Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem sozialen Verhalten von Kindern im Grundschulalter unter besonderer Berücksichtigung von Kinderfreundschaften und sozialer Diskriminierung. Die zu Grunde gelegten Theorien berufen sich hauptsächlich auf die Arbeiten von Hanns Petillon. Petillon lehrt seit 1994 als Professor am Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter/Grundschulpädagogik der Universität Landau und hat einen seiner Forschungsschwerpunkte auf das soziale Lernen gelegt. Im ersten Kapitel befasse ich mich ausschließlich mit dem sozialen Verhalten bei Grundschulkindern. Ich werde erläutern, warum soziales Lernen in der Grundschule von besonderer Bedeutung ist und welche Chancen es eröffnet. Ich werde der Frage nachgehen, welchen Effekt soziales Lernen in der sozialen Entwicklung hat. Die Schulklasse wird dabei als soziales System verstanden, das bestimmte Normen und Strukturen hat. Das zweite Kapitel setzt sich mit den sozialen Erfahrungen von Kindern in der Grundschule auseinander. Ich werde aufzeigen, mit welchen Sozialereignissen Kinder zum Schulanfang konfrontiert werden. Soziale Beziehungen spielen dabei eine besondere Rolle: Kinder bilden Freundschaften und haben dabei schon eine differenzierte Vorstellung darüber, was Freunde in ihren Augen sind. Doch was sind Freundschaften aus Sicht des Kindes? Dieser Frage werde ich nachgehen, indem ich zwei unterschiedliche theoretische Ansätze und ausgewählte Forschungsergebnisse vorstellen werde. Das dritte Kapitel befasst sich mit der sozialen Diskriminierung in der Grundschule. Wie entstehen Führung und Außenseitertum und warum sind diese soziometrischen Extrempositionen innerhalb des sozialen Systems der Klasse so stabil und nur schwer „auflösbar“? Ich werde Ursachen nennen, die die Entstehung von Außenseitertum begünstigen und stabilisieren. Die Integration von Außenseitern gestaltet sich aus diesem Grunde als schwierig. Dennoch ruft Petillon die Lehrerschaft auf, nicht aufzugeben und pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, durch die es Außenseitern gelingen könnte, nicht nur akzeptiert, sondern auch respektiert zu werden. Ich werde am Ende meiner Arbeit kurz auf die von Petillon vorgeschlagenen pädagogischen Möglichkeiten zur Integration von Außenseitern eingehen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Soziales Verhalten bei Grundschulkindern
1.1 Notwendigkeit und Chancen Sozialen Lernens in der Grundschule
1.2 Effekte sozialen Lernens
1.3 Die soziale Entwicklung des Kindes im Grundschulalter
1.4 Soziales Verstehen und Handeln
1.5 Schulklasse als soziales System/ Schulische Ökologie und soziales Lernen
1.5.1 Grundlagen der Rollentheorie
1.5.2 Normen
1.5.2.1 Formelle Normen
1.5.2.2 Informelle Normen
1.5.3 Klassenklima
2 Soziale Erfahrungen in der Grundschule
2.1 Sozialereignisse beim Schulanfang
2.2 Soziale Beziehungen zum Schulanfang
2.3 Welchen Einfluss nimmt die Schule?
2.4 Freundschaften aus Sicht des Kindes
2.4.1 Der inhaltsorientierte Ansatz
2.4.2 Der strukturalistische Ansatz
2.4.3 Ausgewählte Forschungsergebnisse Petillons
2.4.4 Individuelle Voraussetzung zur Entstehung von Freundschaften
3 Soziale Diskriminierung in der Grundschule
3.1 Führung und Außenseitertum
3.1.1 Ursachen für die Entstehung und Stabilisierung von Außenseitertum
3.1.2 Integration von Außenseitern anhand ausgewählter pädagogischer Möglichkeiten
3.1.2.1 Einzelfallhilfe
3.1.2.2 Veränderung des sozialen Kontextes „Schulklasse“
3.1.2.3 Elternarbeit
Schlussbemerkung
Literatur
Vorwort
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem sozialen Verhalten von Kindern im Grundschulalter unter besonderer Berücksichtigung von Kinderfreundschaften und sozialer Diskriminierung. Die zu Grunde gelegten Theorien berufen sich hauptsächlich auf die Arbeiten von Hanns Petillon. Petillon lehrt seit 1994 als Professor am Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter/Grundschulpädagogik der Universität Landau und hat einen seiner Forschungsschwerpunkte auf das soziale Lernen gelegt.
