Die vorliegende Diplomarbeit zum Thema„Bedeutung von sinnhaften Erlebnissen und natürlichen Umwelten für die Entwicklung von Jugendlichen“ beschäftigt sich sowohl mit der gesellschaftlichen Gesamtsituation von Jugendlichen als auch mit spezifischen Aspekten der Entwicklung in diesem Lebensabschnitt. Ausgehend von der Notwendigkeit pädagogischer Interventionen, die entwicklungsbegleitend und -fördernd eingesetzt werden, beleuchtet die Arbeit einen speziellen Bereich der Pädagogik, die Erlebnispädagogik. Diese setzt einen Schwerpunkt auf handlungsorientierte Methoden, in denen das Erlebnis als solches der Bildung von Wissen und Kompetenz dient. Ein möglicher Ort für die Inszenierung erlebnisorientierter Pädagogik ist die Natur in all ihren Erscheinungsformen. Durch die zunehmende Individualisierung, die Entstrukturierung sozialer Bezugsräume und eine wachsende sozioökonomische Ungewissheit, ergeben sich ganz neue Erfordernisse an die Gestaltung entsprechender kompensierender Angebote für junge Menschen. Gewissheit ist zu einem seltenen Gut in der Lebenswelt Jugendlicher geworden. Das eröffnet auf der einen Seite eine Fülle nie da gewesener Spielräume, auf der anderen Seite aber erfordert es eine umfassende Handlungs- und Sozialkompetenz auf Seiten der Jugendlichen, die erworben werden muss. Unser heutiges Schulsystem hat viele der Funktionen übernommen, die früher z.B. innerhalb der Familie geleistet wurden und zur Bildung einer tragfähigen Lebenskompetenz beigetragen haben. Durch die überwiegende Vermittlung von rein theoretischem Wissen lässt sich Schule in ihrer jetzigen Form als zur Erfüllung dieser Aufgabe geeignete Institution hinterfragen. Erforderlich zur Bewältigung der vielschichtigen Herausforderungen in der Lebenswelt Jugendlicher scheint auch die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit. Hier besteht ein weites Betätigungsfeld für die soziale Arbeit. Im Zusammenspiel mit Schule und Familie geeignete Möglichkeiten zur Befähigung Jugendlicher zu finden, sich im Dschungel der Anforderungen zu behaupten, ist zu einer zentralen Aufgabe sozialarbeiterischen Handelns geworden. [...]
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Handlungsmöglichkeiten in der Praxis
1.2 Thesen der Arbeit
2 Lebensphase Jugend
2.1 Der Begriff der Jugend
2.2 Entwicklungspsychologische Aspekte von Jugend
2.3 Soziologische Aspekte von Jugend
2.3.1 Familie
2.3.2. Schule und Hochschule
2.3.3 Berufliche Ausbildung
2.3.4 Gleichaltrigengruppe und Jugendkultur
2.3.5 Religion und Kirche
2.4 Besondere gesellschaftliche Situation Jugendlicher heute
2.4.1 Entstrukturierung, Individualisierung und Pluralisierung
2.4.2 Zur Rolle sozioökonomischer Ressourcen in der Lebenswelt Jugendlicher
2.4.3 Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit
2.5 Welche Risiken birgt unsere modernen Gesellschaft für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit bei Jugendlichen?
