Bei den Beitrittsverhandlungen der EU–Präsidentschaften und der assoziierten Länder im Jahre 2002 war es offensichtlich, dass die Republik Ungarn eine Vorreiterrolle sogar in der so genannten Luxemburger-Gruppe spielte. Damals galten nur noch etwa acht Verhandlungsgebiete als allgemein problematisch. Allerdings hatte Ungarn, wie die meisten Beitrittskandidaten auch seine exklusive „Problemzone“, und dies stellte der Bereich der Kultur und des audiovisuellen Sektors dar. Die Probleme in diesem Bereich waren charakteristisch für Ungarn und deswegen besonders untersuchenswert. War es doch eine berechtigte Frage, warum ein kulturell und zivilisatorisch weit entwickeltes, westeuropäisch orientiertes Land vier lange Jahre nicht in der Lage war, die Verhandlungen zum Kapitel Kultur und Audiovisuelles abzuschließen, sondern in dieser Angelegenheit zehn der elf anderen Beitrittskandidaten hinterherhinkte.
Unter anderem auf diese Frage soll die Arbeit eine Antwort finden, indem die Medienpolitik der ungarischen Regierungen seit dem Systemumbruch bis 2002 analysiert wird. Der Kampf zwischen Politik und Medien in Ungarn, der mit einem enormen Bedeutungszuwachs der Massenmedien im gesamteuropäischem Kontext einherging, bildet dabei ein schlechthin idealtypisch facettenreiches Bild der Interessenkonflikte zwischen Politik und Medien.
Inhalt
1. Die Bedeutung der ungarischen Medienpolitik für Ungarns EU – Beitritt
2. Die Steuerungsmöglichkeiten einer Medienpolitik
2.1 Das Interaktionsfeld Medien und Politik
2.2 Theoretische Möglichkeiten der Massenmediensteuerung
3. Die Untersuchung der Medienpolitik der ungarischen Regierungen
3.1 Die Medienpolitik des „Gulaschkommunismus“
3.2 Die „Übergabe“
3.3 Die Medienpolitik der Antall – Regierung
3.4 Die Medienpolitik der Horn – Regierung
3.5 Die Medienpolitik der Orbán – Regierung
3.6 Erkenntnisse
4. Wie weit waren diese Medienpolitiken berechtigt?
5. Literaturverzeichnis
1. Die Bedeutung der ungarischen Medienpolitik für Ungarns EU – Beitritt
Betrachtet man den aktuellen Stand der Beitrittsverhandlungen der EU – Präsidentschaften und der assoziierten Länder mit besonderem Blick auf den Anteil der vorläufig abgeschlossenen Kapitel, ist es offensichtlich, dass die Republik Ungarn eine Vorreiterrolle sogar unter der so genannten Luxemburger-Gruppe spielt. Fasst man die bisher noch nicht abgeschlossenen Kapitel innerhalb der Luxemburger-Gruppe gezielt ins Auge, zeigt es sich deutlich, dass man acht Verhandlungsgebiete[1] als allgemein problematisch bezeichnen kann. Allerdings haben die meisten Beitrittskandidaten auch ihre exklusiven „Problemzonen“, so z.B. Estland die des Energiesektors und der Zollunion, Polen u.a. die des freien Warenverkehrs, Agrarsektors und der Umwelt, die Tschechische Republik ebenfalls die des Energiesektors und der Finanzkontrolle und Ungarn die der Kultur und des audiovisuellen Sektors. Die Probleme in diesen Bereichen sind charakteristisch für das jeweilige Land und deswegen besonders untersuchenswert. Ist es doch z.B. eine berechtigte Frage, warum ein kulturell und zivilisatorisch weit entwickeltes, westeuropäisch orientiertes Land wie Ungarn seit mittlerweile vier Jahren nicht in der Lage ist, die Verhandlungen zum Kapitel Kultur und Audiovisuelles abzuschließen, sondern in dieser Angelegenheit zehn der elf anderen Beitrittskandidaten hinterherhinkt.
Unter anderem auf diese Frage möchte ich in meiner Hausarbeit eine Antwort finden, indem ich die Medienpolitik der ungarischen Regierungen seit dem Systemumbruch analysiere.
Natürlich knüpft die Frage der ungarischen Medienpolitik grundsätzlich nur im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen an Aspekte der EU – Politik an. Dennoch ist es leichtfertig, es als ein schlicht innenpolitisches Problem abzutun. Nicht nur, weil es sich hier um ein zukünftiges Mitglied der EU handelt, sondern auch weil der Kampf zwischen Politik und Medien in Ungarn, der mit einem enormen Bedeutungszuwachs der Massenmedien im gesamteuropäischem Kontext einhergeht, meines Erachtens ein schlechthin idealtypisch – facettenreiches Bild der Interessenkonflikte zwischen Politik und Medien bietet.