Im ersten Kapitel befasse ich mich ausschließlich mit dem sozialen Verhalten bei Grundschulkindern. Ich werde erläutern, warum soziales Lernen in der Grundschule von besonderer Bedeutung ist und welche Chancen es eröffnet. Ich werde der Frage nachgehen, welchen Effekt soziales Lernen in der sozialen Entwicklung hat. Die Schulklasse wird dabei als soziales System verstanden, das bestimmte Normen und Strukturen hat.
Das zweite Kapitel setzt sich mit den sozialen Erfahrungen von Kindern in der Grundschule auseinander. Ich werde aufzeigen, mit welchen Sozialereignissen Kinder zum Schulanfang konfrontiert werden. Soziale Beziehungen spielen dabei eine besondere Rolle: Kinder bilden Freundschaften und haben dabei schon eine differenzierte Vorstellung darüber, was Freunde in ihren Augen sind. Doch was sind Freundschaften aus Sicht des Kindes? Dieser Frage werde ich nachgehen, indem ich zwei unterschiedliche theoretische Ansätze und ausgewählte Forschungsergebnisse vorstellen werde.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der sozialen Diskriminierung in der Grundschule. Wie entstehen Führung und Außenseitertum und warum sind diese soziometrischen Extrempositionen innerhalb des sozialen Systems der Klasse so stabil und nur schwer „auflösbar“? Ich werde Ursachen nennen, die die Entstehung von Außenseitertum begünstigen und stabilisieren. Die Integration von Außenseitern gestaltet sich aus diesem Grunde als schwierig. Dennoch ruft Petillon die Lehrerschaft auf, nicht aufzugeben und pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, durch die es Außenseitern gelingen könnte, nicht nur akzeptiert, sondern auch respektiert zu werden. Ich werde am Ende meiner Arbeit kurz auf die von Petillon vorgeschlagenen pädagogischen Möglichkeiten zur Integration von Außenseitern eingehen.
1. Soziales Verhalten bei Grundschulkindern
Das folgende Kapitel befasst sich mit dem sozialen Verhalten bei Grundschulkindern. Zu Beginn erläutere ich dabei die Notwendigkeit und die Chancen sozialen Lernens in der Grundschule. Es soll erklärt werden, warum es so wichtig und notwendig ist, dass Grundschüler mit den Methoden sozialen Lernens konfrontiert werden müssen. Aus der Notwendigkeit der Vermittlung sozialer Kompetenzen entspringen Chancen um positiv in die Entwicklung der Kinder einzuwirken und sie kompetenter im Umgang mit anderen Menschen zu machen. Diese Effekte des sozialen Lernens werden im zweiten Unterkapitel erläutert. Um das soziale Lernen der Grundschulkinder fördern zu können muss man entwicklungspsychologische Voraussetzungen der Kinder berücksichtigen. Schließlich soll erläutert werden, wie sich aggressives und prosoziales Verhalten entwickeln kann.