3 Erlebnis und natürliche Umwelt
3.1 Definition natürliche Umwelt
3.2 Zur Bedeutung der natürlichen Umwelt heute
3.3 Definition Erlebnis
3.4 sinnhafte – sinnarme Erlebnisse
3.5 Erlebnis in der heutigen Gesellschaft
4 Erlebnispädagogik und flow
4.1 Erlebnispädagogik
4.1.1 Gesellschaftliches Beziehungsgeflecht der Erlebnispädagogik
4.1.2 Historische Wurzeln der Erlebnispädagogik
4.2 Kurt Hahn
4.2.1 Vita
4.2.2 Hahns Handlungsbegründung
4.2.3 Die Landerziehungsheime
4.2.4 Outward Bound
4.2.5 Kritik an Hahn
4.3 Bedeutung der Hahn´schen Pädagogik heute
4.4 Flow
4.4.1 Die Herkunft des Begriffes flow und sein Begründer
4.4.2 Intrinsische und extrinsische Motivation
4.4.3 Die Autotelische Persönlichkeit
4.4.4 Was genau ist flow?
4.4.5 Wie entsteht flow?
4.4.6 Was passiert ohne flow?
4.4.7 Flow und Evolution
4.5 Die Verbindung zwischen der flow Theorie und Kurt Hahns Erlebnistherapie
5 Fazit
6 Vun drinne noh drusse - ein erlebnbispädagogisches Projekt mit delinquenten Jugendlichen
6.1 Ausgangslage
6.2 Zielgruppe
6.3 Ziele des Projektes
6.4 Rechtliche Grundlage
6.5 Ort und Zeitpunkt
6.6 Personeller Rahmen
6.7 Zeitlicher Umfang
6.8 Gepäck und Ausrüstung
6.9 Vorgespräch
6.10 Die Projektelemente
6.10.1 Erster Abendtermin
6.10.2 Zweiter Abendtermin
6.10.3 Das Wochenende
6.10.3.1 Erster Tag
6.10.3.2 Zweiter Tag
6.10.3.3 Dritter Tag
6.11 Reflexion und Transfer
6.12 Qualitätskontrolle
6.13 Kosten
7 Schlussbemerkung
8 Anhang
9 Literaturverzeichnis
Vorwort
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wohnte ich mit meiner Familie in einem Wohnblock im Kölner Stadtteil Bilderstöckchen. Zwar eng umschlossen von großen Hauptverkehrsstrassen und einer recht unwirtlichen Bebauung, bot die Siedlung doch einige Oasen großzügiger Grünflächen und somit die Möglichkeit für uns Kinder, unbeaufsichtigt zu spielen. Auf Bäume klettern, Buden bauen in dichten Hecken, Safaris mit Matchboxautos durch Unterholz und über Wiesen. Unserer Fantasie waren kaum Grenzen gesetzt, außer denen, die der Hausmeister uns von Zeit zu Zeit aufzeigte.
Als ich zehn Jahre alt wurde, kauften meine Eltern ein Einfamilienhaus in einer entstehenden Siedlung in Erftstadt, einem Dörferverbund, rund 20 km vor den Toren Kölns in Richtung Eifel. Schnell lernte ich die noch größeren Möglichkeiten schätzen: kein Hausmeister mehr, offene Felder, der nahe gelegene Kottenforst mit seinen Badeseen und Biotopen und all den aufregenden Dingen, die das Landleben sonst noch bietet. Wir bauten Flöße auf den seeähnlichen Pfützen der Großbaustellen, Höhlen in den Erdaushüben, gingen Angeln im örtlichen Stadtweier, Kaulquappen fangen in den Biotopen, tauchen in den Badeseen. Meine Eltern unternahmen bis in meine frühe Jugend Campingurlaube mit uns. Mein Großvater, ein passionierter Wanderer und Jäger, nahm mich oft mit in die Eifel. Mein Vater machte in den Sommerferien Radtouren mit uns. Hunderte von Kilometern entlang der deutschen Flüsse, gefahren wurde bei jedem Wetter. Das Zelten im hauseigenen Garten wurde zum beliebten Highlight in warmen Sommernächten. Nicht zuletzt natürlich auch, um im Schutze der Dunkelheit in der Nachbarschaft die Dinge zu veranstalten, bei denen man besser nicht gesehen wurde.
Mit 17 Jahren nahm ich für 3 Wochen an einem Schüleraustausch nach New Jersey/ USA teil. Fortan war ich beseelt von dem Gedanken, das ganze Land zu erkunden und all die Naturwunder zu besuchen, von denen ich erfahren hatte. So kam es, dass ich 1987 und 1990 erneut meine Gastfamilie an der Ostküste besuchte und begann, das weite Hinterland der Staaten New Jersey und New York zu bereisen. Bereits dort, an der vergleichsweise dicht besiedelten Ostküste der USA, begegnete ich Dimensionen von Weite und Ursprünglichkeit, wie ich sie aus Europa nicht kannte. Durch eine Fügung des Schicksals erhielt ich Zugang zu einer größeren Geldsumme, die ich dafür nutzte, 1991 im Alter von 21 Jahren zusammen mit einem Freund drei Monate lang 15.000 km durch die USA zu reisen. Ein Traum ging in Erfüllung. Unfassbar waren für mich die Eindrücke durch die Landschaften: unangetastete Natur ohne Besiedlung, über Hunderte von Kilometern, raue Gebirge mit Urwaldbestand im Wechsel mit karger Wüstenlandschaft. Canyons, der Pazifik, Wälder soweit das Auge reicht. Drei Monate bewegten wir uns durch diese eindrucksvolle Kulisse und fühlten uns mehr und mehr als Teil von ihr. Je mehr wir die absolute Stille der Wüste einatmeten, je größer die Erschöpfung bei Fußmärschen, je heißer die Sonne, stärker der Wind und kälter die Nacht in den Bergen, desto mehr fühlten wir uns als ein untrennbarer Teil dieser gewaltigen Natur. Die Ursprünglichkeit unserer täglichen Umwelt hatte uns in sich aufgenommen und uns das Gefühl gegeben, ein ebensolch ursprünglicher Teil dieses Ganzen zu sein.
