Sein Werk "Tonio Kröger", 1903 in der "Neuen Deutschen Rundschau" 14/2 erstmals abgedruckt, bezeichnete Thomas Mann zuerst als "Novelle", später als "lyrische Novelle", dann als "Prosa-Ballade" und schließlich einfach als "Erzählung" (Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Tonio Kröger. In: Thomas Mann und die Seinen, Stuttgart 1987, S. 94). Als Novelle im klassischen Sinn kann man "Tonio Kröger" wohl nicht bezeichnen, da dieses Werk in seiner Struktur sehr von der üblicherweise streng komponierten Handlung abweicht, die sich zu einem außergewöhnlichen Ereignis verdichtet. Stattdessen werden Gefühle gestaltet, Sehnsucht durchzieht das Ganze, Entscheidungen werden oft in den inneren Monolog verlegt, und der gesamten Handlung mangelt es an Spannung. (Neubauer, Martin: Lektüreschlüssel Thomas Mann. Tonio Kröger, Stuttgart 2001, S. 21.) "Tonio Kröger" aber ist, so Marcel Reich-Ranicki, ebenso bewusst entworfen wie konsequent realisiert, was in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf Tonios Kunstbegriff, die evtl. Entwicklung der Auffassung Tonios von der Kunst sowie seiner Ästhetik, am Beispiel des sprachlichen Mittels der Ironie, untersucht werden soll.
Zeitlich einzuordnen ist "Tonio Kröger" in eine der Gegenbewegungen des Naturalismus, in die Décadence bzw. Fin de siècle (etwa 1890-1918). Während gegen Ende des Jahrhunderts ein Gefühl des Niedergangs vorherrscht, ("décadence" = Niedergang; fin de siècle = Ende des Jahrhunderts), gilt der Glaube an ein einheitliches Weltbild in der aufkommenden Massengesellschaft als längst zerbrochen. Lebensangst festigte sich als Grundstimmung in dieser kritischen Zeit. (Kohrs, Peter: Pocket Teacher Abi Deutsch. Berlin, 2001, S. 143.)
Bei "Tonio Kröger" geht es ferner nicht um ein moralisches Anliegen, sondern um die Form, um das literarische Kunstwerk als "ästhetisches Gebilde". Tonio vertritt hier einen l’art pour l’art - Ästhetizismus, da er Kunst als Selbstzweck sieht. Empfindungen fasst er als Lebenshingabe auf, als Verzicht auf ästhetische Distanz, die aus dem Werk etwas "Unironisches" und "Banales" (Mann, Thomas: Tonio Kröger, Frankfurt am Main, 38. Auflage 2001, S. 37.) werden lässt. Er sieht einen unvereinbaren Gegensatz zwischen Kunst und Leben. (Hermes, Beate: Lektürehilfen Thomas Mann. Tonio Kröger, Stuttgart, 9. Auflage 2002, S. 41ff.)
Gliederung
1. Einleitung
2. Der Kunstbegriff bei ‚Tonio Kröger’
2.1. Nietzsches Terminologie
2.2. Kunst vs. Bürgerlichkeit
3. Die Ästhetik Tonio Krögers
3.1. Leitmotivtechnik durch Antithesen
3.2. Das Mittel der Ironie
3.2.1. Technik der Entlarvung
3.2.2. Selbstthematisierung der Kunst
4. Schlussfolgerung
5. Literaturverzeichnis
6. Erklärung der / des Studierenden
1. Einleitung
Sein Werk Tonio Kröger, 1903 in der „Neuen Deutschen Rundschau“ 14/2 erstmals abgedruckt, bezeichnete Thomas Mann zuerst als „Novelle“, später als „lyrische Novelle“, dann als „Prosa-Ballade“ und schließlich einfach als „Erzählung“.[1] Als Novelle im klassischen Sinn kann man Tonio Kröger wohl nicht bezeichnen, da dieses Werk in seiner Struktur sehr von der üblicherweise streng komponierten Handlung abweicht, die sich zu einem außergewöhnlichen Ereignis verdichtet. Stattdessen werden Gefühle gestaltet, Sehnsucht durchzieht das Ganze, Entscheidungen werden oft in den inneren Monolog verlegt, und der gesamten Handlung mangelt es an Spannung.[2] Tonio Kröger aber ist, so Marcel Reich-Ranicki, ebenso bewusst entworfen wie konsequent realisiert, was in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf Tonios Kunstbegriff, die evtl. Entwicklung der Auffassung Tonios von der Kunst sowie seiner Ästhetik, am Beispiel des sprachlichen Mittels der Ironie, untersucht werden soll.