1.1 Notwendigkeit und Chancen Sozialen Lernens in der Grundschule
Die Notwendigkeit sozialen Lernens in der Grundschule ist unbestritten. Kindheit und Jugend werden mehr von der Schule geprägt als früher. Durch die in der Schule gegebenen Interaktionsbedingungen wird die Entwicklung sozialen Handelns entscheidend beeinflusst. Das soziale Lernen erscheint als pädagogische Aufgabe besonders bedeutend. Hanns Petillon geht von veränderten Lebensbedingungen und demnach auch veränderten Anfangsbedingungen für die Grundschule aus.1Die Lebenswelt der Vorschulkinder verlagert sich zunehmend von „außen“ nach „innen“. Petillon zitiert hierbei verschiedene Autoren, welche zum einen das Medium Fernsehen dafür verantwortlich machen. Das Fernsehen wird als ein Grund für den Wechsel des Erfahrungsraumes angesehen. Es ist ein Medium, welches lediglich rezipiert wird und hat sich als konkurrierende Sozialisationsinstanz etabliert.2Die übliche soziale Entwicklung kann so verzögert werden, wenn davon gegangen wird, dass Fernsehen anderen Tätigkeiten vorgezogen wird. Einer solchen pauschalisierten Aussage kann ich jedoch nicht zustimmen. Richtig ist, dass übermäßiger Fernsehkonsum sowohl die geistige als auch die körperliche Entwicklung eines Kindes hemmen kann. Untersuchungen zu diesem Thema ergeben jedoch, dass eine völlige Abkehr von dem Medium Nachteile mit sich bringt. Mediennutzung ist nicht nur mit Risiken behaftet, sondern auch mit Chancen, was natürlich eine gewisse Qualität der Medienprodukte voraussetzt. Ob und in welchem Maße Kinder von Medienereignissen profitieren, hängt auch davon ab, wie sehr sie seitens der Eltern und in der übrigen Umgebung privilegiert sind. Ulrike Six, Christoph Frey, Roland Gimmler und Kerstin Thibaut gehen davon aus, dass „[…] Kinder, die stärker gefördert werden, […] auch Medien - relativ zu anderen Kindern - eher zu ihrem Vorteil [nutzen], indem sie als aktive Rezipienten die Inhalte adäquater, tiefer und letztlich erfolgreicher verarbeiten.“3Indem man Kindern Medienkonsum verbietet, haben diese Kinder nicht die Chance, den richtigen Umgang mit Medien zu lernen. Sowohl die Risiken, welche von Medienwirkungen ausgehen, als auch für die Ausschöpfung positiver Möglichkeiten, ist Medienerziehung von Kindern notwendig.
Ein weiteres Argument für den Wandel der Lebensverhältnisse und den damit verbundenen Verlust sozialer Erfahrungen sind zunehmende Verunsicherungen bei der Grenzziehung in der Erziehung. Eltern scheuen die daraus folgenden Konfrontationen mit ihrem Kind. Dem Kind „[…] entgehe […] die Chance einer angemessen Adaption an das Umfeld.“4Dem Kind bleiben so Erfahrungen im Umgang mit Widerständen und das Ertragen von Frustrationen verwehrt.
Die Interaktion mit Gleichaltrigen fördert die Entwicklung des Sozialverhaltens und trägt wesentlich zum Selbstverständnis bei.5Innerhalb der Familie spielt die Interaktion mit Gleichaltrigen jedoch immer weniger eine Rolle, da immer mehr Kinder innerhalb einer Kernfamilie (Mutter, Vater, Kind) aufwachsen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Eltern (oder ein Elternteil) bemüht sind, den Kontakt zu anderen Kindern „herbeizuführen“. Kindertagesstätte, aber auch Spielgruppen, Spielplätze und Sportvereine geben Kindern die Möglichkeit mit anderen Kindern in Kontakt zu treten.