Die Ankunft in Deutschland war ein Schock, dessen Verarbeitung mich lange Zeit kostetet. Was blieb, war das Bedürfnis nach Natur, Ursprünglichkeit und intensiven Erlebnissen in eben solchem Rahmen. Seit dieser Zeit unternehme ich mehrmals jährlich Fahrten mit Freunden in die meist nahe Umgebung, um solche Erlebnisse von Ursprünglichkeit zu genießen. Kanufahren, wandern, Lagerfeuer machen, klettern – die Möglichkeiten sind vielfältig und leicht umsetzbar. Die Jahreszeit oder das Wetter sind mittlerweile keine Faktoren mehr, die uns davon abhalten uns in die Natur zu begeben. Im Gegenteil, es gibt die intensivsten und nachhaltigsten Erinnerungen an Touren, die unter eher unkomfortablen Umständen stattgefunden haben. Wenn das schlichte Leben in der Natur, ohne viel Komfort, die zwingende Auseinandersetzung mit umgebenden Umwelteinflüssen, denen man sich nicht einfach entziehen kann, erst einmal zur Normalität geworden sind, bieten solche Ausflüge eine wunderbare Gelegenheit, Natur als unbedrohliche Partnerin zu erfahren, deren unabtrennbarer Teil man selber ist.
Auf dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrungen denke ich, dass es interessant ist zu beleuchten, wie sich intensive Erfahrungen mit Natur dazu nutzen lassen, die Entwicklung von Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Dies soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein.
1 Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit zum Thema „Bedeutung von sinnhaften Erlebnissen und natürlichen Umwelten für die Entwicklung von Jugendlichen“ beschäftigt sich sowohl mit der gesellschaftlichen Gesamtsituation von Jugendlichen als auch mit spezifischen Aspekten der Entwicklung in diesem Lebensabschnitt. Ausgehend von der Notwendigkeit pädagogischer Interventionen, die entwicklungsbegleitend und -fördernd eingesetzt werden, beleuchtet die Arbeit einen speziellen Bereich der Pädagogik, die Erlebnispädagogik. Diese setzt einen Schwerpunkt auf handlungsorientierte Methoden, in denen das Erlebnis als solches der Bildung von Wissen und Kompetenz dient. Ein möglicher Ort für die Inszenierung erlebnisorientierter Pädagogik ist die Natur in all ihren Erscheinungsformen.[1]
Lebensphase Jugend
Durch die zunehmende Individualisierung, die Entstrukturierung sozialer Bezugsräume und eine wachsende sozioökonomische Ungewissheit, ergeben sich ganz neue Erfordernisse an die Gestaltung entsprechender kompensierender Angebote für junge Menschen. Gewissheit ist zu einem seltenen Gut in der Lebenswelt Jugendlicher geworden. Das eröffnet auf der einen Seite eine Fülle nie da gewesener Spielräume, auf der anderen Seite aber erfordert es eine umfassende Handlungs- und Sozialkompetenz auf Seiten der Jugendlichen, die erworben werden muss. Unser heutiges Schulsystem hat viele der Funktionen übernommen, die früher z.B. innerhalb der Familie geleistet wurden und zur Bildung einer tragfähigen Lebenskompetenz beigetragen haben. Durch die überwiegende Vermittlung von rein theoretischem Wissen lässt sich Schule in ihrer jetzigen Form als zur Erfüllung dieser Aufgabe geeignete Institution hinterfragen. Erforderlich zur Bewältigung der vielschichtigen Herausforderungen in der Lebenswelt Jugendlicher scheint auch die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit. Hier besteht ein weites Betätigungsfeld für die soziale Arbeit. Im Zusammenspiel mit Schule und Familie geeignete Möglichkeiten zur Befähigung Jugendlicher zu finden, sich im Dschungel der Anforderungen zu behaupten, ist zu einer zentralen Aufgabe sozialarbeiterischen Handelns geworden.
Potential von Erlebnissen in der Pädagogik
Ohne dem Erlebnis pauschal eine positive Wirkung zuordnen zu wollen, denn zweifellos gibt es auch Erlebnisse mit zutiefst negativen Auswirkungen, gibt es doch eine Kategorie von Erlebnissen, die sich positiv prägend auf die Entwicklung eines jungen Menschen auswirkt. Ausgehend von der Annahme, dass die Prägnanz eines Erlebnisses von dessen Intensität abhängt, versucht die Erlebnispädagogik solche positiv prägenden Situationen zu erzeugen und über die Sinne des Menschen erfahrbar zu machen. So bieten sich Möglichkeiten, besonders auf dem Gebiet sozialen Lernens, Defiziten entgegen zu wirken. Über eine ganzheitliche Erfahrung des eigenen Selbst in Kommunikation mit der Umwelt und einer sozialen Gruppe sollen Hilfsbereitschaft, Einfühlungsvermögen, Teamfähigkeit und Selbstbewusstsein gestärkt werden. Das Thema der Arbeit bezieht sich klar auf sinnhafte Erlebnisse. Das bedeutet, dass es nicht um die sogenannten „Erlebnisse“ der Konsumgesellschaft geht, in der sogar die Tiefkühlpizza zum Erlebnis erhoben wird, sondern um „echte“ Erlebnisse. Diese zeichnen sich z.B. durch sensorische Wahrnehmbarkeit, eine aktive Rolle des Erfahrenden, physische Wirklichkeit und einen bedeutungsvollen, die Person prägenden Charakter aus.
