In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weckt der explosionsartige Wissenszuwachs in den Naturwissenschaften bei Schriftstellern die Befürchtung, sich mit der Literatur der falschen Sache verschrieben zu haben. Das Echo dieser Angst reicht bis weit ins 20. Jahrhundert. Es macht sich insbesondere auch in den Geisteswissenschaften bemerkbar, wie im Werk Levi-Strauss’, der, an die Fortschritte in der Phonologie anknüpfend, die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften weiter annähert. Ein frühes Kind dieser Angst ist der programmatische Naturalismus. Er will die exakte Wiedergabe des realen Gegenstands, unterscheidet sich vom Realismus aber erstens durch seine Stützung auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse der Zeit. Das dient der Literatur einerseits zur eigenen Legitimation, andererseits als heuristisches Prinzip, i. e. als Mittel zur wissenschaftlichen Analyse des Menschen und seines sozialen Körpers. Die Handlungsmodelle der Naturalisten sind demnach biologistisch-deterministisch: Die Herkunft, „die Gene“, die Natur determinieren das Individuum in seinem Verhalten. Zweitens geht der Naturalismus auf hässliche Wirklichkeit aus, während der Realismus die Wirklichkeit auf gesellschaftlich mittlerem Niveau darstellt. Drittens ist der Naturalismus im Gegensatz zum Realismus von sozialem Engagement getragen. Man denke an die Werke Hauptmanns im Gegensatz zu denen Fontanes. Trotz allem Beharren darauf, der Naturalismus sei als Darstellungsart, also formal zu verstehen, drängt sich insbesondere bei naturalistischen Dramen der Eindruck der Reproduktion von Welt auf. Indem diese Dramatik einen Ausschnitt des Lebens auf die Bühne bringen will, fördert sie die Illusion der Unmittelbarkeit; sie präsentiert im „Sekundenstil“ Handlungen in Echtzeit; und sie öffnet sich in der „phonographischen Methode“ allen Sprachformen. In konsequenter Weise bringt Arno Holz, Dichter und Theoretiker, den Naturalismus auf die Formel. „Kunst = Natur - x“ bedeutet: Kunst will exakte Wiedergabe, bleibt aber notgedrungen an die mentalen und medialen Bedingungen der Darstellung gebunden. Emile Zola greift inDer Experimentalromn(1880) euphorisch die Gedanken des Mediziners Claude Bernard auf, der der Medizin erstmals den Vorschlag macht, ihre Erkenntnisse auf experimentellem Wege zu gewinnen. Damit schreibt Zola dem Naturalismus sein erstes, bereits bei Flaubert angelegtes literarästhetisches Programm.
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Einleitung: Naturalismus als Paradigma für Schreiber
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weckt der explosionsartige Wissenszuwachs in den Naturwissenschaften bei Schriftstellern die Befürchtung, sich mit der Literatur der falschen Sache verschrieben zu haben. Das Echo dieser Angst reicht bis weit ins 20. Jahrhundert. Es macht sich insbesondere auch in den Geisteswissenschaften bemerkbar, wie im Werk Levi-Strauss’, der, an die Fortschritte in der Phonologie anknüpfend, die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften weiter annähert.
Ein frühes Kind dieser Angst ist der programmatische Naturalismus. Er will die exakte Wiedergabe des realen Gegenstands, unterscheidet sich vom Realismus aber erstens durch seine Stützung auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse der Zeit. Das dient der Literatur einerseits zur eigenen Legitimation, andererseits als heuristisches Prinzip, i. e. als Mittel zur wissenschaftlichen Analyse des Menschen und seines sozialen Körpers. Die Handlungsmodelle der Naturalisten sind demnach biologistisch-deterministisch: Die Herkunft, „die Gene“, die Natur determinieren das Individuum in seinem Verhalten. Zweitens geht der Naturalismus auf hässliche Wirklichkeit aus, während der Realismus die Wirklichkeit auf gesellschaftlich mittlerem Niveau darstellt. Drittens ist der Naturalismus im Gegensatz zum Realismus von sozialem Engagement getragen. Man denke an die Werke Hauptmanns im Gegensatz zu denen Fontanes.
Trotz allem Beharren darauf, der Naturalismus sei als Darstellungsart, also formal zu verstehen, drängt sich insbesondere bei naturalistischen Dramen der Eindruck der Reproduktion von Welt auf. Indem diese Dramatik einen Ausschnitt des Lebens auf die Bühne bringen will, fördert sie die Illusion der Unmittelbarkeit; sie präsentiert im „Sekundenstil“ Handlungen in Echtzeit; und sie öffnet sich in der „phonographischen Methode“ allen Sprachformen. In konsequenter Weise bringt Arno Holz, Dichter und Theoretiker, den Naturalismus auf die Formel. „Kunst = Natur – x“ bedeutet: Kunst will exakte Wiedergabe, bleibt aber notgedrungen an die mentalen und medialen Bedingungen der Darstellung gebunden.
Emile Zola greift in Der Experimentalromsn (1880) euphorisch die Gedanken des Mediziners Claude Bernard auf, der der Medizin erstmals den Vorschlag macht, ihre Erkenntnisse auf experimentellem Wege zu gewinnen. Damit schreibt Zola dem Naturalismus sein erstes, bereits bei Flaubert angelegtes literarästhetisches Programm.
Roman als Experiment: Zolas Programm des Naturalismus
Nach Zola soll der Roman Experiment sein: Der Autor entwirft die Konstellation, dann lässt er die Dinge ihren Lauf nehmen und wartet das Ergebnis ab. Er handelt wie ein Naturwissenschaftler, der die Natur insofern verändert, als er sie für ein Experiment herrichtet. Was die Beobachtung der Natur von ihrer Beobachtung im Experiment unterscheidet, ist allein, dass der Experimentator eine Absicht hat.
Der Beobachtung geht die „Idee“ voraus; sie ist die Ausgangsbedingung eines Romans, der laufen soll wie ein Experiment. Wie Experimente funktionieren, beschreibt das Hempel-Oppenheim-Schema (1945).
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Der Roman ist das öffentlich wiederholte Experiment des Autors. Als Beispiel nennt Zola Balzacs Baron Hulot: Der mit „amouröser Disposition“ ausgestattete Baron wird mir seiner Umwelt konfrontiert. Der Grund für den darauf folgenden dramatischen Gang der Dinge, die ausgelöste Reaktion, ist seine amouröse Disposition. Der Ausgang der Geschichte ist das Ergebnis des abgeschnurrten Experiments, das Ergebnis ist die „Kenntnis des Menschen“.
Das poetische Verfahren des Naturalisten stellt sich also folgendermaßen dar: Der Autor wählt einen Ausschnitt der Welt, studiert dessen Gesetzmäßigkeiten, die den Rang von Naturgesetzen haben, und modifiziert dann die Ausgangsbedingungen nach Belieben, doch ohne die Naturgesetze zu verletzen.
Wie die Physiologie das Innere des Menschen erforscht, erkundet die Literatur sein Äußeres: Determination durch Herkunft, Milieu und Moment (vgl. H. Taines Milieutheorie).
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- Anonymous,, 2001, Emile Zola: Der Experimentalroman, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60799
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