„Der Tango, der sich während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts im unteren, von Einwanderern majorisierten Sozialmilieu der Hauptstädte Argentiniens und Uruguays entwickelt hat, ist gleichzeitig eigenständige Musikform, Tanz und Lied.“
Die vorliegende Arbeit vertieft das im Seminar „Argentinien und Europa: Sarmiento, Borges, Sábato, Cortázar“ gehaltene Referat über die Ursprünge und die Entwicklung des Tango Argentino. Aufgrund ihrer landeskundlichen Ausrichtung befasst sie sich mit den sozialgeschichtlichen Hintergründen während seiner Entstehungszeit, anhand derer der Ruf des Tango als bordellhaft und verboten relativiert werden soll. Dazu werden vorerst die in Buenos Aires, der Geburtsstätte des Tango, herrschenden sozialen Verhältnisse mit ihren wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen näher beleuchtet. Hieran anschließend folgt ein kurzer Abriss über seine musikalischen und choreographischen Ursprünge. Im weiteren Verlauf geht es um die eigentliche Entwicklung des Tango und seine verschiedenen Epochen, die sog. Guardias. In diesem Zusammenhang wird auf die herausragendsten Musiker, Sänger und Textdichter sowie auf das verwendete Instrumentarium und die Liedtexte eingegangen. Abschließend wird anhand der Analogien zwischen der Bibliographie des bedeutendsten Tango- Sängers Carlos Gardel und der wichtigsten Epoche des Tango dargelegt, inwieweit diese Ausdruck der argentinischen Identität sind.
Abgesehen von Ferrer, Reichardt, Norese und unter Vorbehalt Aravenas scheint der Fundus wissenschaftlicher fundierter Literatur zum Tango eher spärlich. Obwohl es mir leider nicht möglich war, die von Norese zitierte argentinische Originalliteratur zu überprüfen, da sie weder in den Berliner Bibliotheken (noch in der Universitätsbibliothek Sevilla) erhältlich ist, habe ich sie - in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um eine Doktorarbeit der Universität Salamanca handelt und man daher von ihrer Richtigkeit ausgehen kann - in meine Arbeit übernommen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Wiege des Tango - Buenos Aires
2.1. Tango als Produkt der Lebenssituation der Arrabales-Bewohner
2.1.1 Die Wohnsituation in den Jahren 1880 bis 1920
2.1.2 Barrios de la orilla – La Boca
2.1.3 Vergnügungsstätten: Cafés, Theater, Zirkus, Academias
3. Die Ursprünge des Tango argentino/ríoplatense
3.1 Candombe
3.2 Habanera
3.3 Milonga
3.4 Tango andaluz
3.5 Die tänzerisch-choreographischen Ursprünge
3.6 Die Etymologie des Wortes Tango
4. Die Entwicklung des Tango argentino / ríoplatense
4.1. Das Instrumentarium
4.1.1 Das Bandoneón
4.2. Die Tangoperioden – Las Guardias
4.2.1 Guardia Vieja (1895-1917)
4.2.2 La Transición (1917-1920/25)
4.2.3 Nueva Guardia (1920/25- 1949/50)
4.2.4 Tercera Guardia (ab 1950 /55)
4.3. Tangotexte
4.3.1 Die Form
4.3.2 Der Inhalt und die sprachliche Form
5. Die Tangolegende Carlos Gardel
6. Schlusswort
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Der Tango, der sich während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts im unteren, von Einwanderern majorisierten Sozialmilieu der Hauptstädte Argentiniens und Uruguays entwickelt hat, ist gleichzeitig eigenständige Musikform, Tanz und Lied.“[1]
Die vorliegende Arbeit vertieft das im Seminar „Argentinien und Europa: Sarmiento, Borges, Sábato, Cortázar“ gehaltene Referat über die Ursprünge und die Entwicklung des Tango Argentino. Aufgrund ihrer landeskundlichen Ausrichtung befasst sie sich mit den sozialgeschichtlichen Hintergründen während seiner Entstehungszeit, anhand derer der Ruf des Tango als bordellhaft und verboten relativiert werden soll. Dazu werden vorerst die in Buenos Aires, der Geburtsstätte des Tango, herrschenden sozialen Verhältnisse mit ihren wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen näher beleuchtet. Hieran anschließend folgt ein kurzer Abriss über seine musikalischen und choreographischen Ursprünge. Im weiteren Verlauf geht es um die eigentliche Entwicklung des Tango und seine verschiedenen Epochen, die sog. Guardias. In diesem Zusammenhang wird auf die herausragendsten Musiker, Sänger und Textdichter sowie auf das verwendete Instrumentarium und die Liedtexte eingegangen. Abschließend wird anhand der Analogien zwischen der Bibliographie des bedeutendsten Tango-Sängers Carlos Gardel und der wichtigsten Epoche des Tango dargelegt, inwieweit diese Ausdruck der argentinischen Identität sind.