Mensch und natürliche Umwelt
Der Mensch ist ein Teil der Natur und daher existenziell von ihr abhängig. Durch die Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Mensch ein Verständnis von sich entwickelt, das ihn aus diesem Gefüge heraushebt. Arbeits- und Wohnwelt sowie der Zugang zu Nahrungsmitteln haben sich extrem verändert und sich großflächig von Tradiertem gelöst. Sämtliche Bereiche des Ökosystems Erde stehen unter der Einflussnahme des Menschen. Durch die Naturwissenschaften, die hochentwickelte Medizin und die allumfassende Technisierung unserer Lebenswelt hat sich der Mensch aus dem Jahrtausende alten Verständnis seiner Gottesabhängigkeit herausgelöst und sich selbst auf eine gottähnliche Position erhoben. Fast alles erscheint erklärbar, entzaubert und veränderbar. Natur und Umwelt werden weitgehend für menschliche Interessen nutzbar gemacht und verbraucht. Der Mensch hat nicht mehr das Verständnis von einem großen Ganzen, dessen kleiner Teil er ist. Dabei wäre gerade diese Einsicht eine der wichtigen Voraussetzungen für den Schutz und Erhalt natürlicher und ökologisch intakter Lebensräume. Natur müsste jungen Menschen als Erfahrungsraum zugänglich gemacht werden, der viel zu bieten hat und schützenswert ist. Menschen in die Natur zu holen und sie sie erleben zu lassen, könnte Basis eines wesentlich besseren Umweltverständnisses und auch Selbstverständnisses sein, als die reine Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte dies leisten kann.
1.1 Handlungsmöglichkeiten in der Praxis
Die sich aus den vorhergegangenen Abschnitten ergebenden pädagogischen Handlungsnotwendigkeiten für die soziale Arbeit sind äußerst vielfältig und äußern sich z.B. in der Durchführung erlebnispädagogisch fundierter Projekte für Jugendliche, im Rahmen von natürlichen Umwelten wie Wald, Gebirge und Meer. Im praktischen Teil der Arbeit soll hierzu eine Möglichkeit vorgestellt werden.
1.2 Thesen der Arbeit
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich also mit folgenden Thesen und den sich aus ihnen ergebenden Handlungsmöglichkeiten für die soziale Arbeit:
1) Die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen machen bei Jugendlichen den Erwerb umfangreicher Kompetenzen zur adäquaten Bewältigung von Problemlagen erforderlich.
2) Aktiv mitgestaltete und selbstbestimmte Erlebnisse wirken sich positiv
auf die verschiedenen Entwicklungsbereiche von Jugendlichen aus.
3) Natürliche Umwelten bieten in besonderem Maße geeignete Rahmenbedingungen zur Entwicklungsförderung durch sinnhafte Erlebnisse.
4) Es besteht eine enge Verbindung zwischen der Theorie des flow und der Erlebnispädagogik.
2 Lebensphase Jugend
2.1 Der Begriff der Jugend
Der Begriff der Jugend ist, obwohl sich um ihn die Bemühungen mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen ranken und er auch sonst eine feste Größe in unserem Sprachgebrauch darzustellen scheint, nicht eindeutig definiert. Selbst wenn der Begriff der Jugend als solcher bereits in der Antike im Gebrauch war, bezieht sich der Zusammenhang, in dem er hier verwendet werden soll, auf die jüngere Geschichte und die heutige Zeit. Wo zuvor Jugend als idealtypisches Merkmal von Geist und Körper galt, entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Verständnis einer eigenständigen Lebensphase die „[...] zwischen dem Eintreten der Geschlechtsreife und dem damals für die meisten jungen Menschen noch frühen Austritt aus dem allgemeinen und beruflichen Bildungssystem lag und etwa eine durchschnittliche Spanne von 4 bis 5 Jahren umfasste.