Zusammensetzung, steht im zweiten Teil der Arbeit der Einfluss der türkischen Frauenbewegung auf den Nationenbildungsprozess und den Demokratisierungsprozess einerseits, aber auch der Einfluss des türkischen Staates sowie internationaler Organisationen auf diese Bewegung im Mittelpunkt der Überlegungen.
I. Die Entwicklung der Frauenbewegung in der Türkei
1. Die türkische Frauenbewegung im Osmanischen Reich
Der Beginn der ersten Phase der Frauenbewegung in der Türkei kann bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt werden. Hier waren es anfänglich jedoch weniger die türkischen Frauen, als die männlichen Entscheidungsträger des Staates, die sich aktiv für eine Verbesserung des Status der Frauen in der türkischen Gesellschaft einsetzten. Vor allem die Anhänger einer fundamentalen Verwestlichung des Osmanischen Reiches sahen in der Übernahme westlicher, vor allem europäischer Standards die Möglichkeit, den sich abzeichnenden Untergang des Reiches zu verhindern.[3]
1.1. Tanzimat-Periode (1839-1876)
Die Tanzimat („wohltätige/ wohlwollende Anordnungen/ Empfehlungen“)[4], ein umfangreiches, nach europäischem Vorbild gestaltetes Reformwerk bildete den Anfang des osmanischen Erneuerungsprozesses, der sich vor allem auf das Bildungs- und Rechtswesen auswirken sollte. So garantierte das Gesetz den Schutz des Lebens, des Vermögens und der Ehre, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze sowie die freie Religionsausübung.
Im Zuge dieser Neuerungen wurde am 23. Dezember 1876 die erste Osmanische Verfassung verkündet, die neben der Einführung der konstitutionellen Monarchie und eines Zweikammernsystems, auch einen Grundrechtskatalog (u.a. Schutz der persönlichen Freiheit, Pressefreiheit) beinhaltete.[5]
Die Besonderheit dieser Reformbemühungen zeigt sich jedoch im „japanischen Vorgehen“[6] der osmanischen Elite. Diese war der Überzeugung, dass eine Modernisierung der osmanischen Gesellschaft nur dann erfolgreich sein würde, wenn gleichzeitig ihre traditionellen kulturellen Werte gestärkt würden. In diesem Sinne strebten sie keine vollständige „Westernisierung“ des Osmanischen Reiches an, sondern plädierten für eine Übernahme gewisser- in ihren Augen für die Stärke Europas verantwortlicher – Kriterien, setzten sich jedoch gleichzeitig für deren harmonische Integration in die präferierte islamische Gesellschaft ein.[7]
Die Vertreter dieser Reformen, die Jungosmanen, nahmen deshalb auch die „Frauenfrage“ auf ihrer politische Agenda auf, da sie davon überzeugt waren, dass jegliche Unterdrückung der Frau – gleich ob auf rechtlicher, bildungspolitischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Ebene – grundlegende Hindernisse für die Modernisierung des Osmanischen Reiches darstellten. Charakteristisch für diese Gruppe ist, dass man beispielsweise den Zugang der Frauen zu Bildung nicht als emanzipatorisches Recht, sondern vielmehr als gesellschaftliche Voraussetzung zur Herausbildung und Stabilisierung einer „gesunden“ Nation sah.
Kandiyoti[8] verweist in diesem Zusammenhang darauf,
„(...), dass die Tatsache, dass viele Frauen des Lesens und Schreibens unkundig waren, eingesperrt in ihren Wohnungen lebten und die Polygamie Gang und Gebe war, nicht mit der Begründung abgelehnt wurde, dass die Menschenrechte der Hälfte der Bevölkerung nicht geachtet wurden, sondern mit der Begründung, dass dies zu ungebildeten Frauen, unzureichenden Ehen und unproduktiven Individuen führte.“
Obgleich von den Männern lediglich als Objekt zur Erneuerung und Modernisierung der Gesellschaft und nicht als Individuen mit legitimen Rechtsansprüchen betrachtet, bildete sich gerade in dieser Zeit die erste Frauenbewegung des Osmanischen Reiches, deren Mitglieder erstmals die traditionellen Gesellschafts- und vor allem Familienstrukturen in Frage stellten und für mehr Rechte der Frauen in den Bereichen Bildung, Arbeit und Politik eintraten.
Diese frühe Bewegung agierte vorwiegend auf zwei organisatorischen Ebenen. Zum einen gründete sie Frauenzeitschriften, in denen die Frauenfrage erstmalig öffentlich thematisiert wurde, und durch die es den Autorinnen zudem möglich war, ein Informations- und Kommunikationsnetz von Frauen für Frauen aufzubauen. Daneben bildeten sich zudem diverse Frauengruppen, die anfangs jedoch weniger öffentlich agierten, indem sie beispielsweise mit ihren Forderungen direkt an die Osmanische Gesellschaft herantraten; sie sahen diese Frauenorganisationen vielmehr als Plattformen zur gegenseitigen ideellen wie materiellen Unterstützung der Frauen an.
Die Aktivistinnen dieser Phase rekrutierten sich vornehmlich aus den oberen Gesellschaftsschichten, also aus Frauen, die durch ihre gesellschaftliche Position Zugang zu Bildung, Informationen und vor allem auch Ressourcen hatten, und ihre Ausbildung oftmals im (europäischen) Ausland erhalten hatten. Sie konnten sich aufgrund dessen außerdem mit den Forderungen und Kampagnen der europäischen Frauenbewegungen auseinandersetzen, die zu diesem Zeitpunkt immer mehr Verbreitung fanden.[9]
Obwohl sich die Frauenbewegung langsam ausbreiten konnte, waren es hauptsächlich die Männer der mittleren und oberen Schichten, die sich – trotz ihrer gegebenen Rechte – gegen die desolate Situation der Frauen einsetzten. Die Jungosmanen sahen in der Hinwendung zur sogenannten Frauenfrage die Möglichkeit, ihre eigene Ablehnung der gesellschaftlichen Konventionen zum Ausdruck zu bringen, die sie als archaisch und beengend empfanden.[10]
So wurden vor allem im Bildungswesen entscheidende Fortschritte erzielt, zum Beispiel mit der Einführung einer vierjährigen Schulpflicht für Mädchen, weiterführenden Schulen und speziellen Ausbildungsstätten für Frauen (z.B. als Hebammen, Lehrerinnen usw.).
