Herbert George Wells (1866-1946), der heute als der Begründer der Science-Fiction-Literatur gilt, zeichnete sich in seinem Leben und dem umfangreichen Werk durch politisches Engagement und Vordenkertum aus. In praktisch jedem seiner Bücher finden sich unterschiedlich geartete Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit. Immer wiederkehrende Themen sind auch Wissenschaft und Fortschritt. Im Unterschied zu Vorläufern wie Jules Verne verknüpft er diese in utopischen Romanen mit zeitkritischen Positionen zur gesellschaftlichen Entwicklung.
Mit solchen Visionen einer besseren Gesellschaft, und auf Grund der zeitweise enormen Popularität besonders seiner wissenschaftsgläubigen, fortschrittsoptimistischen Utopien legt er zudem den Grundstein für praktisch alle prominenten Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts, namentlich die Huxleys und Orwells, die sich nicht nur in konkreten Bildlichkeiten und Ideen auf Wells beziehen und diese ins Negative verkehren, sondern als Ganzes als Reaktionen auf Wells’ Utopien im neuen zeitlichen Kontext zu verstehen sind.
Wells war bereits Mitte des 20. Jahrhunderts beliebter Gegenstand literaturwissenschaftlichen Interesses; der Bereich der literarischen Utopie insgesamt fand in den 1990er Jahren neue Beachtung. Eine recht gründliche Gegenüberstellung von Wells und den großen Anti-Utopisten hat Hillegas bereits 1967 vorgenommen. Dort wird deutlich, dass Huxley sich klar kritisch auf Wells bezieht. Doch inwieweit ist Wells in seinen früheren, zukunftspessimistischeren Werken auch Huxleys Vorläufer?
In dieser Arbeit sollen der frühe und der spätere Wells dem Anti-Utopisten Huxley gegenübergestellt werden, mit Blick auf die Fragen: Wie hat Wells sich verändert? Welchen Bezug nimmt Huxley worauf? Welche Rolle spielt der frühe Wells für den als Parodie auf „Men Like Gods“ gedachte „Brave New World“?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Gang der Untersuchung
2. Zu Begriff und Tradition der literarischen Utopie
3. H. G. Wells: „The First Men in the Moon“
3.1. Utopische Gesellschaftsform auf dem Mond
3.2. Haltung des Erzählers
3.3. Exkurs: „A Modern Utopia“ (1905)
3.4. Exkurs: „Men Like Gods“ (1923)
4. „Brave New World“
4.1. Anti-utopische Gesellschaftsform bei Huxley
4.2. Parallelen zu Wells
5. Schlussbetrachtung
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Herbert George Wells (1866-1946), der heute als der Begründer der Science-Fiction-Literatur[1] gilt, zeichnete sich in seinem Leben und dem umfangreichen Werk durch politisches Engagement und Vordenkertum aus. In praktisch jedem seiner Bücher finden sich unterschiedlich geartete Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit. Immer wiederkehrende Themen sind auch Wissenschaft und Fortschritt. Im Unterschied zu Vorläufern wie Jules Verne verknüpft er diese in utopischen Romanen mit zeitkritischen Positionen zur gesellschaftlichen Entwicklung.
Mit solchen Visionen einer besseren Gesellschaft, und auf Grund der zeitweise enormen Popularität besonders seiner wissenschaftsgläubigen, fortschrittsoptimistischen Utopien legt er zudem den Grundstein für praktisch alle prominenten Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts, namentlich die Huxleys und Orwells, die sich nicht nur in konkreten Bildlichkeiten und Ideen auf Wells beziehen und diese ins Negative verkehren, sondern als Ganzes als Reaktionen auf Wells’ Utopien im neuen zeitlichen Kontext zu verstehen sind.[2]
Wells war bereits Mitte des 20. Jahrhunderts beliebter Gegenstand literatur-wissenschaftlichen Interesses; der Bereich der literarischen Utopie insgesamt fand in den 1990er Jahren neue Beachtung. Eine recht gründliche Gegenüberstellung von Wells und den großen Anti-Utopisten[3] hat Hillegas bereits 1967 vorgenommen. Dort wird deutlich, dass Huxley sich klar kritisch auf Wells bezieht. Doch inwieweit ist Wells in seinen früheren, zukunftspessimistischeren Werken auch Huxleys Vorläufer?