2. Die Steuerungsmöglichkeiten einer Medienpolitik
Ich möchte in meiner Hausarbeit nach dem Prinzip „vom Allgemeinen zum Konkreten“ vorgehen. Um die konkrete Medienpolitik der ungarischen Regierungen und die dahinter steckende Logik zu erfassen, muss ich also erst einmal untersuchen, welchen Einflussmöglichkeiten die Medien durch die Politik theoretisch unterliegen können. Weil mich letztendlich in der konkreten Analyse nur der Interessenkonflikt zwischen Medien und Politik interessiert, werde ich auch bei den theoretischen Ansätzen zur Funktions- und Wirkungsforschung meines Erachtens nicht relevante Felder ausblenden[2].
2.1 Das Interaktionsfeld Medien und Politik
Wie effektiv Medien ihren gesellschaftlichen Leistungen (wie Informations-, Bildungs-, Artikulations-, Kritik- und Kontrollfunktion einerseits, Konsensbildungs-, Integrations-, und Sozialisationsfunktion oder auch der Unterhaltungsfunktion andererseits) (Schatz 1982: 7f) nachkommen, ist Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen der Medienforschung. Selbst wenn man die Funktionen auf solche wie politische Sozialisation bzw. Widerspiegelung und Vermittlung der Politik (inbegriffen: Selektion, Reduktion, Vereinfachung, Bewertung usw.) abgrenzt, bieten sich mehrere Erklärungsversuche zur Wirkung und Bedeutung der Massenmedien im Interaktionsfeld von Medien, Politik und Öffentlichkeit. Diese reichen von der These ‚Medien seien im Grunde genommen schwach, besäßen einen geringen Autonomiegrad, seien oft gar ein Instrument der Politik‘, über die Auffassung, ‚Medien hätten eine nicht unbeträchtliche politische Wirkung‘, bis hin zu der Ansicht, ‚Medien stellten eine vierte Gewalt[3] neben den staatlichen Gewalten dar‘ (vgl. Stober 1992).
Weil Politik und Medien stets aufeinander angewiesen sind, gibt es nie eine Konstellation, in der beide Akteure zufrieden gestellt sein könnten. Die gegenseitige Abhängigkeit besteht wie folgt: Das politische System muss auf allen Ebenen – landesweit, regional wie kommunal – Informationen öffentlich machen, um für die notwendige Unterstützung zu werben. Ebenso sind die staatlichen Verantwortungsträger auf die Kenntnis der Meinungsströmungen in der Öffentlichkeit angewiesen. Da beides über einen direkten Kontakt mit den Politikadressaten bzw. Meinungsträgern nur äußerst begrenzt möglich ist, erfüllen die Medien eine zentrale Funktion bei der Politikvermittlung (vgl. Jarren 1994: 16). Gleichzeitig sind die Medien in dem Maße von der Politik abhängig, wie die politischen Akteure die Medien mit Informationen ausstatten bzw. wie und ob sie demokratische Medienpolitik betreiben. Hierunter versteht man im Idealfall „eine geordnete Summe der Maßnahmen, die darauf abzielen, den Massenmedien jenen notwendigen Raum an Freiheit und Unabhängigkeit vom Staat, von anderen gesellschaftlichen Machtgebilden oder von privaten Monopolen zu sichern, deren sie bedürfen, um ihre publizistische Funktion angemessen und unbehindert erfüllen zu können“[4]
Wie gesagt, gibt es also im Grunde genommen kein Kräfteverhältnis zwischen Massenmedien und Politik, das beide Lager zufriedenstellen würde. Die Medien beklagen vor allem die Interventionen und Instrumentalisierungsversuche der Exekutive. Des weiteren, dass sie von Politikern als Verlautbarungsorgane verwendet werden wollen, die ihre Ansichten möglichst unkritisch und unkommentiert verbreitet haben möchten, und dass sie zum Teil von bestimmten Informationskanälen abgeschnitten werden (vgl. Jarren 1994: 33). Nach Ansicht der Politiker resultieren die meisten Konflikte daraus, dass Journalisten zu „Mitpolitikern ohne Mandat“ werden, indem sie nach medieneigenen Selektionskriterien thematisieren (Agenda-Setting), sich ökonomischen Interessen unterwerfen (Kommerzialisierung), mithilfe von publikumswirksamen Faktoren Bericht erstatten (Entertainisierung, Personalisierung, Negativismus, Stigmatisierung, Kriminalisierung), und so die Politikvermittlung erheblich beeinträchtigen.