Zeitlich einzuordnen ist Tonio Kröger in eine der Gegenbewegungen des Naturalismus, in die Décadence bzw. Fin de siècle (etwa 1890-1918). Während gegen Ende des Jahrhunderts ein Gefühl des Niedergangs vorherrscht, („décadence“ = Niedergang; fin de siècle = Ende des Jahrhunderts), gilt der Glaube an ein einheitliches Weltbild in der aufkommenden Massengesellschaft als längst zerbrochen. Lebensangst festigte sich als Grundstimmung in dieser kritischen Zeit.[3]
Bei Tonio Kröger geht es ferner nicht um ein moralisches Anliegen, sondern um die Form, um das literarische Kunstwerk als „ästhetisches Gebilde“. Tonio vertritt hier einen l’art pour l’art - Ästhetizismus, da er Kunst als Selbstzweck sieht. Empfindungen fasst er als Lebenshingabe auf, als Verzicht auf ästhetische Distanz, die aus dem Werk etwas „Unironisches“ und „Banales“[4] werden lässt. Er sieht einen unvereinbaren Gegensatz zwischen Kunst und Leben.[5]
2. Der Kunstbegriff bei ‚Tonio Kröger’
2.1 Nietzsches Terminologie
Thomas Mann war kein philosophischer Literat im herkömmlichen Sinn. Die einzigen Philosophen mit denen er sich intensiv auseinandersetzte waren Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) und Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), welche gleichzeitig für sein Philosophieverständnis maßgeblich sind. Besonders die Genealogie der Moral (1887) Nietzsches ist bedeutend für Thomas Manns literarisches Schaffen.[6]
Eine Grundthese dieses Werks Nietzsches ist die Bedeutung der asketischen Ideale für bestimmte Gruppen wie Philosophen, Priester oder Künstler. In dieser Arbeit soll nun die Bedeutung für den Künstler im Vordergrund stehen. Dessen Aufgabe sei es, so Nietzsche, das asketische Ideal von seinem philosophischen Vorbild zu übernehmen und auf sein bloßes Werk, nicht jedoch auf sein Leben, zu übertragen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen wird ihm nicht zugestanden. Daraus folgt, dass Kunst und Leben sich ausschließen. Sinnlichkeit sei schädlich für das kreative und produktive Schaffen, doch gleichzeitig auch wichtigster Bestandteil des künstlerischen Werkes, die Essenz, die es wertvoll mache.[7]
Die Problematik der Kunst und Künstlerexistenz bei Thomas Mann ist derjenigen Nietzsches sehr ähnlich. Nach Thomas Manns eigenen Aussagen sei im Tonio Kröger das „Nietzsche Bildungselement“ zum ersten Mal in vollem Ausmaß zum Tragen gekommen und sollte „fortan vorherrschend bleiben“.[8] Nietzsches Einfluss ist daher auch in vielen literarischen Werken Thomas Manns spürbar. Zwecks Moralkritik weisen Manns Figuren jene Eigenschaften auf, die Nietzsche entlarvt und kritisiert, so z.B. Scheinmoral und Askese. Für Tonio fallen Askese und Künstlertum zusammen, doch findet er gerade in dieser Lösung nicht sein Glück. Sie trifft ihn sogar noch stärker. Denn das, was sein Leid beseitigen sollte, nämlich sich der Kunst zu verschreiben, wird für ihn eine Vorraussetzung für neues Leid. Zu stark lebt in ihm der Drang zur Normalität, „frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual [zu] leben, [zu] lieben und [zu] loben in seliger Gewöhnlichkeit“.[9] Die Schwächen der Figuren werden durchleuchtet und ein Scheitern ihrerseits ist unabdinglich. Dementsprechend ist Willensfreiheit auch nur eine Illusion. Der Mensch ist ebenso Gefangener wie Getriebener seiner selbst, er kann den Gegebenheiten, die sein Leben bestimmen, nicht entkommen.
