Die Befreiungstheologie ist und bleibt umstrittenes Thema innerhalb der katholischen Kirche. Nicht selten liest man gar negative Äußerungen des Papstes zu diesem Thema.
Es stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft zu der Diskussion steht bzw. stehen könnte. Ist der Dienst an den Armen, die Hilfe für die Dritte Welt nicht der "moderne Zugang" zur Christlichkeit schlechthin? Oder ist das Bekenntnis zur katholischen Kirche überhaupt nicht mehr notwendig, um die Werte der Befreiungstheologie zu schätzen und zu leben?
Im Kontext der zunehmenden Globalisierung und der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich soll diese Arbeit einschätzen, ob die befreiungstheologische „Option für die Armen“ Antwort auf das soziale Ungleichgewicht in der Welt und somit auch allgemein ethisch, nicht nur ekklesial, begründet sein kann.
INHALT
1. Einleitung
2. Begriff „Armut“
2.1 Armut allgemein
2.2 Das theologische Armutsverständnis
2.2.1 Mehrdeutigkeit des Begriffs
2.2.2 Politische Bedeutung
3. Befreiungstheologie
3.1 Medellin und Puebla
3.1.1 Option für die Armen
3.1.2 Kirche der Armen
3.2 Die Kirche als geschichtliches Befreiungssakrament
4. Ethische Begründungen der befreiungstheologischen Option für die Armen
4.1 Die Bevorzugte Option für die Armen außerhalb der Kirche?
4.2 Der Fähigkeiten-Ansatz nach Sen
4.3 Enrique Dussels Entwurf
5. Fazit
1. Einleitung
Die Schere zwischen Armut und Reichtum in der Welt klafft immer weiter auseinander und stellt, auch durch die Globalisierung, ein internationales Problem dar.
An die Kirche besteht die zunehmende Forderung, eine klare Position zu diesem Problem einzunehmen. In diesem Rahmen stellt sich die Frage, wie die Kirche die Armut sieht, die in der ganzen Welt Thema ist.
Hierzu stelle ich die Entwicklungen der Befreiungstheologie als Antwort auf dieses soziale Ungleichgewicht dar. Es gibt ekklesiale Begründungen dieser Theologie, jedoch, um sie international und pluralistisch zu vertreten, bedarf es auch einer grundsätzlichen ethischen Begründung.
In meiner Hausarbeit möchte ich zu einer solchen Begründung Thesen beleuchten und mit ihrer Hilfe beurteilen, ob die befreiungstheologische „Option für die Armen“ Antwort auf das soziale Ungleichgewicht in der Welt und somit auch allgemein ethisch, nicht nur ekklesial, begründet sein kann.
2. Begriff „Armut“
Um über das Problem „Armut“ zu referieren, ist es zunächst einmal notwendig, den Begriff an sich zu untersuchen. Wie bereits einleitend erwähnt zieht die Armut in unserer heutigen Gesellschaft immer weitere Kreise, so dass sie immer mehr und immer neueren Theorien unterliegt. Zunächst möchte ich hier einen kurzen Einblick in drei verschiedene Theorien zum allgemeinen Armutsbegriff anbringen, damit der/die LeserIn einen Eindruck über momentanen Stand und Komplexität zu der Begrifflichkeit erlangen kann.
Im darauffolgenden Teil spezifiziere ich dieses Begriffsverständnis in kirchlicher Hinsicht, das heißt ich stelle Aspekte zum theologischen Armutsverständnis dar. Um hier einen Bezug zum gesellschaftlichen Leben im Rahmen der Zielsetzung dieser Arbeit zu erhalten, wird die politische Bedeutung dieses theologischen Verständnisses konkret betrachtet.
2.1 Armut allgemein
Armut ist „eine Lebenslage von Individuen und deren Haushalten, bei der die Ausstattung mit Gütern und Dienstleistungen in einem oder mehreren Bereichen der Haushalts- und Lebensführung den menschlichen Minimalstandards nicht genügt.“[1]
Als Absolute Armut bezeichnet man die Unfähigkeit zur längerfristigen Sicherung der körperlichen Selbsterhaltung. Dieser Armutsbegriff bringt zwei Problembereiche mit sich. Zunächst ist es schwierig, diese Armut zu definieren bzw. ihre Grenze zu ziehen. Ansätze hierzu zeigt z.B. der Human Poverty Index. Der zweite Problemkreis deutet darauf, dass es in Westeuropa in der Folge an sich keine Armut mehr gäbe.
