In dieser Arbeit werden zunächst die Basisinformationen über die jüngsten Ereignisse in der südamerikanischen Politik sowie jene über Bolivien als Staat referiert, dazu gehört auch ein Blick auf die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Der Wahlerfolg der neuen Akteure, gemeint sind damit die Movimiento al Socialismo (MAS) und der erste indigene Präsident des Landes, Evo Morales, ihre Forderungen, Inhalte und Eigenschaften seien im Folgenden dargelegt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hintergrund
2.1. Mitte-Links in Lateinamerika
2.2. Bolivien auf einen Blick
2.3. Historie
3. Aktuelle Entwicklungen
3.1. Stimmung und Ausgangslange
3.2. Die Partei MAS und ihre Führerfigur Morales
3.3. Charakteristika und Inhalte
3.4. Populist in Chompa?
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Aus Sicht der meisten Mitteleuropäer liegen Lateinamerika respektive Bolivien jenseits des Tellerrandes. Die dortigen Ereignisse halten nicht oft Einzug in die einschlägigen Print- und Fernseh-Medien in Deutschland, was angesichts der rein räumlichen Distanz verständlich ist. Auch ein ideelles Bündnis lässt sich kaum nachweisen, da Südamerika weder ein populäres Urlaubsland ist wie Spanien noch ein Exportriese wie China noch eine so genannte ‚Weltmacht’ wie die Vereinigten Staaten. Kurz gesagt: es gibt in vielfacher Hinsicht keine konkret (er)fassbare Nähe zwischen den Lebens- und Gedankenwelten eines Deutschen und eines Südamerikaners[1]. Transportiert werden daher jene Meldungen, die von Entführungen und Straßenkämpfen, von Protesten und extremer Armut berichten. Von Beginn dieses Jahres an liegen vermehrt Nachrichten aus Bolivien in deutschen Tageszeitungen vor, die eben jene Entwicklungen publizieren, die Thema dieser Arbeit sind. Eine Bestandsaufnahme in den etablierten Medienorganen Deutschlands zeichnet ein durchaus interessantes, wenn auch oberflächliches und vereinfachtes Bild: es gebe in Lateinamerika einen politischen Trend nach links, der besonders von finanziell schwachen Gesellschaftsgruppen unterstützt werde[2] ; dabei komme den protestbereiten Ureinwohnern eine besondere Bedeutung zu, die wiederum Kandidaten unterstützen, die von der europäischen Presse als im Vergleich mit Politikern westlicher Kulturen von der Norm abweichend wahrgenommen werden[3]. Auch wenn nur sehr schlagwortartige und plakative Informationen aus diesen Schlagzeilen zu destillieren sind, so ist doch Grundsätzliches über den am 22. Januar 2006 vereidigten Staatspräsidenten Evo Morales, Bolivien und den Populismus in Südamerika erkennbar. Morales wird präsentiert als indigener Debütant und Medienstar, als Mann des Volkes, Agitator, Populist und Traditionalist, er erfülle mit der Wiederverstaatlichung der Bodengüter lang gehegte Wünsche und sei Teil des Linkstrends in Südamerika – so lauten zumindest die Schlagworte.[4] Sie verdeutlichen, warum dieses Thema in Anbetracht der Zahl wissenschaftlicher Publikationen als auch der Menge von Zeitungsartikeln interessiert. Mit Blick auf die fünf verschiedenen Regierungen in acht Jahren und die durch Straßenproteste erzwungene Flucht zweier Präsidenten in zwei Jahren, formuliert Deckers die Faszination anzüglich-spöttisch: „[…] es hat fast etwas Frivoles, Bolivien eine Demokratie zu nennen.“[5] Davon abgesehen, dass diese Formulierung mit einem kritischen Fragezeichen zu versehen wäre, macht sie neugierig auf den Staat Bolivien und regt die Beschäftigung damit an. In dieser Arbeit seien zunächst die Basisinformationen über die jüngsten Ereignisse in der südamerikanischen Politik sowie jene über Bolivien als Staat referiert, dazu gehört auch ein Blick auf die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte. Der Wahlerfolg der neuen Akteure, gemeint sind damit die Movimiento al Socialismo (MAS) und der erste indigene Präsident des Landes, Evo Morales, ihre Forderungen, Inhalte und Eigenschaften seien im Folgenden dargelegt.