“[2] Im Laufe des 20. Jahrhundert dehnte sich dieser Lebensabschnitt zunehmend aus und nahm, im sich allgemein ausdifferenzierenden Lebensabschnittsgefüge einen zunehmend bedeutenden Platz ein. Nach und nach verlängerte sich die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter in einem auch heute noch anhaltenden Prozess um das Nachjugendalter und das frühe Erwachsenenalter, wie das Schaubild verdeutlicht:[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Ausdifferenzierung von Entwicklungsphasen und -aufgaben zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ist ein soziokulturell bedingtes Phänomen. Während „in einfachen Gesellschaften eine Institutionalisierung der Jugendphase fehlt und der nachwachsenden Generation vielfach durch Initiationsriten der Erwachsenenstatus unmittelbar verliehen wird“[4], ist der Zeitpunkt des Übergangs in das Erwachsenenalter in unseren westlichen Gesellschaften ein beinahe unbestimmbarer geworden. Nach Hurrelmann „zeichnet sich neben der verlängerten allgemeinen Schulzeit eine lebenszeitliche Aufschiebung des Übergangs in die Erwerbstätigkeit ab.“[5] So ist es nichts Ungewöhnliches mehr, dass die Aufnahme einer geregelten Erwerbstätigkeit erst um die 25 bis 30 Jahre geschieht. Die ökonomische Eigenständigkeit und die Aufnahme einer geregelten Tätigkeit gelten in unserer Kultur aber als Merkmal des Austritts aus der Jugendphase. Dieser Umstand und die Tatsache, dass außerdem ein ehemaliger Maßstab des Erwachsenwerdens an Bedeutung verliert, nämlich das Eingehen einer Ehe oder ähnlicher Lebensgemeinschaften[6], führt dazu, dass der Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter mehr und mehr fließend verläuft. Eine altersmäßige Bestimmung des genauen Zeitpunktes, zu dem der Übergang stattfindet, ist wesentlich schwerer festzulegen als z.B. der zwischen Kindheit und Jugend.
Bei Oerter&Dreher wird „die Entwicklung im Jugendalter“ als “ eine Phase innerhalb des Lebenszyklus, die durch das Zusammenspiel biologischer, intellektueller und sozialer Veränderungen zur Quelle vielfältiger Erfahrungen wird“ beschrieben.[7] Schäfers versucht eine Bestimmung des Jugendbe-
griffs der Gegenwartsgesellschaft durch die Definition von 5 Merkmalen die im Folgenden sinngemäß zusammengefasst werden:
1. Jugend ist eine Altersphase im Lebenszyklus eines jeden Individuums.
2. Jugend ist die Altersgruppe der 13- bis etwa 25jährigen mit für sie typischen Verhaltensweisen und Einstellungen.
3. Jugend ist eine biologisch mitbestimmte, aber sozial und kulturell „überformte“ Lebensphase, in der Voraussetzungen selbstständigen Handelns in allen gesellschaftlichen Bereichen erworben werden.
4. Jugend ist eine Subkultur, eine gesellschaftliche Teilkultur.
5. Jugend ist ein „idealer Wertbegriff“.[8]
Eine weitgehend identische Auflistung der „Bedeutungsdimensionen des Jugendbegriffs“ findet sich bei Oerter&Dreher[9].
Das KJHG beschreibt in § 7 den als jugendlich der 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist bzw. als jungen Volljährigen, der 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist.[10] Also auch im Bereich der Jugendhilfe erhält die Phase des noch nicht Erwachsenseins einen zuerkannten Raum von 13 Jahren. Im strafrechtlichen Bereich ist dies ein bedeutend kleinerer Zeitraum. Dort heißt es: „Jugendlich ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.“[11] Der Gesetzgeber macht hier also einen Unterschied zwischen der recht ausgedehnten Bedürftigkeit an Unterstützung im KJHG und einer demgegenüber recht frühen, vollen Verantwortung im Strafrecht.
Bedeutungsvoll für das Verständnis des Begriffs Jugend ist also, dass Jugend sich als Zeit des Reifens für die gesellschaftlichen und individuellen Aufgaben des Lebens etabliert und als Entwicklungsphase einen eigenen Status bekommen hat. Obwohl man hierbei nicht aus den Augen verlieren darf, dass auch die Bewältigung der Jugend für den Menschen meist keine einfache Aufgabe ist und sich auch im Erwachsenenalter und bis ans Lebensende Entwicklung abspielt, so ist doch die Jugend die Zeit des Ausprobierens und der Findung der eigenen Grenzen. Die Verlängerung dieser Zeit durch gesellschaftliche Umstände, größere Freiheit aber auch Anforderungen in den Bildungssystemen, bietet prinzipiell mehr Raum für eine Suche nach geeigneten Lebenszielen, ausgerichtet an individuellen Fähigkeiten. Diesen Raum mit sinnvollen Angeboten zu füllen, wird in dieser Arbeit als ein Betätigungsfeld für die soziale Arbeit gesehen. Alle in dieser Arbeit angelegten pädagogischen Maßnahmen sozialer Arbeit beziehen sich auf den erweiterten Begriff von Jugend im Alter zwischen 14 und ca. 27 Jahren.