Es gibt auch zwei theoretische Ansätze der Medienpolitikforschung, die ausgeglichene Kräfteverhältnisse voraussetzen. Der eine ist die Interdependenzthese, und der andere Ansatz beschreibt eine weitaus gefährlichere Variante, die symbiotische Kommunikationsgemeinschaft von Medien und Politik. Erstere geht von einem konkurrierenden, aber gleichgewichtigen Abhängigkeitsverhältnis aus, indem die Medien aktiv die Interessen der Bevölkerung artikulieren, Machtpositionen kontrollieren und kritisieren, die Bürger umfassend informieren und damit die Voraussetzung für eine politische Meinungs- und Willensbildung schaffen. Das politisch - administrative System versucht gleichzeitig Leistungsdefizite der staatlichen Politik durch verstärkte Kontrolle des von den Massenmedien definierten Themen- und Problemhaushalts (Agenda - Building) und durch Sicherung von Massenloyalität durch politische Öffentlichkeitsarbeit (Public Realition und Gate-keeper) zu kompensieren. Die symbiotische Beziehung zwischen Politik und Medien hingegen beschreibt ein Verhältnis zum gegenseitigen Vorteil, beidem die Politik die Macht primär hervorbringt und die Medien diese verteilen. Die These, dass die Entwicklung in informationsgesellschaftlichen Demokratien sich von der geforderten Autonomie des Mediensystems über dessen reale Interdependenz zum Politiksystem, verstärkt in Richtung symbiotischer gegenseitiger Problemlösungskopplung zu bewegen scheint, ist in der aktuellen Forschung (Jarren/Sarcinelli/Saxer 1998: 728) weit verbreitet. Aber man muss sich zunächst auf die antagonistischen Beziehungen konzentrieren, um Beeinflussungsversuche aus beiden Richtungen voraussetzen zu können, und um so die Steuerungsanstrengungen des politischen Systems, und vor allem der Regierung, untersuchen zu können.
2.2 Theoretische Möglichkeiten der Massenmediensteuerung
Wie in der erwähnten Definition von Wilhelm (siehe S.5) schon gesagt, ist es Ziel der Medienpolitik, öffentliche Kommunikation zu gewährleisten. In der politischen Realität aber streben dabei zugleich die an Entscheidungsprozessen beteiligten politischen Akteure einen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung an. Sie versuchen „direkt oder indirekt auf die Produktion, Distribution und den Konsum massenmedial verbreiteter Inhalte einzuwirken“[5]. In meiner Systematisierung können diese Steuerungsversuche vertikal (direkt) – indem Zielvorgabe und Erfolgskontrolle durch das politische System erfolgt – oder horizontal (indirekt) – indem das politische System Selbstkontrolle der Medien ermöglicht und anregt – angesetzt werden. Die einzelnen konkreten Bereiche der Medienpolitik können einer Politik in Bezug auf äußere Strukturen, einer Politik bezüglich der übertragenen Inhalte, oder politisch - taktischen Maßnahmen zugeordnet werden. Die verschieden Bereiche können demnach untersucht werden, ob sie eine vertikale oder horizontale Steuerung zulassen.
In den Rahmen der Politik in Bezug auf äußere Strukturen des Mediensystems gehören die Bereiche der Ordnungspolitik, der Infrastrukturpolitik, der Finanzpolitik und der Medien – Organisationspolitik (Jarren 1998: 616). Dabei bezieht sich die Ordnungspolitik auf restriktive, regulative und extensive Maßnahmen (Ge- und Verbote in Gesetzen), die vertikal gesteuert werden, und ist im Grunde die Voraussetzung für die Institutionalisierung weiterer Medienpolitikfelder. Ein Beispiel dafür wäre die Regelung der dualen Rundfunkordnung. Die Infrastrukturpolitik beinhaltet sowohl rechtliche Maßnahmen als auch finanzielle Leistungen und ist ebenfalls vertikal gesteuert. Paradebeispiele für die Infrastrukturpolitik sind die Vergabe von Sendefrequenzen oder technische Infrastrukturleistungen. Die Finanzpolitik bezieht sich konkret auf Gebühren, Steuern und staatliche Subventionen. Es ist von der jeweiligen Regelung abhängig, ob hier eine vertikale oder horizontale Steuerung vorliegt. Die Medien – Organisationspolitik beinhaltet die Instituionalisierung und Struktur der Kontrolle und der Regulierung der Massenmedien. Hier ist eine horizontale Steuerung durchaus möglich, wie das in westeuropäischen Staaten auch praktiziert wird.[6]
In den Rahmen der Politik bezüglich der übertragenen Inhalte gehören die Bereiche der Programmpolitik und der Informationspolitik. Bei der Programmpolitik kann die Steuerung ebenso vertikal wie auch horizontal erfolgen. Es sind rechtliche und finanzielle Maßnahmen (vertikal) ebenso wie Selbstkontrolle (horizontal) in bezug auf Vielfaltsangebot, unzulässige Sendungen, Werbevorschriften und Quotierung der Anteile an verschiedenen Produktionen realisierbar. Die Informationspolitik bezieht sich auf den Inhalt der Politikvermittlung, also auf die Qualität und Quantität des Informationsaustausches. Sie ist ohne Frage auch eine Steuerungsmöglichkeit seitens der Politik, bildet aber einen Sonderfall, indem hier nicht darüber entschieden wird, wie der Output der Politik zu verarbeiten ist, sondern über eine mögliche Selektion oder Reduktion des Outputs selbst. Das deutlichste Beispiel hierfür ist die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Parteien.