Prinzipiell kann man sagen, dass sich ein Wandel in der Art und Weise der Aneignung vollzogen hat. Kenntnisse und Fähigkeiten werden eher konsumierend und mediatisiert, verbunden mit einem Verlust an Eigentätigkeit erworben.6
Verbunden mit diesem Wandel kann man auch davon ausgehen, dass sich das Sozialverhalten der Kinder im Grundschulbereich verändert hat. Befragungen haben ergeben, dass von den GrundschullehrerInnen besonders die zunehmende Aggressionsbereitschaft wie auch eine starke Ich-Bozogenheit beobachtet und als belastend empfunden wird. Es mangelt den Grundschulkindern an der elementaren Anpassungsfähigkeit. Die Kinder sind immer weniger dazu bereit, die Bedürfnisse des Gegenübers wahrzunehmen oder sich gar in diesen einzufühlen und kompromissbereit zu handeln.7
Genau hier kommt die Notwendigkeit des sozialen Lernens im Grundschulbereich zum Ausdruck. Aufgrund der veränderten Lebensbedingungen der Kinder und der daraus resultierenden Defizite an sozialen Erfahrungen kommt der Grundschule eine ausgleichende Funktion sozialer Erfahrungen zu. Die Grundschule erweist sich dabei als besonders geeignet, da das Kind und die Gruppe zum Schulanfang „[…] vor der Aufgabe [stehen], eine neue, häufig schwer überschaubare soziale Situation zu bewältigen. Die Phase der Genese struktureller, normativer und klimatischer Gruppenbedingungen für das soziale Lernen des einzelnen Schülers bietet zugleich besonders günstige pädagogische Gelegenheiten, um Voraussetzungen zu schaffen, die eine befriedigende soziale Entwicklung in der Gleichaltrigengruppe gewährleisten könnten.“8In besonderer Weise könnten pädagogische Möglichkeiten im Sinne eines Austausches von sozialen Erfahrungen sowie Kooperation und Toleranz genutzt werden. Im Rahmen der sozialkognitiven Entwicklung finden im Verlauf der Grundschulzeit Lernprozesse statt, die den Erwerb bedeutsamer Kompetenzen und Handlungsorientierungen betreffen. Solche Kompetenzen können in der Grundschule besonders gefördert werden, indem Kinder zum sozialen Handeln angeregt werden. Frühere Sozialerfahrungen im Leben eines Kindes sind für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung. Auch aus diesem Grund sollte das soziale Lernen im Grundschulbereich gefördert werden. Dem/Der KlassenlehrerIn kommt dabei eine besondere Aufgabe zu: ihm/ihr eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten auf die Situation des einzelnen Kindes und die in der Gruppe einzugehen.
1.2 Effekte sozialen Lernens
Die Benennung von Effekten 9sozialen Lernens gestaltet sich als recht vage und nicht eindeutig festlegbar. Es handelt sich dabei lediglich um vermutete Wirkungszusammenhänge, welche erklärt und theoretisch klassifiziert werden. Betrachtet man die Diskussionen über soziale Lernziele, kann man feststellen, dass sich diese in der Regel auf erwünschte, nicht aber bewiesene Effekte sozialen Lernens, beziehen. Sind die Ziele (oder die erwünschten Effekte) formuliert, werden pädagogische Interventionen erörtert, die sich in Sozialereignissen konkretisieren. In Prozessen sozialen Lernens sollen diese pädagogischen Interventionen zu den gewünschten Effekten führen. Den impliziten Wirkungszusammenhängen fehlt es jedoch weitgehend an theoretischen und empirischen Grundlagen. Es fehlen Untersuchungen, welche die Wirkungen von Spielangeboten, unterschiedlichen Sozialformen und den Schulalltag mit seinen Sozialereignissen aufzeigen.
