In der vorliegenden Arbeit wird die Organisationssoziologie von Michel Crozier und Erhard Friedberg, dargestellt in dem Band „Die Zwänge kollektiven Handelns: Über Macht und Organisation“, als ein Versuch gelesen, in die – gerade auch soziale – Unstrukturiertheit und scheinbare Verworrenheit und Undurchschaubarkeit organisationaler Gegenwart eine Struktur hineinzudenken. Wenn dabei von „Unstrukturiertheit“ und „Undurchschaubarkeit“ die Rede ist, dann ist damit keineswegs die Abwesenheit formaler Zwänge gemeint. Crozier und Friedberg versuchen vielmehr, jenseits formaler Regel- und Kontrollmechanismen die Frage zu klären, wie Organisationen, und der einzelne Akteur in ihnen, angesichts gegenwärtiger Unsicherheit und der Abwesenheit konkreter Verhaltensmaßstäbe funktionieren können.
In allgemein verständlicher Weise stellt die Arbeit im ersten Kapitel zunächst den spezifischen Blick der Autoren auf ihren Gegenstand vor und erläutert ihre zentralen Begrifflichkeiten. Im zweiten Kapitel werden konkrete Handlungssysteme beschrieben als verallgemeinerungsfähiges Pendant zum Spezialfall der Organisation. Das dritte Kapitel schließlich stellt Croziers und Friedbergs Konzept von Entscheidung und sozialem Wandel in konkreten Handlungssystemen vor.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Akteur, Organisation und Umwelt
1.1. Strategisches Denken und systemisches Denken
1.2. Macht und Spiele
1.3. Organisation und Umwelt
2. Das konkrete Handlungssystem
2.1. Das konkrete Handlungssystem und seine Bedeutung für die Analyse
2.2. Die strategische Analyse konkreter Handlungssysteme
2.3. Ein Beispiel
3. Entscheidungstheorie und sozialer Wandel im konkreten Handlungssystem
3.1. Rationalität von Entscheidungen
3.2. Wandel als Phänomen des Systems
4. Zusammenfassung und Fazit
Literatur
Einleitung
Die Welt dreht sich – und zwar immer schneller! So konstatierte 2003 ein Fernsehwerbespot des Mobilfunk-Anbieters E-plus. Die Pointe dabei ist nicht die Tatsache, dass der junge Mann in dem Spot sich wünscht, sie möge sich auch einmal um ihn drehen, sondern die Tatsache, dass jenes Faktum gerade in dem Moment wahrgenommen wird, in dem es sich offensichtlich zur latenten Qual entwickelt. Man denke nur an die hinlänglich bekannten Versuche, „Nachhaltigkeit“ in allen erdenklichen Varianten als Gegenbewegung zu der destruktiven Kraft, die der wirtschaftliche Wandel entwickelt hat, zu implementieren. Es wird versucht, an Werte wie Kontinuität, Familie, Traditionen anzuknüpfen um der Ratlosigkeit, ja der subjektiv empfundenen Orientierungslosigkeit der Gegenwart Einhalt zu gebieten und Momente von Routinen, Bekanntem, Simplifizierenden der steigenden Komplexität der Welt entgegen zu setzen.
Sich in einer Welt, die sich immer schneller dreht, in der die Gesetze des Marktes fast vollständig auf alle Lebensbereiche und die ganze Person der sozialen Subjekte zugreifen, Sicherheiten und Solidaritäten erodieren, Massen individualisiert, Gruppen marginalisiert und Arbeiten zunehmend subjektiviert werden, zu behaupten, stellt eine wachsende Herausforderung für Einzelne wie auch für Organisationen dar. Symptome gegenwärtiger Paradoxien und Pathologien sind beispielsweise mit den Begriffen „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“, „Erosion der sozialen Sicherungssysteme“, „Krise der Arbeit“, „Ausbeutung planetarische Ressourcen“ und dem verbalen Schlagstock „Globalisierung“ zu umreißen.