In dieser Arbeit sollen der frühe und der spätere Wells dem Anti-Utopisten Huxley gegenübergestellt werden, mit Blick auf die Fragen: Wie hat Wells sich verändert? Welchen Bezug nimmt Huxley worauf? Welche Rolle spielt der frühe Wells für den als Parodie auf „Men Like Gods“ gedachte „Brave New World“?
1.1. Gang der Untersuchung
Aus Gründen der Selbstbeschränkung werde ich mich vorrangig auf „The First Men in the Moon“, repräsentativ für den früheren Wells, und „Brave New World“ konzentrieren. Nach einer Einführung in Begriff und Tradition der literarischen Utopie werde ich zunächst die utopische Gesellschaftsstruktur der Seleniten analysieren. Besondere Beachtung soll dabei die Haltung und ggf. Wertung des Erzählers finden.
In einem zweiten Teil werde ich, allerdings knapper, das Gesellschaftskonzept in Wells’ Utopia – zum einen in „A Modern Utopia“, zum anderen in „Men Like Gods“ – skizzieren, um Parallelen und Unterschiede zwischen dem früheren und dem späteren Wells zu erläutern. Schließlich soll dann Aldous Huxleys „Brave New World“ auf Bezüge zu Wells untersucht werden – was wird übernommen, was ins Gegenteil verkehrt?
Ich werde dabei vor allem den gesellschaftlichen Aspekt behandeln: den Staat und seine Bürger, da dies den Hauptteil der Vision ausmacht, und andere Aspekte (wie Umweltzerstörung, Krieg etc.) lediglich untergeordnet, und ohne eine Lösungsmöglichkeit anzubieten, kritisch reflektiert werden. Daher sind aus „The First Men in the Moon“ die Kapitel 23 bis 26, die die Beschreibung der Mondgesellschaft zum Thema haben, vorrangig Gegenstand meiner Untersuchung.
2. Zu Begriff und Tradition der literarischen Utopie
Der Begriff der Utopie geht auf den britischen Humanisten Thomas Morus zurück, der mit seiner Beschreibung einer idealen Gesellschaftsform auf der fiktiven Insel Utopia[4] – geprägt von den Ideen antiker Denker wie Platon und Sokrates – den Vorläufer der Romanutopie geschaffen hat und dieser künftigen Literaturgattung den Namen gab.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein tragen die meisten literarischen Utopien deutlich erkennbar die Charakteristika von Morus’ Utopia, nehmen allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer technikspezifischere Züge an. Kapitalismus, Protestantismus und moderne Wissenschaft und Technik – die letzteren auch ein prominentes Charakteristikum Wells’scher Prosa – spielen dort in der Regel die Rolle der Motoren eines unaufhaltsamen und nahezu grenzenlosen Fortschritts hin zum Besseren.[5] Spätestens zum fin de siècle werden jedoch auch literarische Warnungen vor den Gefahren der Entwicklung bis dahin laut. Auch Wells’ „The Time Machine“ (1895) zeichnet kein positives Bild der menschlichen Zukunft. Begrifflich gibt es Ansätze, die die Anti-Utopie, als eine explizite Kritik am Konzept der Utopie beinhaltend, von der bloßen negativen Vision der Dystopie unterscheiden.[6] Da die Utopiekritik in Huxleys „Brave New World“ Konzept ist, bezeichne ich sie im Folgenden als Anti-Utopie.
Interessant ist, dass immer seltener der reale Fortschritt und die Technik in literarischen Utopien des 19. (und frühen 20. Jahrhunderts) als der Weg ins Paradies gesehen werden, sondern für positive Visionen eine grundlegend anders strukturierte Gesellschaft herangezogen wird. Suerbaum formuliert es so: „In dem Moment, in dem die Utopie ihren Schauplatz von der Insel in die Zukunft verlagert, hört sie auf, der real existierenden Welt eine ideale, als zeitlos gedachte Norm entgegenzusetzen und beginnt, nach Richtung und Sinn des Fortschritts zu fragen“.[7] Dies trifft auf Wells haarscharf zu – nicht nur der Zeitpunkt des Verfassens, sondern auch der Schauplatz trennt die erschreckende Zukunftsvision der „Time Machine“ von den Utopien „A Modern Utopia“ sowie „Men Like Gods“.