So gelingt es Tonio bis zum Ende der Novelle auch nicht, den ersehnten Anschluss an das Leben zu gewinnen. Dieses Durchschauen der Illusionen bereitet ihm Ekel, man spricht von einem „Erkenntnisekel“, weil man schließlich am Grund der Dinge nicht den Geist, sondern ein Chaos an Willen entdeckt. Die Bezeichnung „Komik und Elend“[10] wird man für dieses Phänomen in vielen Werken Thomas Manns wieder finden.[11]
2.2 Kunst vs. Bürgerlichkeit
Während in den Kapiteln eins und zwei von Tonio Kröger der Held in seiner Beziehung zu seinen Altersgenossen, dem beliebten Hans Hansen und der heimlich geliebten, blonden Ingeborg Holm gezeigt wird, wird deutlich, dass Tonio aus der normalen, bürgerlichen Lebenswelt völlig ausgeschlossen ist. Im zweiten Kapitel vollendet sich, was im ersten bereits angedeutet wird. Etwa zwei Jahre nach den Erlebnissen mit dem blond-blauäugigen Hans verliebt sich Tonio in Inge, der er in der Tanzstunde begegnet. Er wirbt nicht um sie, wie er um Hans geworben hatte, denn er hat bereits gelernt, dass es zwischen ihm und den gewöhnlichen, unbeschwerten Menschen keine Verständigungsmöglichkeiten gibt. Entsprechend der veränderten inneren Situation Tonios änderte Thomas Mann auch die epische Gestaltung der Szene. Mit Hans konnte Tonio reden und agieren, auch wenn sie sich manchmal missverstanden. Eine Spannung ist also auf der geistig-seelischen Ebene gegeben. Zu Inge hingegen hat Tonio keinerlei Verbindung oder Kontakt, es kann kein Spannungsverhältnis entstehen. Die Beziehung ist einseitig. Daher finden Beschreibungen oder Schilderungen Tonios hier auch häufig in Form der erlebten Rede statt:[12] „Er verstand es so gut, dass Inge, die blonde, süße Inge, auf Herrn Knaak blickte, wie sie es tat. Aber würde denn niemals ein Mädchen so auf ihn selbst blicken?“[13]
[...]
[1] Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Tonio Kröger. In: Thomas Mann und die Seinen, Stuttgart 1987, S. 94
[2] Neubauer, Martin: Lektüreschlüssel Thomas Mann. Tonio Kröger, Stuttgart 2001, S. 21.
[3] Kohrs, Peter: Pocket Teacher Abi Deutsch. Berlin ²2001, S. 143.
[4] Mann, Thomas: Tonio Kröger, Frankfurt am Main, 38. Auflage 2001, S. 37.
[5] Hermes, Beate: Lektürehilfen Thomas Mann. Tonio Kröger, Stuttgart, 9. Auflage 2002, S. 41ff.
[6] Vgl. Seminar: Referat „Thomas Mann und die Philosophie Nietzsches“ von A. Binanzer u. A. Pientka (10.11.2004).
[7] Vgl. Seminar: Referat „Thomas Mann und die Philosophie Nietzsches“.
[8] Pütz, Peter: Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann, Bonn ²1975, S. 46ff.
[9] Tonio Kröger 67.
[10] Tonio Kröger 26.
[11] Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung, München ³1997, S. 98.
[12] Diersen, Inge: Thomas Mann. Episches Werk - Weltanschauung - Leben, Berlin 1975, S. 66f.
[13] Tonio Kröger 20.
- Quote paper
- Wiebke Vieljans (Author), 2005, Kunst als Akt der Distanzierung: Ironie als Ausdrucksmittel der Ästhetik in Thomas Manns 'Tonio Kröger', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62532
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