2. Hintergrund
2.1. Mitte-Links in Lateinamerika
Betrachtet man die Äußerungen und Anmerkungen in der aktuellen, darüber hinaus reichlichen Forschungsliteratur, so gewinnt man den Eindruck, dass vor allem die Suche nach den korrekten Ordnungsbegriffen die Gemüter bewegt. Die Entwicklungen in Lateinamerika seit dem Jahr 2000, sind sie „Umbruch [oder; d.A.] Neuanfang“[6], „der Anfang von etwas grundsätzlich Anderem oder nur die modifizierte Fortsetzung des Alten“[7], ist das „Gespenst des Linkspopulismus“[8] aufgetaucht, das eine Destabilisierung des gesamten Kontinents nach sich ziehen könnte, oder sind Demokratiekrisen[9] vorzufinden? „Das politische wie das ökonomische Lateinamerika der Gegenwart ist […] ein fragiles, anfälliges, vulnerables Gebilde, dessen Schicksal schwer prognostizierbar ist.“[10] Das klingt nach einer unentdeckten Krankheit und zwar einer schwer zu diagnostizierenden. Beginnend in etwa mit dem Jahr 2000 werden Stimmen laut, die von einer Rückkehr des Populismus nach Lateinamerika sprechen, dem so genannten Neopopulismus. Als Merkmale werden angesehen zum Beispiel die Wahlniederlage der traditionellen Partido Revolucionario Institucional in Mexiko 2000, der Sturz von Fernando de la Rúa 2001 in Argentinien und die Wahl Luiz Inácio Lula da Silvas 2002 in Brasilien (Mitbegründer der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores), die nun wieder beendete Präsidentschaft des Populisten Lucio Gutiérrez in Ecuador von 2002 bis 2005 sowie jene seit 1999 anhaltende des Linkspopulisten Hugo Chávez in Venezuela und nicht zuletzt die Wahl von Evo Morales 2005 in Bolivien.[11] Diese neopopulistischen Tendenzen in Form der Abkehr von traditionellen Parteien hin zu neuen Akteuren lösen den klassischen Populismus der Jahre 1940 bis 1960[12] ab und unterscheiden sich in Teilen von ihm, beispielsweise wendet sich der Neopopulismus weniger gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern vielmehr gegen Korruption und vermeintliche Privilegien in den Oberschichten. Als Folge der allgemeinen Unzufriedenheit gelangen die hier angeführten „Außenseiter, Newcomer, selbst ernannten Retter des Vaterlandes“[13] an die Macht. Wirtschaftliche Stagnation und der Anstieg von Arbeitslosigkeit und Armutsquote in Lateinamerika seit 1997/1998 bilden den Nährboden.[14] Allerdings sind die derzeitigen Regierungen in den einzelnen Staaten des Subkontinents nicht widerspruchslos dem Sammelbegriff Neopopulisten und Linkspopulisten zuzuordnen. Die Gemeinsamkeiten der ‚progressiven’ Regierungen reichen nicht weit[15], beispielhaft seien Ziele, Auftreten und Herkunft genannt. So sind die chilenische Mitte-Links-Regierung unter der Sozialistin Michelle Bachelet und der gemäßigte Populist Néstor Kirchner nur schwer gleichzusetzen mit dem Amerika freundlich gestimmten Alvaro Uribe in Kolumbien oder dem Fidel Castro-Verbündeten Hugo Chávez. Ein allgemeingültiger Trend hin zum Links- oder Neopopulismus in Lateinamerika lässt sich bei genauerem Hinsehen sehr differenziert und in unterschiedlicher Radikalität und Ausdrucksart finden. Auch die Darstellungen, die „Andine Revolutionen“ und indigenen Protest[16] zur Diskussion stellen (und dabei einschränken, dass die „Indios nicht interessiert [seien, d.A.], Revolutionäre zu werden“[17] ) und eine Instrumentalisierung der indigenen Bevölkerung zum Zweck „einer Zerschlagung des Systems und des Aufbaus eines kommunistisch-orientierten Inkaismus“[18] beobachten, können nicht stellvertretend für die Ereignisse in ganz Lateinamerika angesehen werden. Beispielweise hat sich bei der Stichwahl in Peru am 4. Juni 2006 der Linksnationalist Ollanta Humala[19] von der Partido Nacionalista Peruano nicht gegen den Sozialdemokraten Alan García durchsetzen können. Ein Linkstrend ist also erkennbar, aber in Optik und Inhalt von Staat zu Staat verschieden.