Abgesehen von Ferrer, Reichardt, Norese und unter Vorbehalt Aravenas scheint der Fundus wissenschaftlicher fundierter Literatur zum Tango eher spärlich.[2] Obwohl es mir leider nicht möglich war, die von Norese zitierte argentinische Originalliteratur zu überprüfen[3], da sie weder in den Berliner Bibliotheken (noch in der Universitätsbibliothek Sevilla) erhältlich ist, habe ich sie - in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um eine Doktorarbeit der Universität Salamanca handelt und man daher von ihrer Richtigkeit ausgehen kann - in meine Arbeit übernommen.
Anmerkung: Der besseren Lesbarkeit halber werde ich die in den Fußnoten bereits verwendeten Titel im Weiteren nur noch verkürzt angeben.
2. Die Wiege des Tango - Buenos Aires
„Por último, en conjunto es, espiritualmente hablando, un arte y un estado de ánimo propios del área cultural rioplatense, cuyo centro creador está en Buenos Aires con importantes proyecciones en Montevideo, Rosario, La Plata, Córdoba y sur del Brasil.”[4]
Die Meinungen der Forschungsliteratur gehen in Bezug auf die Festlegung des qualitativen und quantitativen Einflusses anderer Regionen auf den Tango zwar auseinander, fest steht jedoch, dass er wesentliche Impulse aus dem urbanen Kulturkreis von Montevideo erhielt und dort die gleiche Popularität erlangte wie im Gebiet von Buenos Aires. Ludwig erweitert daher die Bezeichnung Tango argentino zu Tango ríoplatense.[5]
„Ob der erste Tango in Buenos Aires oder aber in Montevideo getanzt wurde, ist seit langem Gegenstand einer lokalpatriotischen Polemik, in welche einzustimmen nicht ratsam ist. Generell scheint der uruguayische Beitrag zu diesem Musikgenre weitaus bedeutender, als gemeinhin bekannt.“[6]
Ich werde mich Allebrand anschließen und erst wieder bei der Klärung von Gardels Geburtsort auf diesen Streit zurückkommen. Ebenso wie der Großteil der Fachliteratur wird sich meine Darstellung soweit wie möglich auf die Entwicklung von Buenos Aires (B.A.) beschränken, dies jedoch der Einfachheit halber und ohne den uruguayischen Einfluss schmälern zu wollen.
Pedro de Mendoza gründete 1536 den Hafen Puerto de Nuestra Señora de Santa María del Buen Aire und führte das für die Region später so bedeutend werdende Vieh ein. Bis zum Beginn des Sklavenhandels im Jahre 1700 blieb Buenos Aires ein für die spanische Krone wirtschaftlich uninteressantes Dorf. 1810, in dem Jahr als Argentinien seine Unabhängigkeit erlangte, hatte die Stadt B.A. bereits 42.000 Einwohner, von denen zwei Drittel Weiße, ein Drittel afrikanischen Ursprungs und nur noch ein Prozent Indios oder Mestizen waren. Mit dem wachsenden Reichtum der Hafenstadt, stieg gleichzeitig ihre Einwohneranzahl kontinuierlich, und zwar innerhalb von dreißig Jahren von 1822 bis 1852 von 55.000 auf 85.000 Einwohner.[7] Die in der Stadt gelegenen Salzgewinnungsanlagen stellten einerseits die damals größte Industrie dar und andererseits den größten gesundheitsgefährdenden Faktor, was dazu führte, dass zwischen 1860 und 1870 die afrikanische Bevölkerung fast vollständig ausstarb. Durch die Expansion der Viehzucht und der Agrarwirtschaft wurde die indigene Bevölkerung bis zum Jahre 1880 fast restlos ausgerottet.[8]
Die für die La-Plata-Region und vor allem für ihre Hauptstädte extremste und daher bedeutendste demographische Expansion setzte jedoch erst seit Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, gefördert durch politische Programme der damaligen Regierung.