3. H. G. Wells: „The First Men in the Moon“
In diesem Roman, der 1901 erstmals erschien und gegenüber „War of the Worlds“ oder „A Modern Utopia“ nicht zu Wells’ bekanntesten Werken zählt – obwohl interessanterweise Wells selbst ihn für seinen besten Roman hielt[8] – unternimmt der geniale Wissenschaftler Cavor mit Hilfe eines neu entwickelten Materials zur Überwindung der Schwerkraft, des so genannten Cavorits, eine Reise auf den Mond. Dabei begleitet ihn der Erzähler des Romans, ein mediokrer Geschäftsmann namens Bedford. Dieser schildert die Arbeit an dem geeigneten Vehikel – einer Glaskugel mit Jalousien aus Cavorit, die es ermöglichen, die Schwerkraft nach Belieben aufzuheben und wiederherzustellen – und die Fahrt zum Mond. Dort verbringen die beiden einen Tag nach Mond-Zeitrechnung, d.h. von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Bedford beschreibt detailgenau die Beschaffenheit des Mondes, die verringerte Schwerkraft und die außergewöhnliche Flora und Fauna. Wells verwebt hier tatsächliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Vermutungen mit phantastischen Vorstellungen, was den Schilderungen (wie auch in seinen früheren Erzählungen) eine relativ hohe Plausibilität verleiht. Die beiden Männer begegnen ferner den Mondwesen, die Cavor „Seleniten“ nennt, und die als große insektenartige Kreaturen beschrieben werden. Die Begegnung endet auf Grund von Bedfords Vorbehalten und mangelnder Verständigungsmöglichkeiten mit einer physischen Auseinandersetzung. Die Männer können fliehen, finden aber zunächst ihr Vehikel nicht mehr und trennen sich auf der Suche danach. Als Bedford es schließlich findet, ist Cavor verschwunden, und so kehrt Bedford allein zur Erde zurück.
An dieser Stelle lässt Wells den Roman an seinem Ende angelangt scheinen – um dann mit der „überraschenden“ (und dadurch sehr überzeugend wirkenden) Nachricht fortzufahren, Cavor habe offenbar überlebt und Botschaften zur Erde gesendet, die von einem Wissenschaftler empfangen worden seien. In diesem, für diese Arbeit entscheidenden Teil schließlich entwirft Wells durch die Berichte Cavors die Gesellschaft der Seleniten.
3.1. Utopische Gesellschaftsform auf dem Mond
Die Mondbevölkerung besteht in erster Linie aus den Seleniten – immer wieder wird ihre Ähnlichkeit mit riesigen Ameisen angedeutet, was sie zunächst eher bedrohlich erscheinen lässt und eine Identifikation mit ihnen und ihrer Gesellschaftsordnung nicht gerade erleichtert. Dieses Bild wird auch für die Staatsform herangezogen:
“He does not mention the ant, but throughout his allusions the ant is continually being brought before my mind, in its sleepless activity, in its intelligence and social organisation, in its structure, and more particularly in the fact that it displays, in addition to the two forms, the male and the female form, that almost all other animals possess, a number of other sexless creatures, workers, soldiers, and the like, differing from one another in structure, character, power, and use, and yet all members of the same species.”[9]
Gemeint sind damit vor allem eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, die sich sowohl in ihrer Funktion als auch in ihrem Status voneinander unterscheiden, und die sogar körperlich perfekt auf ihren Bereich eingerichtet sind. An der Spitze des Staates steht der absolute Herrscher „Großer Lunar“, ferner gibt es Verwalter, Experten und Arbeiter, die jeweils sehr eng eingegrenzte Aufgaben haben. Aufgabenteilung und hochgradige Spezialisierung sind hier die Grundpfeiler des Staates, der – siehe Weltstaat – den ganzen Mond umfasst.