2.2. Bolivien auf einen Blick
Die República de Bolivia verfügt über ein Präsidialsystem, d.h. der Präsident ist Staatsoberhaupt und Regierungschef zugleich. Das Zweikammerparlament (Congreso Nacional) besteht aus dem Senat mit 27 und Abgeordnetenhaus mit 130 Mitgliedern[20]. Das Land ist in neun Departamentos eingeteilt, die wiederum in Provinzen und Kantone untergliedert sind. Erstere werden jeweils von einem Präfekten geführt, der seit 2005 vom Volk gewählt wird. Bolivien gilt als das ärmste Land Südamerikas und ist im Vergleich mit den Nachbarstaaten der größte Empfänger von Entwicklungsgeldern aus Deutschland[21]. Die Fläche des Landes ist drei Mal so groß wie die Deutschlands, verfügt aber nur über knapp zehn Prozent der Einwohnerzahl, nämlich 9,5 Millionen Menschen. 43 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land[22], wobei anzumerken ist, dass 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen von Großgrundbesitzern verwaltet werden[23]. Die Einwohnerschaft setzt sich zu 65 Prozent aus Indígenas, also Ureinwohnern, und zu 35 Prozent aus Mestizen[24] und Weißen (Criollos) zusammen[25]. Bolivien ist daher geprägt von ethnischer Vielfalt. Neben dem Spanischen sind indigene Landessprachen wie Quechua und Aymara offiziell anerkannt. 60 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Kindersterblichkeit Boliviens ist mit 66 pro 1000 Geburten in Südamerika die höchste Rate[26]. Laut Schätzungen sind sieben Prozent der Kinder unter fünf Jahren bzw. 23 Prozent der Gesamtbevölkerung unterernährt.[27]
[...]
[1] Ahrens weist beispielhaft auf den divergenten Umgang mit dem Irak-Krieg als mediales Produkt hin; vgl. Norbert Ahrens, Irak: Südamerikanische Medien, Abruf http://www.journalismus.com/aktuell/kommentare/20030310.html am 22. Juli 2006.
[2] Vgl. die Überschriften „Südamerikanischer Linksschwenk“ in F.A.Z. 112 15. Mai 2006, S. 1; „Wachstum mit links“ auf http://www.zeit.de/2006/20/Lateinamerika_xml; „Die Rache der Armen“ auf http://stern.de/politik/ausland/559656.html?q=Rache%20der%20Armen%20Lateinamerika.
[3] Vgl. die Überschriften „Ein Pullover geht um die Welt“ auf http://www.morgenpost.de/content/2006/01/22/politik/805779.html; „Des Präsidenten neuer Pulli“ http://www.faz.net/s/RubB62D23B6C6964CC9ABBFCB78BC047A8D/Doc~E598EAB293C1A43478EC94A40B4A37148~ATpl~Ecommon~Scontent.html; in Hinblick auf die Bekleidung des Präsidenten fragt Jan Ross in DIE ZEIT „Was hat das zu bedeuten?“, http://www.zeit.de/2006/06/Gew_8ander_06.
[4] Vgl. Juan Forero, The Fashion of the Populist, The N.Y. Times 2. Februar 2006.Paulo A. Paranagua, Amérique latine La bascule à gauche, Le Monde 14. April 2006. Edna Fernandes, 'Don't be scared' Bolivia tells companies after gas grab, Times Online (UK), 2. Mai 2006.
[5] Daniel Deckers, Leitglosse. Aufstand, F.A.Z. 20. Dezember 2005, S. 1.
[6] Dieter Boris/Albert Sterr, Die Rückkehr der Caudillos. Populismus und Neopopulismus in Lateinamerika, Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2003), S. 334-344, hier S. 334.
[7] Dieter Boris, Der Neoliberalismus und die Volksbewegungen. Wohin geht die Entwicklung in Lateinamerika, Wissenschaft und Frieden 2 (2006), S. 6-9, hier S.6
[8] Thomas Cieslik, Linkspopulismus in Lateinamerika, Liberal. Vierteljahreshefte der Friedrich-Naumann-Stiftung für Politik und Kultur 2 (2006), S. 47-50, hier S. 47.