Besonders problematisch, so Petillon, „[…] erweist sich dabei auch die Frage, welche Zeitspanne in die Betrachtung des Ereignis-Wirkungs-Gefüges eingeschlossen werden soll.“10 D.h. die Schwierigkeit festzustellen, welches Ereignis genau welchen Effekt hervorgerufen hat. Man begnügt sich aus diesem Grund bei der Benennung von Effekten mit der Unterscheidung „[…] nach Wirkungen, die die Person selbst, das Beziehungsrepertoire (als transaktionaler Effekt) und die Ökologie betreffen.“11Außerdem unterscheidet man zwischen kurz- oder langfristigen Effekten. Haben soziale Ereignisse einen Effekt bei einer Person „ausgelöst“, bildet dies die Voraussetzung für weitere soziale Ereignisse und Effekte. Auf Ebene der Person kann zwischen Erfolg und Misserfolg stabilisierenden Effekten unterschieden werden. Erfolge bei der Auseinandersetzung von Sozialereignissen kann Erfolgszuversicht bei Personen auslösen. Soziale Kompetenzen werden erweitert und eine damit verbundene günstigere Situation in einzelnen Beziehungen oder in der Gruppe bewirkt. Für den zukünftigen Bewältigungsprozess können solche Erfolge förderlich sein, da sich ein hohes Maß kognitiver Sicherheit, mit zukünftigen Ereignissen erfolgreich umzugehen und dabei auf psychische und soziale Ressourcen zurückgreifen zu können, entwickelt. Misserfolge können andererseits dazu führen, dass negative Sozialerfahrungen in einer Weise zusammenwirken, die dem Betroffenen die Möglichkeiten positiver sozialer Lernerfahrungen weitgehend entziehen. Petillon formuliert in seinem Buch „Das Sozialleben des Schulanfängers“ folgenden Katalog übergreifender Zielbereiche für soziales Lernen:12
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3 Die soziale Entwicklung des Kindes im Grundschulalter
Schmidt-Denter definiert soziale Entwicklung folgendermaßen: „Dieser Entwicklungsbereich bezieht sich im weitesten Sinne auf die Veränderung der Beziehungen eines Individuums zu anderen Menschen oder zu einer Gruppe von Menschen.“13 Für die soziale Entwicklung bei Kindern im Grundschulalter ist die Entwicklung der Rollenübernahme fundamental.
„Immer wenn Menschen in Beziehung treten, interpretieren sie Motive, Gefühle, Absichten, Ziele, Erwartungen und Standpunkte der Handlungspartner. Um diese Interpretationen vornehmen zu können, muß das Subjekt über die Fähigkeit verfügen, die Perspektive des andern einzunehmen, eine Situation (einschließlich der eigenen Stellung darin) mit den Augen des Anderen zu sehen bzw. aus der Perspektive des anderen zu rekonstruieren, um so das Verhalten des Anderen verstehen und vorhersagen zu können. Insofern wird über Prozesse der Rollenübernahme die Teilhabe am sozialen Geschehen überhaupt erst möglich.“14
Erweitert und konkretisiert werden die im Zitat genannten Überlegungen zur Rollenübernahme von Selman15. Bei ihm wird das Konzept der Perspektivübernahme eingeführt Das Konzept der Perspektivübernahme „[…] umfasst wesentlich das sich zu entwickelnde Verständnis dafür, wie verschiedene Blickwinkel zueinander in Beziehung stehen und miteinander koordiniert werden.“16Es schließt dabei „[…] das sich entwickelnde Verständnis der intrinsischen Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen mit ein.“17Dabei wird „soziales Verstehen“ erworben und bildet die Grundlage für jegliche individuelle Bewältigungsprozesse (d.h. sowohl für den interpretierenden Umgang mit sozialen Phänomenen als auch Identitätsfindung).
Petillon entwickelt vier Entwicklungsstufen (Niveaus) von sozialem Verstehen:
Niveau 0: Undifferenzierte und egozentrische Perspektivübernahme (ungefähr 3- 8 Jahre)
Niveau 1: Differenzierte und subjektive Perspektivübernahme (ungefähr 5-9 Jahre)
Niveau 2: Selbstreflexive/ Zweite Person- und reziproke Perspektivübernahme (ungefähr 7-12 Jahre)
Niveau 3: Dritte Person- und gegenseitige Perspektivübernahme (ungefähr 10-15 Jahre)
Er geht dabei von folgenden grundlegenden Annahmen aus:
- dass sich Entwicklungsstufen in qualitativer Hinsicht voneinander unterscheiden;
- dass diese Stufen eine invariante Entwicklungssequenz bilden;
- dass verschiedene Stufensysteme ein strukturiertes Ganzes bilden; und
- dass die Stufen hierarchisch geordnet sind.