Innenpolitisch gesehen führten die Industrialisierungsprogramme zur Entwurzelung der Campesinos, denen daraufhin kein anderer Ausweg blieb, als in der Stadt nach einer besseren Lebenssituation zu suchen. Ebenso erging es den anderen Bewohnern der Pampa, den Gauchos. Durch das Einzäunen der Weideflächen wurde ihre Tätigkeit sinnlos. Seit der Kolonisierung der Spanier lebten die Gauchos am Rande der Gesellschaft, in der Einsamkeit der Pampa in völliger Freiheit.[9] Laut dem Zeitzeugen Lynch „a parecen en la escena en 1806”[10]. Der Musikhistoriker Vicente Gesualdo bestätigt ihr erstes Erscheinen zu Beginn der Revolution im Jahr 1810, denn dafür benötigte man:
„[...] reclutar la tropa de guerra entre esos elementos desheredados e incultos. Eran éstos los gauchos de las estancias pampeanas, los indios de los fondos montañeses, los esclavos de las casas señoriales, los mestizos de las rancherías suburbanas.”
Er fügt zugleich einen sehr interessanten, ihre Musik betreffenden Aspekt hinzu:
“Aquel espíritu democrático necesitaba intérpretes que cantaran la patria y la libertad: estos fueron los payadores que utilizando las formas poéticas del pueblo, cantaron para el pueblo los ideales de la revolución. Su verso fue el octosílabo de la métrica vulgar, su música la guitarra campesina.”[11]
Außenpolitisch betrachtet wurde die Einwanderungspolitik dermaßen forciert, dass „Rindviehexport und Einwandererimport […] die Pfeiler der nationalen Wirtschaft“[12] bildeten. Es grenzt schon fast an Sarkasmus, dass die Einwanderer mit den Viehtransportschiffen kamen und sich ihre Wohnsituation bei der Ankunft kaum von der einer Viehzucht unterschieden. In dem 1856 erlassenen Einwanderungsgesetz kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass Afrikanern, Asiaten und Roma und Sinti die Einwanderung verweigert und Europäern vereinfacht wurde. Dieser rassistische Ausschluss ist bezeichnend für die Länder des Cono Sur, die immer schon „weiß“ und möglichst „europäisch“ sein wollten. Mit diesem Jahr begann das für diese Region wichtigste Phänomen, das bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts andauerte: Die europäische Masseneinwanderung.[13] Die Immigration wurde jedoch in unkontrollierter und unqualifizierter Weise gefördert, was die Lebensbedingungen der Zugezogenen demonstrierten. Trotz der Förderung der europäischen Immigration wurden jene noch lange bis ins 20. Jh. hinein von den oberen Klassen diskriminiert[14].
Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an kamen Millionen von Italienern, Spaniern, Deutschen, Polen, Ungarn und Armeniern nach Argentinien und Uruguay, von denen sich die meisten in und um die Hauptstädte niederließen. Allein in den ersten dreißig Jahren (1857-1887) gelangten 850.000 von ihnen nach B.A.[15] Im Jahre 1887 machten sie über die Hälfte der Stadtbevölkerung aus, 30% von ihnen waren Italiener und 70% männliche Erwachsene.[16] Trotz einer hohen Rückwanderungsquote wuchs die argentinische Bevölkerung zwischen 1869 und 1914 von 1,7 auf fast 8 Millionen und die der Stadt B. A. einschließlich ihrer Vororte in der selben Zeit von 230.000 auf über 2 Millionen. Die aus den Provinzen Zugezogenen stellten 1895 lediglich 8% und 20 Jahre später 11% ihrer Einwohner dar. Das der demographischen Entwicklung entsprechende starke Wirtschaftswachstum war jedoch so sehr abhängig vom Weltmarkt, dass es bei jeder Krise zu schweren Einbrüchen kam, was bis 1929 anhielt. Der Industrialisierungsgrad und das Wohnungsangebot sowie die Herrschafts-verhältnisse glichen sich jedoch nicht an das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum an, was dazu führte, dass es weder genügend Arbeit noch ausreichende Wohnmöglichkeiten gab. Zudem verstärkte sich der Gegensatz vom Superreichtum einer 200-Familien-Sippschaft von Großgrundbesitzern und international verfilzter Finanz- und Handelsbourgeoisie zur restlichen in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Bevölkerung.[17]
Die aus politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen und demographischer Entwicklung resultierende Lebenssituation der armen Bevölkerungsschichten, die sich in den Vororten von B.A., den sogenannten Arrabales, sammelten und die Transformation der Stadt in ein „mosaico de nacionalidades que destruirá finalmente el laxo orden social existente, generando otra cultura“[18], stellten den sozio-kulturellen Nährboden dar, aus dem der Tango erwuchs.
2.1. Tango als Produkt der Lebenssituation der Arrabales-Bewohner
“El tango tradicional […] nace y crece „en las orillas“ y va a seguir vinculado con sus orígenes. […] Son el arrabal, o suburbio pobre de la ciudad, como franja geográfica básica; el conventillo o casa de vecindad como escenario concreto de las relaciones humanas glosadas en la letra; el café, espacio insustituible de la sociabilidad ciudadana; el cabaret o lugar de diversión nocturna, para quienes pueden acceder a él, como búsqueda de un imposible extrañamiento. Arrabal, conventillo, café, cabaret: la Gemütlichkeit burguesa está notoriamente ausente. […] Los cuatro ámbitos antes mencionados son públicos, y sustituyen el hogar propio por hogares artificiales y ficticios. […] Estar en el tango es estar en el mundo de la gran ciudad, es mirar desde fuera –como en el famoso “Cafetín de Buenos Aires” de Enrique Santos Discépolo (1948)- algo a lo que no se pertenece y que sin embargo resulta vagamente maternal. Es, en definitiva, un escenario impersonal para dramas intensamente personales.”[19]
In den Arrabales, denen zahllose Tangos gewidmet sind, vermischten sich die kulturellen Eigenarten europäischer, kreolischer und mestizischer Provenienz. Aus der Gemeinschaft zweier Welten gesellschaftlich Benachteiligter, der europäischen Immigranten und der ehemaligen Gauchos, entstand der Tango aus den drei stets präsenten Elementen des Alltags, der Musik, der Poesie und des Tanzes, die als Mittel der Konfrontation und Kommunikation dienten.[20]
Die enttäuschten Träume und Sehnsüchte der Einwanderer fanden in der nostalgisch-melancholischen Melodie des Tango ihren Ausdruck. Dieses Gefühl war das einzige, was die unterschiedlichen kulturellen Gruppen verband. Sie alle kamen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die jedoch fast immer unerfüllt blieb.
