Die Besonderheit Balzacs Erzähltechnik liegt in ihrer stilistischen und perspektivischen Programmatik, die hauptsächlich auf einen auktorialen Erzähler setzt, der wiederum in einem Spannungsverhältnis zum zeitweise als Reflektorfigur auftretenden Protagonisten Rastignac steht. Der balzacsche Erzähler ist dabei ein perfekt in Szene gesetztes, fiktives Konstrukt, das mehr als nur ein Vermittler des Erzählten ist, vielmehr stellt es eine den Erzählvorgang ständig reflektierende, thematisierende und manipulierende Instanz dar, die letztendlich ein moralisches Ansinnen verfolgt. Im Bewusstsein, dass sie erzählt, besinnt sich die Erzählerfigur auf den Kontakt zum Leser, für den die Geschichte erzählstrategisch zugeschnitten wird und begeht damit gleichsam eine Manipulation des Rezipienten. Diese Sozialisierung des Erzählbereichs im Sinne einer Korrelation von dargestellter und gesellschaftlicher Wirklichkeit und das damit verbundene Besinnen auf eine realistische Erzählweise verfolgt der Roman konsequent, bereits zu Beginn der in der vorliegenden Ausgabe mehr als 100 Seiten umfassenden Exposition, in der der Erzähler bewusst mit dem Wahrheitsanspruch „All is true“ (S. 48) auftritt. Der dem Roman zugrunde liegende Wahrheitsanspruch ist dennoch in einen größeren Rahmen eingebettet, es geht um mehr als die Darstellung des Schicksals eines Individuums. Über seinen Erzähler betätigt sich Balzac in poetologisch ausgeklügelter Weise als empirischer Sozial- und Gesellschaftswissenschaftler, der zugleich Analyst, Kritiker und Visionär ist.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Repräsentation des Erzählers im Roman
2.1 Auktorialer Erzählmodus
2.2 Perspektivische Darstellung
2.3 Der informierende Erzähler als Garant von Authentizität
2.4 Der Erzähler als kommentierendes und wertendes Moment
3. Erzähler und Erzähltes: Die Autoreflexion des Erzählers
3.1 Erzählen und Reflektieren: Balzacs Erzähler als Sozialforscher
3.2 Die Verschränkung von Roman und Wissenschaft
3.3 Kritisch-realistsiche Positionierung des Erzählers
3.4 Manipulation und Desillusionierung des Lesers
4. Synthese
5. Literaturangaben
1. Einleitung
Balzacs Roman Le Père Goriot thematisiert am Beispiel eines praktisch alle Sozialschichten umfassenden Personenensembles sowohl den gesellschaftlichen Aufstieg als auch dessen Niederungen und Abgründe im Kontext der Restauration des beginnenden 19. Jahrhunderts. Damit gewährt Balzac am Beispiel des sich aufopfernden früheren Nudelfabrikanten Goriot, der von seinen Töchtern völlig ausgenützt wird, einen Blick auf die ideelle Ausrichtung der Gesellschaft auf Ruhm, Macht, Schein des Dekors und den aufkommenden Kapitalismus, ein immer stärkeres Eindringen des Geldes in alle Lebensbereiche. Der emblematisch für Fortschrittsoptimismus und Rationalismus stehende ‚Streitwagen der Zivilisation’ überrollt und zerbricht das sich ihm in den Weg stellende cœur kurzer Hand und deutet für den Leser unübersehbar schon zu Beginn des Romans Balzacs exemplarische Schreibweise und literarisches Selbstverständnis an.
Die Besonderheit Balzacs Erzähltechnik liegt in ihrer stilistischen und perspektivischen Programmatik, die hauptsächlich auf einen auktorialen Erzähler setzt, der wiederum in einem Spannungsverhältnis zum zeitweise als Reflektorfigur auftretenden Protagonisten Rastignac steht. Der balzacsche Erzähler ist dabei ein perfekt in Szene gesetztes, fiktives Konstrukt, das mehr als nur ein Vermittler des Erzählten ist, vielmehr stellt es eine den Erzählvorgang ständig reflektierende, thematisierende und manipulierende Instanz dar, die letztendlich ein moralisches Ansinnen verfolgt. Im Bewusstsein, dass sie erzählt, besinnt sich die Erzählerfigur auf den Kontakt zum Leser, für den die Geschichte erzählstrategisch zugeschnitten wird und begeht damit gleichsam eine Manipulation des Rezipienten. Diese Sozialisierung des Erzählbereichs im Sinne einer Korrelation von dargestellter und gesellschaftlicher Wirklichkeit und das damit verbundene Besinnen auf eine realistische Erzählweise verfolgt der Roman konsequent, bereits zu Beginn der in der vorliegenden Ausgabe mehr als 100 Seiten umfassenden Exposition, in der der Erzähler bewusst mit dem Wahrheitsanspruch „All is true“ (S. 48) auftritt. Bevor die Position des Erzählers zum Erzählten analysiert wird, soll dargestellt werden, wie sich der Erzähler in die Geschichte einführt.