2.2 Entwicklungspsychon logische Aspekte von Jugend
Das Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit beschreibt die Entwicklungspsychologie als das „[...]Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Erforschung der Veränderungen der Fähigkeiten und Verhaltensweisen des Menschen im Laufe seines Lebens befasst.“[12] Als im Mittelpunkt stehend werden dabei „[...]vor allem Prozesse der Reifung und die Auswirkungen der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt.“[13] gesehen. Obwohl in di esem Fall bereits von Interaktion zwischen Individuum und Umwelt, also von verschränk ten wechselseitigen Einflüssen der beiden Komponenten, für den Prozess der Entwicklung die Rede ist, ist diese interaktionistische- nur eine von vier möglichen Theorienfamilien:
Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten
Typologie von Entwicklungstheorien[14]
In interaktionistischen Theorien haben Subjekt und Umwelt wechselseitig gestaltende Funktion.
Selbstgestaltungstheoretische Ansätze, wie z. B. der Jean Piagets(1896-1980), betrachten den Menschen selbst als Gestalter seiner Entwicklung und Fähigkeiten. „Die Entwicklung der kognitiven Strukturen von einem weniger leistungsfähigen, widerspruchsanfälligen zu immer leistungsfähigeren, stabileren Strukturen bezeichnet Piaget als Äquilibrationsprozess.“[15] Äquilibration bedeutet das Zusammenwirken von Assimilation und Akkomodation .Assimilation ist die Anpassung eines Gegenstandes an ein beherrschtes Handlungsschema, z.B. das Greifen eines Gegenstandes ist die Assimilation des Gegenstandes an das Schema Greifen. Akkommodation ist das Anpassen eines Handlungsschemas an den Gegenstand, Wasser kann man z.B. nicht greifen, man muss es schöpfen.[16]
Exogenistische Theorien sehen die Entwicklung des Menschen als ausschließlich dadurch bestimmt, welche externen Reize gegeben sind. Eine Manipulation dieser Reize und Umstände führt demnach zu jedem erwünschten Entwicklungsergebnis.[17]
Endogenistische Entwicklungstheorien behaupten das genaue Gegenteil, nämlich die Entwicklung und Entfaltung eines inneren veranlagten Plans. Interventionen in diesen Plan sind nur zu bestimmten sensiblen Perioden möglich.[18]
Nach heutigem Forschungsstand kann von einem Mix dieser vier Theorien innerhalb einer globalen Entwicklungstheorie ausgegangen werden. Die Theorien des Selbstgestaltungsansatzes leisten genauso ihren Beitrag zur Erklärung menschlicher Entwicklung wie genetische Veranlagung oder
exogene Faktoren. Ein Schwerpunkt liegt jedoch auf interaktionistischen Theorien. Sowohl der Mensch beeinflusst seine Umwelt, als auch die Umwelt den Menschen. Eben diese Sichtweise ist es, die Mensch und Umwelt zu einer interdependenten Einheit verschmelzen lässt und damit eine ganzheitlichen Pädagogik begründet, die das gesamte Subjekt in seiner Umwelt sieht. Entwicklung ist von der Zeugung des Menschen bis zu seinem Ableben ein sich unentwegt fortsetzender Prozess. Da es in dieser Arbeit um die Entwicklung im Jugendalter geht, sollen auch nur die psychologischen Entwicklungsaufgaben dieses Lebensabschnittes näher erläutert werden. Doch kann Entwicklung auch nach dem Eintritt in das Erwachsenenalter bis hinein ins hohe Lebensalter stattfinden. Nachgewiesener Maßen kann sich z.B. auch Intelligenz bis ins Alter von 70-80 Jahren weiter ausbilden.[19] Dieser Ansatz der durchgängigen Entwicklung ist in der Literatur noch nicht allzu häufig zu finden.
Ungefähr mit dem Einsetzen der Pubertät und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung primärgeschlechtlicher Merkmale, beginnt die Jugendphase, mit ihren der Kindheit gegenüber qualitativ stark abgegrenzten Entwicklungsaufgaben. In der Literatur lassen sich mannigfaltige Umschreibungen der Entwicklungsziele im Jugendalter finden. Eine der kompaktesten und im Wesentlichen die Meinung vieler zusammenfassend auf den Punkt bringende stammt von Hurrelmann. Er gliedert Entwicklungsaufgaben in 4 große Bereiche, die hier sinngemäß übernommen werden sollen.
1) Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um selbstverantwortlich schulischen und anschließend beruflichen Qualifikationen nachkommen zu können, mit dem Ziel, eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene, ökonomische und materielle Basis für die selbständige Existenz als Erwachsene zu sichern.
2) Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle und des sozialen Bindungsverhaltens zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechtes, Aufbau einer heterosexuellen Partnerbeziehung, die langfristig die Basis für eine eigene Familiengründung und die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann.
3) Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarktes und des Freizeitmarktes einschließlich der Medien mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil zu entwickeln und zu einem gesteuerten und bedürfnisorientierten Umgang mit den entsprechenden Angeboten zu kommen.