In unserer Gesellschaft wird davon ausgegangen, dass diese Form der Armut in den Industrieländern nicht mehr vorzufinden ist, was mit der sozialen Absicherung in unserem politischen System zusammenhängt. Deshalb siedelt man die Definition von Armut oberhalb der so genannten Armutslinie an und spricht bei uns von relativer Armut. Das physische Existenzminimum wird hierbei durch ein notwendiges Einkommen garantiert und damit die Grundbedingung des menschlichen Lebens befriedigt. Einen wesentlichen Punkt stellt also die Armut aus Mangel an Einkommen dar.
Hier zeigt sich, dass in den gängigen Konzepten zur Messung der Armut der Schwerpunkt auf der Erfassung von monetären Gütern liegt und nur mehr oder minder stark auf die diversen soziokulturellen Unterschiede eingegangen wird. Im Folgenden werden drei Konzepte relativer Armut vorgestellt: die Einkommensarmut, der Lebenslagenansatz und der Fähigkeitenansatz.
In der Armutsforschung ist die "relative Einkommensarmut" die Schlüsselkategorie bei der Beschäftigung mit Armut. Sie orientiert sich an der zu Beginn der 1980er Jahre von der EU-Kommission festgelegten Grenze von 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens im jeweiligen Mitgliedsland. Es handelt sich dabei um ein Ressourcenkonzept von Armut, weil in der Regel auf die Ausstattung mit Einkommen als einzige Ressource abgestellt wird.
Man spricht daher auch von einem "materiellen Einkommensbegriff" mit einem "eindimensionalem" Indikator, nämlich dem Einkommen. Ebenfalls häufig wird ersatzweise auf die Sozialhilfestatistik zurückgegriffen. Der Bezug von Sozialhilfe als laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ist hier der Indikator für Einkommensarmut. Der Mindestbedarf, den das Bundessozialhilfegesetz garantiert, gilt daher als quasi-offizielle Armutsgrenze und firmiert als strenge Armut. Er liegt mit geringfügig über 40 Prozent des gewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens pro Person mithin unter der oben genannten 50-Prozent-Grenze der Europäischen Union.
In der Fachdiskussion ist unstrittig, dass die Einkommensarmut die zentrale Dimension darstellt. Allerdings wird die ausschließliche Betrachtung des Einkommens nicht der Tatsache gerecht, dass Armut ein mehrdimensionales Problem mit sich wechselseitig bedingenden Facetten ist. Es werden daher weitere Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit einbezogen, die Aufschluss auf - neben der Einkommensarmut - weitere Unterversorgungslagen geben können. Der Lebenslagenansatz unternimmt den Versuch, eine Häufung bestimmter Unterversorgungslagen (z. B. die Kombination schlechte Wohnsituation/niedriger Bildungsabschluss) herauszufinden und so neben der rein materiellen Kategorie des Einkommens weitere nicht-materielle, kulturelle Indikatoren zu berücksichtigen und in Beziehung zueinander zu setzen. Insofern kann der Lebenslagenansatz auch als "mehrdimensional" gekennzeichnet werden.[2]
Der Fähigkeiten-Ansatz bezieht in das Verständnis von Armut die Entfaltungsmöglichkeiten und Lebenschancen jedes Menschen mit ein. Es ist ein Ansatz zur Bewertung der Lebensqualität, für den in der ökonomischen Theorie Amatya Sen den Weg gebahnt hat (erstmals erwähnt 1980) und der mittlerweile der den Human Development Report der UNDP große Bedeutung gewonnen hat.