2.1.1 Die Wohnsituation in den Jahren 1880 bis 1920
“Desde lejos se te juna Yo no sé si es la mirada,
Pelandruna abacanada, La manera de sentarte,
Que has nacido en la miseria De vestir, de estar parada,
De un convento de arrabal, O ese cuerpo acostumbrado
Porque hay algo que te vende, A las pilchas de percal...”[21]
“El tema vivienda es dentro de los problemas sociales que nos plantea esta primera época en la creación y desarrollo del tango, uno de los más importantes.”[22]
Die untere Klasse versuchte, ihre Aggressionen aufgrund der Degradierung und Marginalisierung durch die Oberschicht sowie aufgrund ihrer schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kompensieren, indem sie von einer - in den Tangotexten besungenen - besseren und einfacheren Welt träumte. Leider sah die Realität in den ´ conventillos ` der Arrabales anders aus:[23]
“Un cuarto de conventillo, como se llaman esas casas ómnibus que albergan desde el pordiosero al pequeño industrial, tiene una puerta al patio y una ventana, cuando más; es una pieza cuadrada de cuatro metros por costado, y sirve para todo lo siguiente: es la alcoba del marido, de la mujer y de la cría, como dicen ellos en su lenguaje expresivo; la cría son cinco o seis chicos debidamente sucios; es comedor, cocina,despensa, patio para que jueguen los niños, sitio donde depositar los excrementos, a lo menos temporalmente, depósito de basura, almacén de ropa sucia y limpia si la hay, morada del perro y del gato, depósito de agua, almacén de comestibles, sitio donde arde a la noche un candil, una vela o una lámpara; en fin, cada cuarto de éstos es un pandemonium donde respiran, contra prescripciones higiénicas del organismo mismo, cuatro, cinco o más personas.”[24]
Dieses Zitat macht deutlich, wie eng und unhygienisch die Wohnsituation in den ‘conventillos’ war und lässt den Begriff als eine doch eher ironisch anmutende Adaptation des kastilischen Wortes ‘convento’ (“sucesión de pequeñas celdas o habitaciones alrededor de un patio”[25]) erscheinen. Ursprünglich waren sie für wohlhabende Großfamilien gedacht, die jedoch den südlichen Teil der Stadt verließen und, anstatt die dort herrschenden infrastrukturellen Probleme zu lösen, im Norden der Stadt ein neues „Reichenviertel“ in dem ehemaligen Arrabal Palermo gründeten. Die ‘conventillos’ verwandelten sich somit ohne jegliche baulich-sanitäre Veränderung in “Aufnahmelager” für den Immigrantenansturm[26]. Im Jahre 1878 gab es bereits 2.900 ´ conventillos `, in denen jeweils bis zu 100 Personen wohnten[27], das waren zwischen 1880 und 1900 26% der Einwohner B.A.s.[28] Der Staat unternahm weder etwas gegen den Wohnungsplatzmangel[29] noch etwas für die Verbesserung sanitärer Anlagen. Da unter diesen Hygienevoraussetzungen die Ansteckungsgefahr von Krankheiten gefördert wurde, breiteten sich schnell Epidemien aus.[30] Im südlichen Teil der Stadt, am Riachuelo befand sich zudem die gesundheitsgefährdende Salzgewinnungsindustrie, in der zwischen 1870-1880 die meisten der Arrabeles -Bewohner, die sog. ‘orilleros’, arbeiteten.[31]
“Vieja pared del arrabal, De mi niñez sin esplendor
Tu sombre fue mi compañera Mi amiga fue tu madreselva”[32]
Die Lebenssituation in den Arrabales war vor allem gekennzeichnet durch den Arbeitsplatz- und Frauenmangel und deren Folgen, der Kriminalität und Prostitution. Wie bereits erwähnt waren rund 70% der Einwanderer männlich, viele von ihnen mit einer Familie in ihrer Heimat, die später nachkommen sollte, was jedoch meist aus finanziellen Gründen unmöglich wurde. Die Berufsmöglichkeiten für Frauen waren so gering bzw. die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz so enorm, dass die Prostitution ihre einzige Überlebenschance blieb.