2. Repräsentation des Erzählers im Roman
2.1 Auktorialer Erzählmodus
Im Bewusstsein des Vorbehalts, dass die Begriffe auktorialer bzw. personaler Erzählmodus nur idealtypische Konstrukte darstellen, es sich bei näherer Betrachtung vielmehr um eine Reihe von alternierenden und modulierten Erzählsituationen handelt, kann der tragende Grundton des Romans Le Père Goriot durchaus als auktorial bezeichnet werden. Besonders deutlich wird die Rolle des Erzählers als allwissendes, erzählendes Ich[1] bereits in der Exposition. Die ausführliche, generelle und räumliche Situierung der Maison Vauquer (S. 47-51), an die sich eine Bestandsaufnahme des Inventars (S. 51 - 54) schließt, ist mit direkt an den Leser adressierten Einwürfen durchsetzt. Nachdem der Erzähler den Leser mit der Metapher des unaufhaltsam herzlosen char de la civilisation konfrontiert hat, wirft er ihm vor:
Ainsi ferez-vous, qui tenez ce livre d’une main blanche, vous qui vous enfoncez dans un moelleux fauteuil en vous disant: peut-être ceci va-t-il m’amuser? [...] vous dînerez avec appétit en mettant votre insensibilité sur le compte de l’auteur [...] Ah! sachez-le (sic!) […] (S. 48)
Der als somit eigenständige Persönlichkeit auftretende auktoriale Erzähler führt den Leser schrittweise in die Geschichte ein, wodurch ein Einstieg in medias res vermieden wird, wobei die unvermittelte Nennung des Namens von Mme Vauquer dies zunächst suggerieren mag. Die ausladenden Detailbeschreibungen in der Exposition mögen als retardierend empfunden werden und laufen Gefahr, die Neugierde des Lesers überzustrapazieren. Andererseits finden sich gerade im Detail viele Anspielungen und Informationen, die als Vorbedingung für die Wirkung des Hauptteils gesehen werden können.[2] Indizien für die Allwissenheit des Erzählers können exemplarisch an dessen Fähigkeit, verschiedene Orte und Zeiträume teleobjektivartig zu beleuchten, wie dies in der Eingangsszene der Fall ist, festgemacht werden. Er datiert die Handlung auf 1819 und führt anschließend eine schrittweise Eingrenzung, vom allgemeinen einer generellen Lokalisierung der „pension bourgeoise établie rue Neuv-Saint-Geneviève[3], entre le quartier latin et le faubourg Saint-Marceau“ (S.47) über eine deutliche räumliche Situierung „dans le bas de la rue Neuve-Sainte-Geneviève, à l’endroit où le terrain s’abaisse […] entre le dôme du Val-de-Grâce et le dome du Panthéon“ (S. 49) bis hin zu einer präzisen Fokussierung auf die Sockelinschrift einer gemalten Amor-Statue: „Qui que tu sois, voici ton maître: Il l’est, le fut, ou le doit être“ (S. 50). Mit dem Hinweis, dieser Vers stamme von Voltaire, bezeugt der Erzähler gleichsam sein politisch-philosophisches Interesse sowie seine Fähigkeit, in die Vergangenheit zu blicken, auch wenn er sich mit 1777 im Datum um ein Jahr bezüglich Voltaires Rückkehr nach Paris 1778 getäuscht hat. Dass mit dem oben genannten Zitat, schon allein aufgrund seiner demonstrativen Abhebung von Text durch den Wechsel ins Versmaß, vom Erzähler eine besondere Strategie verfolgt wird, nämlich eine geschickte Anspielung auf sein eigenes Selbstverständnis und seine Position zum Erzählten, wird Gegenstand des Punktes 3, Autoreflexion des Erzählers, sein. Ebenso ist er in der Lage, vorausschauend tätig zu sein und verweist kurz vor der Verhaftung Vautrins auf einen Tag „parmi les jours les plus extraordinaires de l’histoire de la maison Vauquer“ (S. 256). Unter Berücksichtigung sämtlicher Zeitangaben, die sich im ersten Drittel des Romans auf konkrete Datumsangaben, später auf Hinweise à la „deux jour après“ belaufen, lässt sich ein präzises Zeitgerüst rekonstruieren, angefangen von Goriots finanziellem Aufstieg 1789 bis zu seiner Bestattung 1820, jeweils im Hinblick auf die Erzählgegenwart 1834. Dies rechtfertigt den Begriff „datierendes Erzählen […] da die Datierung infolge der anschließenden Verengung der erzählten Zeit (nach dem ausladenden Expositionsteil) von Tagesreihen übernommen wird.“[4] Der Erzähler tritt also als ein „außerhalb der fiktionalen Welt existierender und aus der Außenperspektive berichtender Erzähler“[5] auf, der es vermag, sein historisch-chronologisches, politisches, geographisches und philosophisches Wissen an den Leser zu vermitteln, letzterem aber auch gezielt Informationen vorzuenthalten.