Anhand der dargestellten Entwicklungsstufen für die soziale Perspektivübernahme wird deutlich, wie notwendig es bei einer entwicklungsgemäßen pädagogischen Intervention ist, sowohl die hinter beobachteten Handlungen stehenden Aspekte des sozialen Verstehens, als auch den Entwicklungsstand der Kinder zu berücksichtigen.
Die Entwicklung des moralischen Urteils geht einher mit der Entwicklung sozialer Perspektivübernahme. Es wird angenommen, dass sich ein Kind seine soziale Umgebung durch soziale Perspektivübernahme strukturiert. Mit der Fähigkeit, sich in andere Personen „hineinzuversetzen“ befähigt sich das Kind auch, ein moralisches Urteil zu fällen. Die Entwicklung des moralischen Urteils ist wiederum an der Überwindung des Egozentrismus gekoppelt: Im egozentrischen Stadium der heteronomen Moral gelten Regeln und Gesetze als unabänderlich. Das Moralverständnis entwickelt sich hin zum Stadium der autonomen Moral, in dem Gesetze und Regeln als soziale Übereinkünfte erkannt werden.
Damon18nennt das „Gerechtigkeitskonzept“. Ein weiteres Konzept zur Entwicklung sozialen Verstehens, welches parallel zur Entwicklung des moralischen Urteils und der Perspektivübernahme stattfindet. Mit dem „Wissen über soziale Regulierungen“ und der „Reziprozität“ nennt Petillon weitere Konzepte zur Entwicklung sozialen Verstehens. Der Begriff Reziprozität „[…] meint dabei einen Zustand oder ein Ideal, das auf das Ziel ausgewogener Beziehungen zustrebt; dabei sind solche Beziehungen durch Prozesse des Aufeinanderabstimmens und durch das Prinzip des Austauschs gekennzeichnet.“19 Reziprozität findet sich auf den einzelnen Entwicklungsstufen in einer niveau- und themenspezifischen Ausprägung.
Zusammenfassend formuliert Petillon: „Das konkrete Handeln ist also nicht nur vom Entwicklungsstand des Kindes, sondern auch vom Zweck und der Funktion des sozialen Ereignisses im Kontext spezifischer ökologischer Bedingungen bestimmt.“20
1.4 Soziales Verstehen und Handeln
Es werden Zusammenhänge zwischen sozial-kognitivem Entwicklungsstand und sozialem Handeln vermutet. Diese Zusammenhänge erweisen sich jedoch als gemäßigt: sinnvoll ist es den sozial-kognitiven Entwicklungsstand als wesentlichen, aber jedoch nicht hinreichenden Baustein zur Erklärung sozialen Handelns zu sehen. Andere Teilparameter, die in komplexer Weise miteinander verknüpft sind, müssen in ein entsprechendes Handlungsmodell einbezogen werden.21Das soziale Handeln einer Person zu erklären, gestaltet sich als recht schwierig. Was fehlt, ist das Bindeglied zwischen den subjektiven Zielbestimmungen und dem tatsächlichen Handeln. Darüber hinaus sind die Handlungen, die spontan oder geradezu „automatisch“ erfolgen, für das soziale Handeln von großer Bedeutung. „Molcho (1988) spricht von „unbewusstem Denken“ als elementare Voraussetzung des Empfangs und Verarbeitens von Informationen. In sozialen Begegnungen sind blitzschnelle Entscheidungen zu treffen. Entsprechende Entscheidungsfragen könnten beispielsweise lauten: Gute Absicht - schlechte Absicht? Stärker - schwächer? Kontakt meiden - Kontakt suchen? Und so weiter.“22Diese Fragen müssen blitzschnell gestellt und beantwortet werden, denn im nächsten Augenblick müssen schon Entscheidungen getroffen werden. Diese Entscheidungen vollziehen sich so schnell, dass man von unbewusstem Denken sprechen kann. Der Mensch bildet kognitive Muster oder Systeme, welche zu einer vereinfachten Orientierung führen. Für Interaktionsabläufe werden Arten von „Spielregeln“ entwickelt, welche verbindlich sind. Man geht dabei von erwartbaren Regelmäßigkeiten innerhalb der Interaktion aus, sodass eine gewisse „Sicherheit“ gewährleistet ist.23