Y en la pública subasta como res que va a la feria
“Así fuiste ¡pobrecita! Donde un “caften” te arrastró;
Como vos muchas mujeres, engañadas, que llegaron
Y que como vos soñaron un edén artificial”[33]
Hierin lag jedoch nur der Beginn des damals größten international organisierten Frauenhandels der Welt, wovon der Bericht des englischen Reisenden Cunningham Graham aus dem Jahr 1870 ein eindrucksvolles Bild hinterlässt und gleichzeitig das schon damals erschreckende Ausmaß widerspiegelt:
“Ninguna pintura de Buenos Aires de esos días estaría completa sin una ojeada de soslayo a los templos de aquella diosa Nelena, que surgió de la espuma del mar, según los griegos, pero, según la Iglesia, tuvo su origen en el fango. ¿Quién podría fallar entre los dos conceptos? Seguramente pocas ciudades había mejor surtidas de materia prima, que aquella ciudad de los aires buenos. Los transatlánticos traían húngaras por decenas en cada viaje, y las demás naciones europeas no andaban a la zaga en esta labor pacífica de penetración de las ideas. A aquellas ventanas de la gran casa amueblada de la calle 25 de Mayo, se asomaban españolas, griegas, italianas, francesas, inglesas, mulatas con su catinga, judías, argelinas y muchachas del Paraguay.”[34]
So wie die Bordelle zur Befriedigung von sexuellen Bedürfnissen dienten, konnten andere Bedürfnisse wie das nach Nähe, hervorgerufen durch die Ferne der Heimat und die Einsamkeit der Großstadt, in den „cafés“ durch das Tanzen gestillt werden. Beide dieser menschlichen Grundbedürfnisse äußern sich im Tanz in der Verbindung von enger Umarmung mit anrüchiger Beinbewegung ebenso wie in den Texten selbst[35]:
„A ese paisaje y ese aislamiento geográfico, que habría contribuido al carácter solitario e introvertido del hombre del campo [el gaucho], la inmigración le agregó otra forma de la soledad, la del hombre que después e cruzar el Atlántico se encontraba en una ciudad donde las posibilidades de encontrar pareja eran sumamente escasas. […] lo que convirtió a la capital argentina en el más promisio mercado para la prostitución y el proxenestismo. En esas circunstancias, en ese ambiente y ante esas necesidades, nació el tango, como producto de la soledad.”[36]
Neben den negativen Folgen der Einwanderung, wie den extrem schlechten Lebensbedingungen in den Arrabales und der daraus entstehenden Unterwelt von Kriminalität und Prostitution, sieht Aravena jedoch auch folgende positive Aspekte:
„Sie vermittelte den Menschen neue Fähigkeiten und Begabungen, schuf neue Bedingungen für Kultur, Sprache, Sitten und Bräuche […]“[37], ausgelöst durch die in den Arrabales stattfindende Vermischung verschiedenster Kulturen. Entgegen einiger vorurteilsbehafteten Beschreibungen bestanden sie nicht nur aus messerschwingenden Compadritos und Zuhältern. Hier vermischte sich alles:
“Junto a los hombres y mujeres de trabajo, se mezclaban las prostitutas, los ladrones, los jugadores, los ‘cafishios’, los borrachos consuetudinarios, los guitarreros y cantores, sin suscitar, en apariencia, distanciamiento ni reproches ni repugnancia a las humildes familias del vecindario ni sorpresa a los chiquilines. Fue, en conjunto, una apretada sociedad marginal en cuyo seno se elaboraron nuevas formas de convivencia e inflexibles reglas de juego. En ese entorno se delinearon ciertos tipos sociales como: el malevo, el guapo, el ‘compadrito’, el ‘canfinflero’[38], el ‘macró’, el ‘caften’, el rufián, el alcahuete, la ramera, el atorrante[39], la ‘madama’, la percante[40], la ‘yira’[41], el ‘ciruja’[42], a quienes luego se agregó la milonguita, que se sumaban a los que daban forma local a viejas profesiones: los cuenteros, las adivinas, los escruchantes, los punguitas, los jugadores fulleros. Era, ciertamente, una sociedad marginal, pero inseparable y parasitaria del núcleo de la gran ciudad que se constituía al calor del enriquecimiento acelerado desbordando los marcos tradicionales.”[43]
Die Tatsache an sich, dass die Wiege des Tangos in den Arrabales liegt, war schon Grund genug für die argentinische Oberschicht, diesen zunächst abzuwerten und abzulehnen.[44] Seine volle Anerkennung von ihnen bekam er erst nach seinem Erfolg in Paris.