Spezialisierung bedeutet in diesem Falle die vollständige Hingabe an eine bestimmte Funktion im Gesellschaftsgetriebe – und die absolute Zufriedenheit mit der eigenen Position bis hin zur Abneigung gegen die anderer.
“'M'm--M'm--he--if I may say--draw. Eat little--drink little--draw. Love draw. No other thing. Hate all who not draw like him. Angry. Hate all who draw like him better. Hate most people. Hate all who not think all
world for to draw. Angry. M'm. All things mean nothing to him--only draw. He like you ... if you understand New thing to draw. Ugly--striking. Eh?
"'He'--turning to Tsi-puff--'love remember words. Remember wonderful more than any. Think no, draw no--remember. Say'--here he referred to his gifted assistant for a word--'histories--all things. He hear once--say ever.'”[10]
Diese Spezialisierung wird erreicht durch eine Art eugenischer Bevölkerungskontrolle: Die Seleniten werden quasi auf bestimmte Aufgaben hin körperlich gezüchtet[11] und trainiert, bis ihnen jeder Antrieb oder jede Neugier, darüber hinaus tätig zu werden, abhanden gekommen und der absolute Wille, der eigenen Aufgabe gerecht zu werden, vollständig verinnerlicht ist.[12]
“"In the moon," says Cavor, "every citizen knows his place. He is born to that place, and the elaborate discipline of training and education and surgery he undergoes fits him at last so completely to it that he has
neither ideas nor organs for any purpose beyond it. 'Why should he?' Phi-oo would ask. If, for example, a Selenite is destined to be a mathematician, his teachers and trainers set out at once to that end. They check any incipient disposition to other pursuits, they encourage his mathematical bias with a perfect psychological skill. His brain grows, or at least the mathematical faculties of his brain grow, and the rest of him only so much as is necessary to sustain this essential part of him. At last, save for rest and food, his one delight lies in the exercise and display of his faculty, his one interest in its application, his sole society with other specialists in his own line.”[13]
Das passt eingeschränkt bereits hier (noch stärker ausgeprägt in „A Modern Utopia“ und „Men Like Gods“) in das Bild des Darwinismusanhängers Wells, den nicht nur die Entwicklungsmöglichkeiten der menschlichen Spezies in der Zukunft faszinieren, sondern der auch Überlegungen zu einer kontrollierten Evolution anstellt.[14]
Die Gesellschaft der Seleniten gründet also auf der Form des Weltstaats, durch die Kriege vermieden werden, und auf der Möglichkeit, durch das Zusammenwirken aller, dessen „Freiwilligkeit“ von Beginn an jedem Einzelnen antrainiert wird, die materiellen und intellektuellen Ressourcen des Planeten so effizient wie möglich zu nutzen.
3.2. Haltung des Erzählers
Der Erzähler ist nur zu Beginn tatsächlich anwesend. Der größte Teil der Beschreibungen wird durch Cavor vermittelt, was ein wissenschaftliches Interesse und dadurch große Detailgenauigkeit bei relativ objektiver Betrachtung ermöglicht. Doch kommt Wells nicht umhin, seine Figuren zu so fremdartigen Strukturen und Praktiken Stellung beziehen zu lassen.
Die Tatsache, dass es sich um insektenartige Wesen handelt, erzeugt bereits von vornherein ein Gefühl der Distanz, und erzwingt nicht unbedingt eine Übertragung derer Ideen auf die Menschheit. Die Gesellschaft der Seleniten kann daher in Zoo-Manier von außen, ohne unmittelbare Betroffenheit als Kuriosum betrachtet werden. Die Idee, die Schilderungen auch als Zukunftsvision zu betrachten, kommt nur einmal ausdrücklich auf: durch Bedfords Reflektion von Cavors Nachrichten.
“This intermittent trickle of messages, this whispering of a record needle in the stillness of the mountain slopes, is the first warning of such a change in human conditions as mankind has scarcely imagined heretofore.”[15]
Dennoch ist die Distanzierung nicht absolut: Cavor bezeichnet die Seleniten als dem Menschen in vielerlei Hinsicht überlegen.