2.2 Perspektivische Darstellung
Die Rücknahme der Erzählerpräsenz ist sehr häufig mit einem Perspektivenwechsel, der fast in eine szenische Darstellung aus dem Blickwinkel einer Reflektorfigur mündet, verbunden. Der zuvor allwissende balzacsche Erzähler verdeckt somit die offensichtliche Mittelbarkeit des Erzählens und lässt den Leser in der Illusion, unmittelbar, beispielsweise durch die Augen eines Rastignac, einen Einblick in das Geschehen zu haben. Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gefühle sowie deren Qualität werden so scheinbar ungefiltert an den Leser weitergegeben.[6] Diese Rücknahme der sonst deutlichen Erzählerpräsenz und deren Beschränkung auf einige verba dicendi verleihen einzelnen Szenen eine dramatische Dynamik. Als Vautrin Rastignac über die Gesellschaft belehrt und ihm seine Intrige offenbart hat, entbrennt folgender Dialog:
Mais où trouver une fille? dit Eugène.
Elle est à vous, devant vous!
Mademoiselle Victorine?
Juste!
Eh! comment?
Elle vous aime déjà, votre petite baronne de Rastignac!
Elle n’a pas un sou, reprit Eugène étonné.
Ah! nous y voilà. (S.171)
Der Figur des jungen Eugène de Rastignacs, zu dessen Gunsten sich der sonst sehr präsente Erzähler zurücknimmt, gelingt durch seine letztendlich ja doch durch den Erzähler hervorgerufene Offenbarung eine Bindung des Lesers, welcher gleichsam mit ihm zu sympathisieren beginnt. Besonders stark wird diese Bindung sowie das Mitfühlen des Lesers, wenn die kommentierende und wertende Erzählerpräsenz völlig wegfällt und der wirre Gedankenstrom Eugènes, fast wie im Stream of Consciousness, als Reaktion auf Vautrins Vorschlag zutage tritt:
Etre fidèle à la vertu, martyre sublime! Bah! tout le monde croit à la vertu; mais qui est vertueux. Les peuples ont la liberté pour idole; mais où est sur la terre un peuple libre? Ma jeunesse est encore bleu comme un ciel sans nuages: vouloir être grand ou riche, n’est-ce pas réussir à mentir, plier, ramper, se redresser, flatter, dissimuler? [...] Moi et la vie, nous sommes comme un jeune homme et sa fiancée. Vautrin m’a fait voir ce qui arrive après dix ans de marriage. Diable! ma tête se perd. Je ne veux penser à rien, le coeur es ton bon guide. (S. 175 f.)
Die gedankliche Nähe zu Figuren, Sympathie bei Rastignac, Kritik bei Vautrin, können vom Erzähler strategisch gesteuert werden durch das Privileg dieser Figuren, ihre Gedanken dem Leser mitteilen zu können, durch Kommentare, Wertungen oder unterschwellig wirksame Rhetorik[7]. Der Technik der perspektivischen Darstellung bedient sich der Erzähler ebenfalls, wenn er einen Père Goriot zunächst als verrätselt[8] darstellt, als „vieillard occupé de travaux […] trop criminels […] , un voleur ou un recéleur“ (S. 87) und ihn schließlich als verrückt präsentiert, als dieser, von Rastignac beobachtet, Silbergeschirr zu Ballen presst. Die perspektivische Darstellung ist hier ein wirkungsvolles Mittel zur inszenierten Irreführung des Lesers, dessen Neugierde geweckt und die Handlung damit angetrieben wird.