2.1.2 Barrios de la orilla – La Boca
“Barrio, barrio Viejo barrio,
Que tenés el alma inquieta Perdoná si al evocarte
De un gorrión sentimental, Se me pianta un lagrimón,
Pena, ruego, Que, al rodar por tu empedrao
Es todo el barrio malevo Es un beso prolongao
Melodía de arrabal. Que te da mi corazón.”[45]
Für die Bewohner der sich fragmentarisch konstituierten Stadt war ihr barrio ein fester Punkt im Leben, eine Art Refugium zum Ausgleich der Anonymität der Großstadt und der Entwurzelung. Daher stellt sich das arrabal im Tango als etwas Permanentes und Trostspendendes dar.[46]
“A todos esos grupos urbanos con un centro de trabajo y algunos comercios se los llama barrios, y a los más pobres: barriadas pero en todos la camaradería es fundamental.”[47]
Eines der für den Tango berühmtesten barrios ist das am Riachuelo, im Süden gelegene La Boca, in dem sich die Immigranten niederließen, die meisten von ihnen Italiener, v.a. aus Genova. Es war ein typisches Hafenviertel voll von Bars und Bordellen mit auf Pfeilern gebauten Häusern aus Holz und Blech, mitten im Industriezentrum, vom Stadtkern abgetrennt durch den Hafen und extrem niedrig auf Meeresspiegelhöhe gelegen:[48]
“El sistema de desagüe difiere del descripto para los demás distritos de la ciudad: es tan baja que los desagües son en realidad entradas de agua del río. Y pese a que constantemente está anegado, falta agua corriente en forma casi completa... la condiciones del barrio no eran las mejores, vivían en la Boca 38.164 personas –1895, más de la mitad de ellas –54%– extranjeras y de éstas el 72 % italianas, la mayor parte genoveses.”[49]
Dadurch dass in B.A. zur Entstehungszeit des Tangos die Prostitution (und damit verbunden das Verbrechen) wie in keiner anderen Stadt der Welt florierte, kann man davon ausgehen, dass der Tango in Bars und Bordellen gespielt und getanzt wurde, jedoch sollte man die Ursprünge des Tangos nicht darauf reduzieren. Denn wie bereits erwähnt vermischten sich in den arrabales die verschiedensten Lebensformen und es sollte nicht unterschlagen werden, dass auch sie zur Entstehung des Tangos beitrugen. Tango erwuchs und formte sich an allen Orten der Unterhaltung und des Vergnügens.
[...]
[1] Reichardt, D.: Tango. Verweigerung und Trauer. Kontexte und Texte, 1987, S. 15.
[2] “El objeto ‘tango’ se nos empezó a aparecer como muy significativo y rico. Y al mismo tiempo, muy rodeado de poesía, pero poco de investigación.”, in: Norese, M. R.: Contextualización y análisis del tango: sus orígenes hasta la aparición de la vanguardia, 2002, S. 21.
[3] “En los tres viajes que hice a Argentina en búsqueda de material, la Biblioteca Nacional, la Biblioteca del Congreso, el Archivo General de la Nación, el Archivo de la Ciudad de Buenos Aires, la Academia Nacional del Tango, y un largo etcétera fueron colaboradores , muy eficaces y lo que tanto se agradece... simpáticos.”, in: Norese, 2002, S. 17.
[4] Ferrer, H.: El libro del Tango. Crónica & Diccionario. 1850 -1977, 1977, S. 275.
[5] Vgl. Ludwig, E.: Tango Lexikon. Der Tango rioplatense, 2002, S. 503.
[6] Allebrand, R.: Tango. Nostalgie und Abschied. Psychologie des Tangos, 1998, S. 20.
[7] Vgl. Norese, 2002, S. 45 f.
[8] Vgl.: Ebd. S. 577.
[9] „[…] el carácter del gaucho argentino se forjó en la soledad de la pampa, […].“, in: Salas, H.: “El tango como reflejo de la realidad social”, 2000, S. 90.
[10] Lynch, Ventura R.: Folklore Bonaerense, Buenos Aires, Lajouane 1953 (primera edición de 1883) S. 15; zitiert nach: Norese, 2002, S. 76.
[11] Gesualdo, Vicente: Historia de la música en la Argentina, Buenos Aires, Editorial Beta, 1961, S. 223; zitiert nach: Ebd. S. 76 f.
[12] Reichardt, 1987, S. 45.
[13] Vgl. Aravena, J.: El Tango und die Geschichte von Carlos Gardel, 1998, S. 10.
[14] “Lejos de la idea bucólica de que esa inmigración fue recibida con los brazos abiertos, podemos constatar que la intolerancia existió contra ellos desde las clases altas.”, in: Norese, 2002, S. 578.
[15] Vgl.: Ebd. S. 104.
[16] Vgl.: Ebd. S. 578.
[17] Vgl. Reichardt, 1987, S. 42 f.
[18] Norese, 2002, S. 578.
[19] Lagmanovich, D.: “Las letras de tango en el sistema literario argentino posterior al Modernismo: continuidad y ruptura”, 2000, S. 116 f.