4) Entwicklung eines Werte- und Normensystems und eines ethnischen und politischen Bewusstseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht, so dass die verantwortliche
Übernahme von gesellschaftlichen Partizipationsrollen im kulturellen und politischen Raum möglich wird.[20]
Es geht also um die Entwicklung einer eigenen Identität innerhalb bestehender Systeme. Viele dieser Entwicklungsaufgaben beinhalten auch soziologisch relevante Punkte, bei denen es um den Rollenerwerb innerhalb sozialer Systeme geht. Dadurch wird deutlich, dass es um eine psychosoziale Entwicklung geht, innerhalb derer die psychische Reifung des Jugendlichen immer wieder reflexive Momente aus der Gesellschaft braucht.
Vielleicht sollte man die Ausführungen Hurrelmanns noch durch den Hinweis ergänzen, dass heutzutage auch eine homosexuelle Beziehung mehr und mehr eine legitime Basisform der Familie sein kann, zumal, wenn innerhalb derselben Kinder großgezogen werden.
Eine besonders im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit interessante Aussage zitiert Schäfers von Eduard Spranger(1882-1963), einem seinerzeit einflussreichen Pädagogen, Kulturphilosophen und Kulturpolitiker. Dieser erwähnt als ein für die Jugend typisches Entwicklungsmerkmal „das Erwachen eines Naturgefühls, eine Sensibilität für Natur und ein Befragen der Natur[...]“[21].
Wenn man die Fülle der zu bewältigenden psychischen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter betrachtet, wird leicht verständlich, warum Jugendzeit auch Krisenzeit bedeuten kann. Die Findung geschlechtlicher, beruflicher, politischer und religiös/spiritueller Identität innerhalb des Gesellschaftsgefüges stellt enorme Anforderungen an den Jugendlichen. Häufig führt der Weg der Identitätssuche „zu widersprüchlichen Verhaltensweisen und Einstellungen: Ein und derselbe Jugendliche ist introvertiert und extrovertiert; kritisch, selbst-kritisch und naiv; empfindlich im Hinblick auf seine Akzeptanz bei anderen[...]. Er ist schüchtern und aggressiv, verträumt und weltoffen.“[22] Diese für alle Beteiligten, Jugendliche wie Erwachsene, belastenden Umstände, gilt es im Sinne einer möglichst positiven Begleitung jugendlicher Entwicklung zu verstehen und die sich daraus ergebenden pädagogischen Erfordernisse zu erkennen und anzuwenden.
2.3 Soziologische Aspekte von Jugend
„Die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben mit den dazugehörigen komplexen Struktur-, Funktions- und Entwicklungszusammenhängen der Gesellschaft und ihren Institutionen wird als Soziologie bezeichnet.“[23]
Während im vorangegangenen Kapitel die Anforderungen an die psychische Entwicklung von Jugendlichen erläutert wurden, soll in diesem Kapitel ein Überblick über die Instanzen gegeben werden, die an der Sozialisation von Jugendlichen maßgeblich beteiligt sind. „Unter Sozialisation werden die Vorgänge verstanden, die dazu führen, dass die Menschen sich mehr oder weniger die Werte und Normen der Gesellschaft, in der sie leben, aneignen.“[24] Eine etwas exogenistischere Sichtweise beschreibt: „Bewusstsein, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Menschen sind von den Bedingungen abhängig und geformt, unter denen sie aufgewachsen und zu leben gezwungen sind.“[25]
Schäfers stellt im Wesentlichen fünf gesellschaftliche Grundgebilde heraus, die an Sozialisation beteiligt sind. Diese sind die Familie, die Schule bzw. Hochschule, die berufliche Ausbildungsstätte, die Gleichaltrigengruppe und Religion bzw. Kirche.[26] In der verwendeten Literatur wird jedoch durchgängig beschrieben, dass die Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen, besonders in den Bereichen Schule und Ausbildung, insofern an Bedeutung verlieren, als Mädchen bzw. Frauen heutzutage immer höhere schulische und berufliche Laufbahnen wählen. Aus diesem Grund soll in den folgenden Abschnitten nicht vertiefend auf geschlechtsspezifische Unterschiede eingegangen werden.