“Of course, they are not only colossally greater in size than ants, but also, in Cavor's opinion at least, in intelligence, morality, and social wisdom are they colossally greater than men.”[16]
Er bewundert ihre technischen Fertigkeiten, vor allem aber ihre soziale Organisation, die ihnen eine so viel effektivere Nutzung aller Kräfte ermöglicht. Der Grad der Spezialisierung und die daher rührende Zufriedenheit aller Seleniten lassen zwar einerseits von spezifisch menschlichem Standpunkt auf Bedenken aufkommen, was das Seelenleben betrifft:
„The faculty of laughter, save for the sudden discovery of some paradox, is lost to him; his deepest emotion is the evolution of a novel computation. And so he attains his end.”[17]
Andererseits sieht Cavor als sehr weitgehender Rationalist auch die Vorteile:
“So also he loves his work, and discharges in perfect happiness the duty that justifies his being. And so it is with all sorts and conditions of Selenites--each is a perfect unit in a world machine”[18]
Dennoch kann er nicht umhin, die Art, wie dies erreicht wird, als grausam zu empfinden, wie er nach einer Begegnung mit noch in der Aufzucht befindlichen Seleniten berichtet. Der offenbar schmerzhafte Prozess der körperlichen Anpassung an die künftigen Aufgaben berührt ihn unangenehm, obwohl er es sogleich ironisch in Beziehung zu irdischen Zuständen setzt - hier beginnt der Rundumschlag Wells’scher Gesellschaftskritik erst richtig, der später im Zwiegespräch zwischen Cavor und dem Großen Lunar seinen Höhepunkt findet.
“[...] I came upon a number of young Selenites confined in jars from which only the fore-limbs protruded, who were being compressed to become machine-minders of a special sort. The extended 'hand' in this highly developed system of technical education is stimulated by irritants and nourished by injection, while the rest of the body is starved. Phi-oo, unless I misunderstood him, explained that in the earlier stages these queer little creatures are apt to display signs of suffering in their various cramped situations, but they easily become indurated to their lot; and he took me on to where a number of flexible-minded messengers were being drawn out and broken in. It is quite unreasonable, I know, but such glimpses of the educational methods of these beings affect me disagreeably. I hope, however, that may pass off, and I may be able to see more of this aspect of their wonderful social order. That wretched-looking hand-tentacle sticking out of its jar seemed to have a sort of limp appeal for lost possibilities; it haunts me still, although, of course it is really in the end a far more humane proceeding than our earthly method of leaving children to grow into human beings, and then making machines of them.”[19]
Ähnlich geht es ihm mit der durch Drogen bewirkten Ruhigstellung von Arbeitern, die gerade nicht benötigt werden: Eines instinktiven Mitleids kann er sich nicht erwehren, obwohl er sich gleich wieder zur Vernunft ruft und erklärt, dass jene Gefühlsregungen nur Ausdruck der menschlichen Unterentwickeltheit seien.
“It simply illustrates the unthinking way in which one acquires habits of feeling. To drug the worker one does not want and toss him aside is surely far better than to expel him from his factory to wander starving in the streets. In every complicated social community there is necessarily a certain intermittency of employment for all specialised labour, and in this way the trouble of an 'unemployed' problem is altogether anticipated.”[20]
Es ist ein Muster, das sich durch die gesamte Schilderung zieht: Bewunderung des Ergebnisses, zugleich aber Zurückschrecken vor den Mitteln, um dieses zu erreichen. Die „Entmenschlichung“ des Einzelnen und der Verlust der Individualität ist nichts, was hier als erstrebenswert propagiert wird – im Gegensatz zum Weltstaat als gemeinsames Projekt aller, mit perfekter Versorgung jedes Bürgers, und ohne das Risiko von Krieg und Armut. Es ist eine durchweg unentschlossene Haltung, die Wells hier an den Tag legt – zwar wird die Mondgesellschaft als befremdlich dargestellt, andererseits lässt er den Großen Lunar in Kapitel 25 die Dummheit, Unlogik und Ironie menschlichen Handelns sehr einleuchtend ausdrücken.