[20] Vgl. Aravena, 1998, S. 13.
[21] Margot (música de Carlos Gardel y José Razzano, letra de Celedonio E. Flores); zitiert nach: Norese, 2002, S. 152.
[22] Norese, 2002, S. 149.
[23] Ebd. S. 143.
[24] Wilde, Eduardo , Curso de Higiene Médica, en Obras Completas, tomo III Buenos Aires, Talleres Peuser, 1923, S. 29 f. Wilde médico de profesión, fue Ministro de Instrucción Pública con Julio A Roca y del Interior con Miguel Juárez Celman; zitiert nach: Ebd.: S. 149.
[25] Ebd. S. 148.
[26] Ebd. S. 145.
[27] Censo General de Población 1887. Archivo de la Ciudad; zitiert nach: Ebd. S. 134.
[28] Ebd. S. 149.
[29] “De acuerdo a un informe del Departamento Nacional del Trabajo, en 1915 más de la mitad (55%) de las familias obreras de la Capital vivía en una pieza, con un promedio de 4,1 habitantes; el 38,9% ocupaba dos habitaciones y el promedio bajaba a 3,1 personas; sólo el 0,7% de los trabajadores mostraba una proporción apropiada de dos personas por habitación. (“Boletín Departamento Nacional del trabajo”, Habitación Obrera en Buenos Aires, No. 1, 1915, S. 229–241).”, in: Ebd. S. 152.
[30] Ebd. S. 149 f.
[31] Ebd. S. 79.
[32] Madreselva (de Francisco Canaro), zitiert nach: Ebd. S. 143.
[33] El camino de Buenos Aires (música de Francisco Pracánico, letra de Luis Rubinstein); zitiert nach: Ebd. S. 104.
[34] in: Recalde, Héctor: Prostitutas Reglamentadas. Buenos Aires, CEAM, 1991, S. 74, zitiert nach: Ebd. S. 104.
[35] “La pobreza existía y uno de los pocos caminos para sobrevivir fue la prostitución. Primero nacional y poco organizada. Enseguida internacional y organizada en Mutuales, sobre todo de judíos polacos. La trata de blancas y las enfermedades venéreas se transformaron en una lacra que pesó en la ciudad. El tango toma este tema y lo exhibe extensamente. Los hombres solos sin patria, sin familia, sin hogar encuentran en los cafés un sustituto de todos los afectos perdidos. Esta temática es sentida muy hondamente y recogida por el tango en obras antológicas.”, in: Ebd. S. 578.
[36] Salas, 2000, S. 90.
[37] Aravena, 1998, S. 10.
[38] “canfinflero: hombre que explota a una sola prostituta”, in: Norese, 2002, S. 315.
[39] “atorrante: vago, sinvergüenza”, in: Ebd. S. 313.
[40] “percanta: mujer, amante”, in: Ebd. S. 323.
[41] “yirar: girar, callejear, dar vueltas”, in: Ebd. S. 325.
[42] “ciruja: el que recoge y comercia la basura”, in: Ebd. S. 316.
[43] Donadio, Marísa: La ciudad de las esclavas blancas. Buenos Aires, Instituto del tango, 1997, S. 59; zitiert nach: Ebd. S. 106.; Die Fußnoten zu den Begriffserläuterungen sind von mir hinzugefügt.
[44] “Por otra parte, creemos probado que el tango no fue prostibulario y prohibido. Que fue una creación del pueblo bajo, pobre y que sí fue rechazado por la elite cultural dominante.”, in: Ebd. S. 3.
[45] Melodía de Arrabal. (música de Carlos Gardel Letra de Le Pera y Battistella ); zitiert nach: Ebd. S. 136.
[46] Vgl. Ebd. S. 135 f.
[47] Ebd. S. 136.
[48] Vgl. Ebd. S. 137.
[49] Korn, Francis, Il Popolo Minuto, Buenos Aires, CEAL, 1992, p. 29; zitiert nach: Ebd. S. 137.
- Citation du texte
- Cora Scholz (Auteur), 2006, Tango argentino. Seine Ursprünge und soziokulturelle Entwicklung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61242
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