1.2. Die Jungtürken in der Zweiten Konstitutionsperiode (1908-1918)
Die Absetzung Sultans Abdülhamid II. im Jahre 1908 und der Übernahme der politischen Führung durch die Jungtürken, kann als letzter Versuch gedeutet werden, den Untergang des Osmanischen Reiches zu verhindern.[11] Die Anhänger des jungtürkischen Regimes hatten zwar mit verschiedenen Reformen und Zielvorstellungen die politische Bühne der Türkei betreten, doch mussten sie diese schon bald angesichts enormer innerer (Unabhängigkeitsansprüche verschiedener Volksstämme) und äußerer (Druck der europäischen Staaten) Spannungen wieder aufgeben.
Da es dadurch jedoch auch nicht zur von ihnen angestrebten Emanzipierung der osmanischen Frauen kommen konnte, bildete sich in den Reihen dieser Frauen alsbald die Überzeugung heraus, dass allein Frauen die Frauen des Osmanischen Reiches befreien könnten, man also nicht mehr länger auf die Taten der männliche Elite vertrauen sollte.
Eine überaus bedeutende Stellung bezüglich der Entwicklung der Frauenbewegung in der Türkei nimmt die Phase der Kriege von 1912 bis 1918 ein. Beginnend mit dem Balkankrieg, betreten immer mehr osmanische Frauen den öffentlichen Raum; zuerst als Krankenschwestern im Dienste des türkischen Roten Halbmonds, später auch – nachdem immer mehr männliche Arbeitskräfte an die Front geholt werden – als Arbeitnehmerinnen in Verwaltung und Wirtschaft.[12]
War die Stellung der Frau im Osmanischen Reich bisher durch ihre Beschränkung auf den häuslichen Bereich, vor allem aber die strikte Geschlechtertrennung gekennzeichnet, führen die Kriegsbedingungen – vor allem die des 1. Weltkrieges – dazu, dass immer mehr Frauen am öffentlichen Leben des Osmanischen Reiches teilnehmen.
Wichtig erscheint hier, dass vor allem der „patriotische“ Hintergrund der verschiedenen kriegsbedingten Aktivitäten die größere Mobilität der Frauen in der osmanischen Gesellschaft, allein schon ihre Sichtbarkeit, zu legitimieren schien.[13]
Die türkische Frauenbewegung etabliert sich so parallel zum und gemeinsam mit dem türkischen Nationalismus, der mit dem Untergang des Osmanischen Reiches nach dem Krieg zur bestimmenden Ideologie der gesellschaftlichen Eliten und Entscheidungsträger wird.
Vor diesem Hintergrund wird es für die Frauen jedoch schwierig eine eigene, vom kulturellen Nationalismus unabhängige Frauenidentität zu entwickeln, da ihre Belange konsequent sowohl in die türkische als auch die erstarkende islamische Position eingebunden und instrumentalisiert werden.[14]
Die Frauen dieser Zeit erhielten ihre Rechte somit vornehmlich als patriotische Telnehmerinnen am Kriegsgeschehen; der türkische Nationalismus wurde zur vorherrschenden und vor allem legitimierenden Ideologie der Befreiung der Frauen. Außerhalb dieser Ideologie konnten sich jedoch keine anderen Faktoren etablieren, mit denen die Anliegen der Frauenbewegung gerechtfertigt hätten werden können. Der Turkismus wird so zur Basis aber auch zur Einschränkung des türkischen Feminismus.[15]
[...]
[1] Vgl. hierzu ausführlich: Leggewie, Claus, Die Türkei und Europa – Die Positionen, 2004.
[2] Marshall, Gül A. Die feministische Frauenbewegung in der Türkei und die Europäische Union, in: Miethe, Europas Töchter, 2003, S. 266.
[3] Kadıoğlu, Ayse, Die Leugnung des Geschlechts, in: Pusch, Die neue muslimische Frau, 2001; S. 31.
[4] Gündüz, Zuhâl, Die Demokratisierung ist weiblich, 2002; S. 9.
[5] Kandiyoti, Deniz, End of Empire, in: dies., Women, Islam and the State, 1991; S. 25
[6] nach Serif Mardin; vgl. Gündüz, a.a.O., 2002; S. 10.
[7] Ebd., S. 16.
[8] Ebd., S. 11.
[9] Gündüz, a.a.O., 2002; S. 14.
[10] Kandiyoti, a.a.O., 1991; S. 26.
[11] Abadan-Unat, Nermin, Der soziale Wandel und die türkische Frau (1923-1985), in: dies., Die Frau in der türkischen Gesellschaft, 1993; S. 23.
[12] Kandiyoti, a.a.O., S. 30ff; Abadan-Unat, a.a.O., S. 24.
[13] Kandiyoti, a.a.O., S. 30ff.
[14] Gündüz, a.aO., S.30.
[15] Ebd., S. 20 Abadan-Unat, a.a.O., S. 26ff.
- Citation du texte
- Diplom-Politologin Daniela Keppeler (Auteur), 2005, Die türkische Frauenbewegung - Bedeutung und Einfluss innerhalb des politischen Systems der Türkei, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63360
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