Der Mangel an Fähigkeiten zu einer zentralen Tätigkeit ist im Extremfall so groß, dass die Person überhaupt kein menschliches Wesen (mehr ist) – wie im Fall schwerer geistiger Behinderungen oder bei Altersdemenz. M. Nussbaum modifiziert Sens Ansatz und priorisiert in diesem Rahmen jedoch eine höhere Stufe, ab der die Fähigkeit einer Person ‚wirklich menschlich’, das heißt eines Menschen würdig ist. So wird jeder Person Wert beigemessen. Hierzu führt M. Nussbaum eine Liste an, die die notwendigen Elemente eines wirklich menschlichen Tätigseins beinhaltet. Diese bestreitet nicht, dass die Inhalte in gewissem Umfang in verschiedenen Gesellschaften verschieden konstruiert sind, des Weiteren bleibt sie offen und veränderbar. Ihre Inhalte beziehen sich auf Zehn zentrale Punkte: Leben, Körperliche Gesundheit, Körperliche Unversehrtheit, Wahrnehmung, Vorstellungskraft und Denkvermögen, Gefühle, Praktische Vernunft, Soziale Zugehörigkeit, Andere Arten, Spiel und Gestaltung des eigenen Umfeldes (politisch und materiell).[3]
Die Ausführungen zeigen, dass es den Konzepten an Vielfalt und Komplexität nicht mangelt. Armut wird zunächst anhand harter Daten und Fakten gemessen. Ausschlaggebend werden in diesem Rahmen monetäre Werte und Güter, welche an willkürlich gesetzten Grenzen gemessen werden, um Arme von Nicht-Armen zu trennen. Je nach Ansatz kommen äußerst komplizierte Formeln zustande, welche bei dieser Kategorisierung jeweils den Anspruch der größtmöglichen Präzision erheben.
Der Fähigkeiten-Ansatz nach Sen bietet eine neue Perspektive in der Armutsbetrachtung. Er ist im Rahmen dieser Hausarbeit vor allem zur Argumentation der Begründungen für Armutsbekämpfung wichtig und wird deshalb in Kapitel 4 noch näher betrachtet.
2.2 Das theologische Armutsverständnis
Bei der Betrachtung eines Artikels zu Armut in einer theologischen Enzyklopädie, der Theologischen Realenzyklopädie beispielsweise, fällt auf, dass zunächst kein einfacher zusammenfassender Satz wie im Brockhaus zu finden ist. Der Artikel in der TRE, Ausgabe 1979, erstreckt sich über 52 Seiten und beginnt zunächst mit einer Erläuterung über die Problematik des Begriffsinhaltes: „ Bei der Frage, in welcher Weise die Armut in der Religionsgeschichte thematisiert wird, kommt es zunächst darauf an, einen Begriffsinhalt von „Armut“ zu finden, dessen Breite und Differenziertheit all jene Formen des Mangels zu umfassen vermag, demgegenüber die Religionen explizit Aussagen trafen, angesichts dessen sie bestimmte Verhaltensformen für verbindlich erklärt haben, dessen religiöse Bedeutung sie für gegeben hielten oder dessen Gründe religiös reflektiert wurde.“[4]
Das Zitat verdeutlicht die Komplexität des Begriffsverständnisses in der religiösen Lehre. Um einen Übersichtsverlust zu vermeiden und den Bezug zum Thema zu wahren, beschränke ich mich hier auf einen Beitrag des Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez zum Thema „Armut als Solidarität und Protest“ und gehe dabei auf die Problematik der Mehrdeutigkeit sowie die politischen Aspekte ein.
Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ist Auseinandersetzung mit dem Begriff Armut im spirituellen Bereich festzustellen mit dem Ziel, die Armut Christi als Vorbild zu erkennen, um zur Heiligkeit in einer von Reichtum und Macht besessenen Welt zu gelangen. Dies führte zu einer Konzentration auf biblische Texte mit der Armut Christi als Thema und im Verlauf zu immer gründlicheren exegetischen Untersuchungen. So entwickelte sich eine theologische Reflexion des Armutsbegriffes.
2.2.1 Mehrdeutigkeit des Begriffs
Die obigen Definitionen zeigen, dass unter dem Begriff Armut zunächst immer der materielle Aspekt aufgewiesen wird, d.h. der Mangel an den für ein menschliches Leben, das diesen Namen verdient, notwendigen wirtschaftlichen Gütern. Weiterhin herrscht Einigkeit darüber, das diese Armut bekämpft werden muss.