In der vorliegenden Arbeit soll die Organisationssoziologie von Michel Crozier und Erhard Friedberg, dargestellt in dem Band „Die Zwänge kollektiven Handelns: Über Macht und Organisation“, als ein Versuch gelesen werden, in die – gerade auch soziale – Unstrukturiertheit und scheinbare Verworrenheit und Undurchschaubarkeit organisationaler Gegenwart eine Struktur hineinzudenken. Wenn dabei von „Unstrukturiertheit“ und „Undurchschaubarkeit“ die Rede ist, dann ist damit keineswegs die Abwesenheit formaler Zwänge gemeint. Crozier und Friedberg versuchen vielmehr, jenseits formaler Regel- und Kontrollmechanismen die Frage zu klären, wie Organisationen, und der einzelne Akteur in ihnen, angesichts gegenwärtiger Unsicherheit und der Abwesenheit konkreter Verhaltensmaßstäbe funktionieren können. Hierzu entwickeln sie eine eigene Art der Analyse die versucht, die Trennung von Mikro- und Makroanalyseverfahren zu überwinden und beide Perspektiven in die Deutung mit einzubeziehen. Dazu dient ihnen die Unterscheidung zwischen strategischem und systemischem Denken. Hierbei handelt es sich nicht um das Denken der in einer Organisation handelnden Akteure, sondern um zwei komplementäre Analyseverfahren, also um eine Methode, die der Analyst, der wissenschaftliche Beobachter, anwendet. Daher kann auch das Bild, dass von einer Organisation entsteht, nicht ein subjektives, dem Bild der Akteure entsprechendes sein; im Gegenteil zeigt die Rekonstruktion, die der Analyst vornimmt, ein vom Standpunkt des Beobachters sichtbares Bild jener Strukturen, die „zu groß und zu komplex“ (S. 169) sind, als das der Akteur selbst, der in ihnen handelt, sie wahrnehmen könnte. Die Strukturen, welche die Autoren beschreiben, sind also gleichsam „von außen“ in die Organisation „hineingedacht“. Diese Formulierung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass den subjektiven Eindrücken der Akteure eine überragende Bedeutung zukommt.
Bevor jedoch auf diesen Aspekt eingegangen werden kann (vgl. Kapitel 2) muss zunächst der spezifische Blick von Crozier und Friedberg mittels des strategischen und des systemischen Denkens beschrieben werden.
1. Akteur, Organisation und Umwelt
Bevor ich mich der Frage zuwenden, wie das Verhältnis zwischen Akteur und Organisation bei Crozier und Friedberg beschrieben wird, muss eine grundsätzlichen Unterscheidung zwischen dem strategischen Denken und der Strategie des Akteurs getroffen werden, die das Werk implizit durchzieht: Bei der mit „strategischem Denken“ bezeichneten Strategie handelt es sich um die Denkweise, welche die Autoren anwenden, um das Verhältnis zwischen Organisation und Akteur aus der Perspektive des Akteurs zu fassen. Komplementär dazu entwickeln die Autoren ein „systemisches Denken“, mit dessen Hilfe das Verhältnis zwischen Organisation und Akteur aus der Perspektive der Organisation beschrieben wird (vg. Kapitel 1.2). „Strategisches“ und „systemisches Denken“ sind demnach analytische Verfahren des Wissenschaftlers. Die Strategie des Akteurs dagegen meint das konkrete Verhalten der Akteure innerhalb der Organisation. Indem die Autoren das Verhalten der Akteure als ein strategisches beschreiben, benennen sie zugleich eine grundsätzliche Prämisse ihrer Herangehensweise: nämlich die prinzipielle Freiheit des Akteurs, die ihm bei allen objektiven organisationalen Zwängen immer noch bleibt. Daher kann behauptet werden, dass das „strategische Denken“, also die Denkweise der Autoren, seinen Namen aus der Beobachtung der unabänderlichen Freiheit der Akteure ableitet.
1.1. Strategisches Denken und systemisches Denken
Wie oben bereits erwähnt betrachtet das strategische Denken das Verhältnis zwischen Organisation und Akteur aus der Perspektive des Akteurs, in dem es dessen Verhalten als ein prinzipiell freies in dem Sinne bezeichnet, dass der Akteur „ein autonom Handelnder ist, der berechnen und manipulieren kann und sich den Umständen … erfinderisch anpasst.“ (S. 27) Das Handeln des Akteurs in der Organisation wird als seine „Strategie“ beschrieben, mit deren Hilfe er Freiräume und Schwächen im System gezielt ausnutzen kann. In diesem Sinne ist seine Strategie, wie irrational sie auf den ersten Blick auch sein mag, in jedem Fall rational. Dabei meint „rational“ keineswegs ein klug durchdachtes, streng kalkuliertes Verhalten. „Daraus folgt, dass eine solche ´Strategie´ keineswegs mit dem Willen identisch ist, und dass sie auch nicht notwendig bewusst zu sein braucht“ (S. 34). Im Gegenteil läuft das strategische Handeln des Akteurs eher auf ein Nutzen von zufällig sich eröffnenden Möglichkeiten, von Gelegenheiten zur Verbesserung seiner Situation im offensiven Fall und auf die Erhaltung oder Erweiterung des persönlichen Handlungsfreiraums im defensiven Fall, hinaus. Daher ist auch die Rationalität seines Handelns oft erst im Nachhinein rekonstruierbar und erklärbar[1]. Was vordergründig unsinnig und ohne Sinn und Zweck erscheint, entpuppt sich bei nachträglicher Betrachtung, durch den Akteur selbst, den wissenschaftlichen Beobachter oder den Laien, als geschickte Strategie.