Letztendlich obliegt es also dem Erzähler, sei es durch sichtbare Präsenz, sei es durch Absenz, seiner Geschichte einen Glaubwürdigkeits- und Wahrheitsanspruch zu verleihen.
2.3 Der informierende Erzähler als Garant von Authentizität
Gerade im Kontext einer soeben geschilderten alternierenden Erzählsituation, die von einer aukorialen gelegentlich in eine perspektivische Darstellung wechselt, oder sich auf die Angabe von verba dicendi beschränkt, erzielt der Erzähler einen Effekt von Authentizität. Schon zu Beginn des Romans weist der Erzähler ausdrücklich darauf hin, dass der vorliegende Text „ni une fiction, ni un roman“ (S. 48), sondern wahr sei. Diese Wahrheit und der damit verbundene authentische Anspruch werden einerseits durch die Kontiguität der Führung des Lesers an den Schauplatz des Geschehens systematisch gestärkt, der Schritt für Schritt aus der mit Panthéon und Val-de-Grace evozierten vertrauten Realität in die Welt der Pension Vauquer vordringt.[9] Andererseits sind es die „détails (qui) authentifient et sont d’autant plus garants du vraie que celui-ci est donné pour méconnu“[10], womit Dubois unter anderem auf die Empiriegesättigtheit der ausladenden Detailbeschreibungen des Pensionsinventars anspielen könnte. Der Leser bekommt überdies die Möglichkeit, an vom Erzähler vermittelten, realen und konkreten Schauplätzen in Paris, die Handlung mitzuerleben und nachzuvollziehen, somit am zeitgenössischen Leben teilzunehmen. Goriot hatte sich nach den Wirren der Revolution in der „rue de la Jussienne, près de la Halle-aux-Blés“ (S. 143), der heutigen Bourse du Commerce, niedergelassen. Verweise auf Kultur, Wissenschaft, Literatur und historische Ereignisse runden das Bild des dargestellten Pariser Lebens ab. So hat Rastignac früher manchmal die „fêtes du Prado ou des bals de l’Odeon“ (S. 143) besucht, ersteres wurde 1791 als Théâtre de la Cité erbaut, das Théâtre de l’Odéon wurde 1818 durch einen Brand zerstört und ein Jahr später wiedereröffnet. Delphine de Nucingen lädt ihn in einem Brief ins Théâtre Italien ein, in der Joséphine Mainvielle und Félix Pellegrini auftreten (S. 199). Der Medizinstudent Bianchon studiert das System des deutschen Mediziners und Naturalisten Gall (S. 104), besucht den „cours de Cuvier au Jardin des Plantes“ (S.199) der dort seit 1802 lehrte. Vautrin zitiert Malherbe, Rastignac Chateaubriand (S. 105 u. 183), ebenso wenig fehlen Verweise auf politische Ereignisse, wie die Unruhen im Abgeordnetenhaus im Oktober 1818 (S.199).
[...]
[1] Vgl. Horlebein, S. 240
[2] Auf die Konzeption der geschickten, metaphorisch wirksamen Anordnung der Details, sowohl in Bezug auf die Lokalisierung der Pension als auch ihrer Bewohner und ihres Inventars wird in 2.4 gesondert eingegangen.
[3] Heute Rue Tournefort (V. Arrondissement)
[4] Riedel, S. 132
[5] Dethloff, S. 49
[6] vgl. Stanzel, S. 196 ff.
[7] vgl. Stanzel, S. 201
[8] Vgl. Joachim Carls Untersuchungen zur immanenten Poetik Balzacs und seine Analyse des Rätselcodes im Gesellschaftsroman. Der balzacsche Erzähler stellt Figuren bewusst verrätselt dar, was zunächst retardierend, bei der Auflösung des Rätsels jedoch beschleunigend wirkt.
[9] Vgl. Warning, S. 78
[10] Dubois, S. 185
- Arbeit zitieren
- Michael Kratky (Autor:in), 2006, Der Erzähler und dessen Autoreflexion in Balzacs "Père Goriot", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63211
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