[9] Manfred Mols, Lateinamerika – Hinterhof der USA oder ‚global player’?, Politische Studien 407 (2006), S.70-79, hier S. 71; siehe auch Jörg Husar/Günther Maihold, Demokratiekrisen in Lateinamerika. Bolivien und Venezuela als Testfälle für das demokratische Engagement der internationalen Gemeinschaft, SWP-Aktuell 25 (2005), S. 1-8; Jonas Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie? Die Krise der Politik in Bolivien und Ecuador und die Rolle der indigenen Bewegungen, HSFK-Report 6 (2004).
[10] Mols 2006, S. 71
[11] Boris/Sterr 2003, S. 334. Siehe auch Ursula Prutsch, Politische Inszenierungen in Lateinamerika. Revolutionäre, Magie und politische Utopie – Getulio Vargas, Juan und Eva Perón, Hugo Chávez und Subcomandante Marcos, in: Axel Borsdorf et. al. (Hgg.), Lateinamerika im Umbruch. Geistige Strömungen im Globalisierungsstress, Innsbruck 2001, S. 129-140, hier S. 134f.
[12] Ein Beispiel ist der von Juan Perón initiierte Peronismus in den 1940er und 1950er Jahren in Argentinien, Nikolaus Werz, Alte und neue Populisten in Lateinamerika, in: Ders. (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 45-64, hier S. 45, S. 48f; siehe auch María Moira Mackinnon (Hg.), Populismo y neopopulismo en America Latina, Buenos Aires 1999.
[13] Boris/Sterr 2003, S. 335.
[14] Boris/Sterr 2003, S. 334.
[15] Husar/Maihold 2005, S. 5
[16] Siehe die Überschriften bei Stefan Jost, Indigener Protest in Bolivien. Ziele einer radikalisierten Indígena-Bewegung, KAS-Auslandsinformationen 1 (2005), S. 57-78, und Berthold Weig, Andine Revolutionen? Indígenas, Politik und Institutionenschwäche in Bolivien und Ekuador, KAS-Auslandsinformationen 9 (2005), S. 94-106.
[17] Weig 2005, S. 104.
[18] Weig 2005, S.94.
[19] Christian Schmidt-Häuer, Der dritte Mann., DIE ZEIT 15 6. April 2006, S. 10f.
[20] Bureau of Western Hemisphere Affairs, Background Note: Bolivia, Abruf http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/35751.htm am 26. Juli 2006.
[21] 2005: 25,5 Millionen Euro; vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Abruf http://www.bmz.de/de/laender/partnerlaender/bolivien/profil.html am 26. Juli 2006. Siehe auch Husar/Maihold 2005, S. 8.
[22] Goedeking weist darauf hin, dass darunter keine „Idylle“ von abgelegenen Dorfgemeinschaften zu verstehen ist, sondern die Realität der Gesellschaft verbundener und an ihr interessierter Siedlungen, Ulrich Goedeking, Partizipation und Blockade. Über das Funktionieren von Demokratie in Bolivien, in: Karin Gabbert et al. (Hgg.), Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte 29. Neue Optionen lateinamerikanischer Politik, Münster 2005, S. 96-110, hier S. 97f. Vgl. Aktionsprogramm 2015 der Bundesregierung, Abruf http://www.aktionsprogramm2015.de/www/armutbekaempfen_bolivien_profil_97_14_0_f.htm am 26. Juli 2006.
[23] Vgl. Konflikte um Boliviens Böden. Eliten ignorieren Rückgabepflicht, Abruf http://www.welthungerhilfe.de/832.html am 26. Juli 2006.
[24] Als Mestize bezeichnet man ein Kind mit je einem indianischen und einem europäischen Elternteil; siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Mestize.
[25] Vgl. die Informationen auf den Seiten des Auswärtigen Amtes; Abruf http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laender/Bolivien.html am 26. Juli 2006.
[26] Zum Vergleich liegt die Kindersterblichkeitsrate in Deutschland bei etwa 0,5 Prozent.
[27] Library of Congress – Federal Research Division. Country Profile: Bolivia. (Januar 2006), S. 10, Abruf http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/profiles/Bolivia.pdf am 26. Juli 2006.
- Arbeit zitieren
- Kristine Greßhöner (Autor:in), 2006, Neopopulismus in Lateinamerika - Das Beispiel Bolivien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61128
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.