In dieser Perspektive erscheint der Akteur als ein geschickter Stratege, der sich die Systembedingungen für seine eigenen Ziele – Erhalt und Erweiterung des Handlungsfreiraums – zunutze macht. Allerdings warnen Crozier und Friedberg vor einer allzu rosigen Sicht auf die Situation des Akteurs. Auch jener Akteur mit den offensichtlich meisten Freiheiten und der größten Handlungsmacht muss sich den Zwängen den Systems beugen, wenn er seinen Freiraum erhalten und ausbauen will. Mit dem systemischen Denken führen die Autoren deshalb eine Denkweise in die Analyse ein, die das Verhältnis zwischen Organisation und Akteur aus der Perspektive der Organisation betrachtet. Auch hierbei handelt es sich um eine analytische Perspektive, die ihren Namen den empirischen Gegebenheiten verdankt; der Tatsache nämlich, dass bei aller Freiheit und Autonomie der Handlungsstrategie des Akteurs objektive, oft juristisch kodifizierte, aber auch informell-soziale Zwänge von der Organisation ausgehen, die der Akteur nicht ignorieren kann, sondern in Rechnung stellen muss, wenn er weiterhin Mitglied des Systems/der Organisation bleiben und seinen Freiraum erhalten oder erweitern möchte. Die Freiheit des Akteurs ist demnach prinzipiell begrenzt, aber niemals völlig aufhebbar. Beim strategischen Denken handelt es sich um ein induktives Vorgehen, bei systemischen dagegen um ein deduktives. Beide Denkweisen werden in den Begriffen „Macht“
und „Spiele“ integriert zu einem Blick auf die Organisation, die weder die Handlungsmacht der Akteure[2] noch den objektiven Zwangscharakter des Systems[3]
überbetont.
1.2. Macht und Spiele
Das Verständnis der Autoren von „Macht“ ist ein prozessuales. Für Crozier und Friedberg stellt sie sich nicht als das Attribut eines Akteurs dar: „Macht ist also eine Beziehung, … sie kann sich nur über den Austausch entwickeln, der zwischen den in einer solchen Beziehung engagierten Akteuren stattfindet“ (S. 39). Was ist hierunter zu verstehen? Für die Autoren konstituiert sich Macht nicht (nur) aus der hierarchischen Position eines Akteurs, sondern sie stellt eine Beziehung, einen Prozess dar. Das bedeutet zu allererst einmal, dass sie nicht per sé existiert, sondern in sozialen Austauschprozessen immer wieder neu hergestellt werden muss.
Wenn Akteure miteinander in eine Beziehung treten, so verfolgen sie damit bestimmte Ziele, die durchaus gegensätzlicher Natur sein können. Jeder Akteur bringt in die Beziehung bestimmte Ressourcen ein, die er als Tauschprodukte anbieten kann. Je mehr solcher Ressourcen er mobilisieren kann, umso stärker wird seine Position, seine Macht, gegenüber dem anderen an der Beziehung beteiligten Akteur. Solche Ressourcen bezeichnen Crozier und Friedberg als Trümpfe. Es muss sich nun die Frage stellen, wie solche Ressourcen beschaffen sein müssen, was also konkret in einer solchen Tauschbeziehung, die eine Machtbeziehung darstellt, getauscht wird. Es sind die Handlungsmöglichkeiten: „Denn A wird nicht bloß deshalb eine Machtbeziehung zu B aufnehmen, weil er seine Kräfte mit ihm messen will. Er hat eine genaueres Ziel: B zu einem Verhalten bringen, von dem seine eigene Handlungsfähigkeit [die Handlungsfähigkeit von A, Anmerkung: d.V.] abhängt“ (S. 41). Hier wird bereits ein den analytischen Blick von Crozier und Friedberg leitendes Verständnis sichtbar: die prinzipielle gegenseitige Abhängigkeit der Akteure voneinander.
[...]
[1] Wenn der Leser hier den Eindruck gewinnt, es werde etwas unsystematisch mit der Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten umgegangen, dann trifft dies durchaus zu. Die Frage, ob ein Handeln, dass erst im Nachhinein bewusst wird, als „Handeln“ bezeichnet werden kann, oder doch eher als „Verhalten“ bezeichnet werden müsste, kann hier nicht beantwortet werden. Die Autoren sprechen meist von „Handeln“, auch wenn dieses „Handeln“ nicht bewusst ist. Wenn sich also der Verhaltens-Begriff einschleicht, so möge der Leser dies als Indiz dafür nehmen, dass der Verfasser sich hier nicht mit den Autoren auf einer Linie sieht.
[2] vgl. Argyris (1970)
[3] vgl. etwa Adorno (1954)
- Citation du texte
- Merle Rehberg (Auteur), 2006, Zwang und Autonomie in konkreten Handlungssystemen - Ein Überblick über die Organisationssoziologie von Michel Crozier und Erhard Friedberg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62440
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