„The Grand Lunar was greatly impressed by the folly of men in clinging to the inconvenience of diverse tongues. 'They want to communicate, and yet not to communicate,' he said, and then for a long time he questioned me closely concerning war.
"He was at first perplexed and incredulous. 'You mean to say,' he asked, seeking confirmation, 'that you run about over the surface of your world--this world, whose riches you have scarcely begun to scrape—killing one another for beasts to eat?'
I told him that was perfectly correct.”[21]
Es ist die Neigung der Menschen, sich zu bekämpfen und Krieg zu führen, die Cavor schließlich zum Verhängnis wird. Das Risiko, solche Wesen den eigenen Planeten bedrohen zu lassen, kann nicht eingegangen werden, weswegen Cavor, in selenitischer Vernunft und Mitleidlosigkeit, geopfert wird. Das ist auch als Statement von Wells’ Seite zu werten.
Alles in allem ist die Vision eher düster als optimistisch, obwohl im Kontrast zu den Schilderungen des Mondlebens auch viel Kritik an den gravierenden sozialen Ungerechtigkeiten der zeitgenössischen Gesellschaft festgemacht wird. Technischer Fortschritt und ausgeklügelte Bevölkerungsplanung machen hier noch keine ideale Welt; immer wieder schreckt auch der Wissenschaftler Cavor vor bloßer kalter Vernunft zurück. Es ist das Dilemma des 20. Jahrhunderts, das Wells hier nicht aufzulösen vermag: Wie kann politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität erreicht werden, ohne Verlust der Menschlichkeit durch vollständige Kontrolle des Einzelnen?[22]
[...]
[1] Definition Science Fiction nach Mark R. Hillegas: The Future as Nightmare. H. G.Wells and the Anti-utopians. New York, Oxford University Press 1967. S.8.
[2] Hillegas S. 3-5.
[3] Zeitlich auf Huxley und Orwell folgende Dystopien wurden in der Forschung hingegen kaum in größerem Maße wahrgenommen.
[4] Vollständiger Titel: De Optimo Reipublicae Statu deque Nova Insula Utopia. Aus gr.: ou topos (Nicht-Ort) oder eu topos (schöner Ort). Vgl. z. B. Frank Veddermann: Von der ambivalenten Utopie zur utopischen Ambivalenz. Auf dem Wege zur ‚kritisch-konstruktiven Dystopie’. Phil. Diss. Ruhr-Universität Bochum 1998. S. 7.
[5] Vgl. Veddermann, S. 7.
[6] z.B. Fitting, vgl. Veddermann, S. 15. Wegen der diversen Mischformen und oft fehlender Eindeutigkeit werden die Begriffe häufig gleichbedeutend gebraucht.
[7] Ulrich Suerbaum et al.: Science Fiction. Theorie und Geschichte. Themen und Typen. Form und Weltbild. Stuttgart, Philipp Reclam jun. 1981. S. 43.
[8] Hillegas, S. 50.
[9] „The First Men in the Moon“, S. 244f. (Im Folgenden: FMM)
[10] FMM, S. 253f.
[11] Schilderung des Zuchtverfahrens: FMM, S. 260f.
[12] Die Fortpflanzung ist im Übrigen die einzige Funktion der weiblichen Seleniten, die selbst für die Aufzucht des Nachwuchses zu unfähig sind (die ihnen daher von Weibchen mit „almost masculine“ Hirnausmaßen abgenommen wird), und die sich insgesamt stark am Bild der „New Woman“ orientieren. Vgl. FMM, S. 263f.
[13] FMM, S. 255f.
[14] Hermann Josef Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs: der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur. München, Fink 1992. S. 101f.
[15] FMM, S.264.
[16] FMM, S. 245.
[17] FMM, S. 256.
[18] FMM, S. 257.
[19] FMM, S. 260f.
[20] FMM, S. 261ff.
[21] FMM, S. 281.
[22] Vgl. auch Hillegas, S. 52.
- Quote paper
- Katja Schmitz-Dräger (Author), 2006, H. G. Wells in der schönen neuen Welt - Die Bedeutung von 'The First Men in the Moon' und Wells' Utopia für Aldous Huxleys 'Brave New World', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63197
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