In christlichen Kreisen verfolgt man öfters die Tendenz, mit der materiellen Armut Positives zu assoziieren, sie gilt dann sozusagen als „Ideal“. Im Vergleich zu dem vorher aufgezeigten Armutsbegriff zeigt sich hier also ein widersprüchliches Verständnis, was in Diskussionen zu Missverständnissen führt. Die Tatsache, dass sich der Begriff der materiellen Armut in einer ständigen Entwicklung befindet, was die aufgeführten Konzepte und 2.1 zeigen, vereinfacht diese Situation nicht.[5]
Armut heißt konkret „Hungers Sterben, Analphabet sein, von den anderen ausgebeutet werden, dabei nicht einmal wissen, dass man ausgebeutet wird, ja sogar nicht ahnen, dass man Mensch ist“.[6] Armut wird unbestritten als etwas Untermenschliches verstanden.
In der heutigen Entwicklung ist eine Veränderung insofern zu verzeichnen, dass sich die Unterdrückten ihrer Situation bewusst werden und sich zum gemeinsamen Kampf dagegen organisieren.
Um die Begriffdifferenzierung heute als Quelle von Missverständnissen zu der Armutsthematik in der Kirche in klare Grenzen zu fassen, bleibt sich an dem Zitat Johannes XXIII. zu orientieren: „Für die unterentwickelten Länder stellt sich die Kirche, so wie sie ist und wie sie sein will, als eine Kirche aller dar, besonders aber als eine Kirche der Armen“.[7] Hier gilt die Interpretation als eine Armut im materiellen Sinne, gegen die man sich solidarisch zusammenschließen und kämpfen muss, so wie es die Vertreter der Theologie der Befreiung propagieren und mit der „Option für die Armen“ begründen.
Auf die Theologie der Befreiung und ihre Option gilt es noch einzugehen, jedoch soll zunächst, um den ekklesialen Rahmen dieser Arbeit überschreiten zu können, auch die politischen Aspekte des theologischen Armutsbegriffes erläutert werden.
2.2.2 Politische Bedeutung
Armut ist in der Bibel ein zentrales Motiv. Einmal gibt es den Gedankenstrank Armut als Skandal, als die Würde des Menschen ruinierendes, die dem Willen Gottes widerspricht. Die verwendeten Termini laufen auf eine energische Ablehnung der Armut hinaus. Hier kommt auch der Schuldbegriff ins Spiel, denn Arme gibt es, weil es Menschen gibt, die Opfer in der Hand anderer Menschen sind. Gegen die Armut sprechen des Weiteren drei Motive. Erstens widerspricht sie dem Sinn des Exodus. Zentral ist hier die befreiende Kraft Gottes, die Befreiung aus der Sklaverei. Durch diese Befreiungstat wird der Jahweglauben mit begründet. Zweitens verstoßen Sklaverei und Ausbeutung gegen den Schöpfungsauftrag. Der Mensch ist dazu bestimmt, die Erde zu beherrschen. Durch Umgestaltung der Natur findet er seine Verwirklichung. Eine Situation der Ausbeutung und Ungerechtigkeit verhindert dies und macht Arbeit zu etwas Entmenschlichendem. Drittens ist der Mensch nicht nur als Abbild Gottes, sondern auch als Sakrament Gottes geschaffen worden. Somit bedeutet Unterdrückung der Armen ein Attentat auf Gott selbst. Solange es Armut gibt besteht ein Bruch in der Solidarität der Menschen untereinander und in der Gemeinschaft mit Gott.[8]
[...]
[1] [Art.] Armut, in: Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 2 (2006), S.436-439.
[2] Vgl. Adamy, Wilhelm und Steffen, Johannes; Abseits des Wohlstands, Arbeitslosigkeit und neue Armut, Darmstadt 1998, S.94 f.
[3] Vgl. Nussbaum, Martha; Frauen und Arbeit – Der Fähigkeitenansatz, in: zfwu 4/1 (2003), 8-31.
[4] Vgl. Wissmann, Hans; [Art] Armut, in: TRE, Bd. 4 (1979), S. 69-72.
[5] Vgl. Gutiérrez, Gustavo; Theologie der Befreiung, München 1973, S.268-286.
[6] S. Ebd., S.271.
[7] Radiobotschaft vom 11. September 1962.
[8] Vgl Gutiérrez, Gustavo; Theologie der Befreiung, München 1973, S.268-286.
- Arbeit zitieren
- Isabelle Klein (Autor:in), 2006, Ethische Begründungen der befreiungtheologischen Option, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62907
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