Die soziale Entwicklung muss über kognitive Aspekte hinaus auch emotionale Entwicklungen mit einschließen. Unausweichlich sind Sozialereignisse auch von Emotionen wie Freude, Wut, Trauer, Zuneigung, Ablehnung etc. geprägt. Diese Gefühle spielen für das Wohlbefinden und den Verlauf der kindlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle. Mit Beginn des Lebens wird ein Kind mit einem komplexen Feld von Emotionen konfrontiert, die der Deutung bedürfen. Zugleich bringen sie eigene Gefühle in soziale Beziehungen ein und signalisieren individuelle Deutungen und Handlungsabsichten, welche wiederum von anderen Personen gedeutet werden müssen und eine Reaktion hervorrufen. Emotionen und emotionale Entwicklung des Menschen sind jedoch wenig erforscht. Viele Untersuchungen befassen sich mit der Empathie. „Empathie versetzt das Kind in die Lage, Informationen über emotionale Aspekte zu erhalten, die für die Unvorhersagbarkeit des Verhaltens besonders verantwortlich sind. Mit solchen empathischen Fähigkeiten können kognitive Prozesse unterstützt und gefordert werden, indem sie Mehrdeutigkeiten im Verhalten entschlüsseln.“24
1.5 Schulklasse als soziales System/ Schulische Ökologie und soziales Lernen
Schulische Ökologie soll das individuelle Erfahrungsfeld aus Sicht eines Kindes rekonstruieren.
[...]
1 Vgl. Petillon, Hanns: Soziales Kernen in der Grundschule. Anspruch und Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 5-8.
2 Ebd. S. 6
3Six, Ulrike/ Frey, Christoph/ Gimmler, Roland/ Thibaut, Kerstin: Medienerziehung im Kindergarten. Theoretische Basis und empirische
Ergebnisse. In: Handbuch Medien: Medienerziehung früh beginnen. Themen, Forschungsergebnisse und Anregungen für die Medienbildung von Kindern. Hrsg. Von Stefan Aufenanger/ Ulrike Six. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2001, S.13
4. Petillon, Hanns 1993, S.5
5Vgl. Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie.4. Auflage, Weinheim 1998
6Vgl. Petillon, Hanns 1993, S.5
7Ebd., S.7
8 Ebd., S. 7
9 Vgl. Petillon, Hanna 1993, S.51-53
10 Petillon, Hanns 1993, S. 52
11 Ebd., S. 52
12 Petillon, Hanns: Das Sozialleben eins Schulanfängers. Die Schule aus Sicht des Kindes. Weinheim 1993
13 Schmidt-Denter, U.: Soziale Entwicklung. Ein Lehrbuch über soziale Beziehungen im Laufe des menschlichen Lebens. München 1988, S. 3
14 Petillon, Hanns 1993, S. 57
15 Selman, R.L.: Stages in role-taking and moral judgment as guides to social intervention. In: T. Lickona (Hrsg.): Man and morality. New York 1974.
16 Petillon, Hanns 1993, S. 57
17 Ebd.
18 Vgl. Damon,W.: Struktur, Veränderlichkeit und Prozeß in der sozialkognitiven Entwicklung des Kindes. In: W Edelstein & Jürgen Habermas (Hrsg.): Soziale Interaktion und soziales Verstehen. Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz. Frankfurt 1984, S. 63-112.
19 Petillon, Hans 1993, S. 63
20 Ebd., S. 64
21 Vgl. Ebd., S. 65
22 Ebd.
23 Ebd., S. 67
24 Ebd., S. 68
- Quote paper
- Andrea Fuchs (Author), 2005, Soziales Verhalten bei Grundschulkindern unter besonderer Berücksichtigung von sozialer Diskriminierung und Bildung von Freundschaften, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60879
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