Den Rahmen der Medienpolitik bezüglich politisch – taktischer Maßnahmen füllt generell die Personalpolitik. Die „Besetzung journalistischer Leistungsrollen“ (Marcinkowski 1993: 190) geschieht in der Regel durch vertikale Steuerung. Die Besetzung z.B. von Positionen in den Aufsichtsgremien öffentlich – rechtlicher oder privater Rundfunkveranstalter wird oft als verlängerter Arm der Steuerungsversuche verstanden.
In der Forschung trifft man in diesem Zusammenhang auch auf den Begriff der Ressourcenpolitik, die im weitesten Sinne die Personalpolitik, die Finanzpolitik und die Informationspolitik bündelt.
Als Instrumente zur politischen Einflussnahme stehen dementsprechend dem politisch –administrativen System rechtliche, finanzielle, personalpolitische Maßnahmen und informationelle Beeinflussung zur Verfügung. In der Nutzung dieser Instrumente sind Medienpolitiken in demokratischen Gesellschaften erwartungsgemäß schwach institutionalisiert. Dies geschieht im Grunde genommen aus dem Anlass, um die verfassungsrechtlich zugedachte Rolle der Medien in der Gesellschaft nicht einzuschränken. Daraus resultiert aber letztendlich, dass trotz des hohen Grades an Politikverflechtung die staatlichen Formen zur Problembearbeitung nur in geringem Umfang administrativ ausdifferenziert sind. Damit erweist sich das Politikfeld als relativ offen für Impulse von einzelnen Akteuren bzw. Akteursgruppen, und ist maßgeblich von ihnen geprägt, wie es am Fallbeispiel der ungarischen Medienpolitik unter den verschiedenen Regierungen auch beobachten werden kann. Nicht zuletzt sind die Einflussmöglichkeiten und –versuche bzw. die Instrumente der Akteure vom politischen und geschichtlichen Kontext determiniert.
[...]
[1] Das sind die Kapitel zum freien Personenverkehr, zur Wettbewerbspolitik, zur Landwirtschaft, zum Verkehr, zu den Steuern, zur Regionalpolitik, zu Justiz Inneres sowie zum Haushalt.
[2] So gehe ich auch von einem „mündigen Bürger“ aus, obwohl die Korrektheit dieser Annahme in der Forschung zur politische Kommunikation vielfach hinterfragt wird, und von einem Publikum die Rede ist, dessen Nutzungsverhalten rigoros nach seinen Alltagsinteressen gerichtet ist. (Schneider 1998: 428)
[3] Allerdings eine Macht ohne Sanktionspotential
[4] Wilhelm, Bernhard: Medienpolitik. In: Schiwy, Peter/Schütz, Walter, J. (Hrsg.): Medienrecht: Lexikon für Wissenschaft und Praxis. Neuwied 1994, S. 228-233. Zitiert nach Schneider 1998: 428 und Jarren 1998: 617
[5] Schatz, Heribert/Habig, Christopher/Immer, Nikolaus: Medienpolitik. In: Beyme, Klaus von/Schmidt, Manfred G. (Hrsg.): Ökonomie der Medien und des Mediensystems. Obladen 1990, S. 221-236. Zitiert nach: Jarren 1998: 616
[6] Zum Beispiel: negative Anreize gegen der Pressekonzentration oder positive Anreize zur Medien-Selbstkontrolle.
- Citation du texte
- Dipl.-Volkswirt (BA) Oliver Heiden (Auteur), 2002, Die Medienpolitik der ungarischen Regierungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62932
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