2.3.1 Familie
Obwohl die Erscheinungsformen von Familie sich besonders in den letzten 50 Jahren stark verändert haben, ist die Herkunftsfamilie immer noch ein bedeutsames soziales Gebilde. Eine Untersuchung des Institut für praxisorientierte Sozialforschung (ipos)[27] belegt dies in eindrucksvollen Zahlen:[28]
Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten
(alle Werte sind exakt der angegebenen Quelle entnommen. Unlogische Summen basieren daher nicht auf Tippfehlern)
Durch diese große Bedeutung der Familie als alltägliches intimes Umfeld Jugendlicher, kommt ihr ein gewichtiger Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen zu. Schäfers schätzt den „[...]Einfluss des Elternhauses auf die werdende Persönlichkeit des Jugendlichen und seine jetzige wie zukünftige soziale Position[...]“, sogar als kaum zu überschätzend ein.[29] Als entscheidend sieht er hierbei die Umweltbedingungen familialer Sozialisation, das vorherrschende Sprachmilieu, die Erziehungspraktiken, das familiale Konfliktverhalten und das angestrebte kulturelle Niveau. Weiterhin sieht Schäfers die Ressourcen der Eltern an Zeit, ökonomischen Mitteln für Bildung, Hobbies und Förderung sowie deren Einstellung zur Politik, Gesellschaft, Religion, Kultur und der jungen Generation als Faktoren an, „die das Kind und den Jugendlichen fürs Leben prägen.“[30]
Familie hat heutzutage ein anderes Profil, als dies noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war. Der in Deutschland am weitesten verbreitete Familientyp ist dabei die Kleinfamilie. Schäfers bezeichnet sie als „Kernfamilie“ und meint damit die unabhängige Lebensgemeinschaft von Eltern mit Kindern, isoliert vom weiteren Verwandschaftssytem.[31] 86% der westdeutschen zwischen 14 und 27 Jahren gaben 1999 an, bei beiden Eltern aufgewachsen zu sein. In Ostdeutschland waren es 87%.[32] Trotzdem kann Familie viele Gesichter haben. Durch die sich verändernde Rolle der Frau und die steigenden materiellen Bedürfnisse innerhalb der Konsumgesellschaft sind z.B. immer öfter beide Elternteile berufstätig und haben weniger Zeit für ihre Kinder. Auch binationale Haushalte, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, Migrationsfamilien mit Fluchterfahrung, alleinerziehende Elternteile und andere Varianten verändern das traditionelle Bild von Familie. Der Begriff Familie umschreibt heute sehr vielfältige Formen des Zusammenlebens von Eltern und Kindern.
Unabhängig davon, in welcher Zusammensetzung Familie organisiert ist, ist es für das Aufwachsen von Jugendlichen von Bedeutung , dass sie in ihr Raum und Beachtung finden. Familie sollte in Krisensituationen Rückhalt geben und ein gewisses Maß an Stabilität bieten. Eben diesen Rückhalt sucht und findet der Großteil der Jugendlichen auch. Ca. 90% der 14-27jährigen in Ost- und Westdeutschland geben an, bei schwerwiegenden Problemen Hilfe bei den Eltern zu finden.[33] Auch der elfte Kinder- und Jugendbericht bestätigt diese Aussage.[34]
Die Familie behält also, trotz ihrer sich ausdifferenzierenden Erscheinungsformen, ihre einflussreiche Bedeutung als Sozialisationsinstanz, sowie ihre hohe Wertschätzung in der Meinung Jugendlicher.[35] Der Bericht beschreibt zwar die abnehmende Bedeutung von Familie insofern, als „[...]die empirisch zu beobachtende Heterogenisierung der Bedingungen des Aufwachsens zu einem allmählichen Bedeutungsverlust der familiären Herkunft als soziale Zuschreibung und als Moment subjektiver Identitätsfindung führen kann.“[36] Gleichzeitig wird aber „die Bedeutung familiär vermittelter kognitiver, emotionaler, materieller und kultureller Ressourcen für die Gestaltung der eigenen Biographie“[37] als steigend beschrieben. Letzteres verleiht den Beschreibungen Schäfers über die Bedeutung der soziokulturellen und sozioökonomischen Verhältnisse innerhalb von Familie Nachdruck und stellt Anforderungen an Politik und Bildungssysteme ein entsprechend hohes Niveau zu fördern und zu ermöglichen.
2.3.2. Schule und Hochschule
Die Bedeutung der durch die Situation in der Familie geschaffenen Ausgangssituationen für die gesellschaftliche Positionierung der Jugendlichen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Familie inzwischen die Einweisung in berufliche und gesellschaftliche Qualifikationen vollständig an die Spezialinstitution Schule abgegeben hat.[38] Die Qualifizierung für einen guten Start in die erfolgreiche Teilhabe an unserer heutigen Leistungsgesellschaft findet in eigens dafür geschaffenen Organisationen, Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen statt. So scheint es möglich, dass bei ausreichender Begabung und dem nötigen Rückhalt aus dem Elternhaus jedes Kind auch einer einfachen Arbeiterfamilie eine höhere Schule bzw. akademische Ausbildung erreichen kann. Gründe, die dem trotzdem oft entgegenwirken, benennt Schäfers:
Das höhere Bildungswesen ist eine andere Welt für Eltern aus der Arbeiterschicht.
- Ein höherer Bildungsstand der Kinder könnte diese der Familie entfremden.
- Eine lange Schulzeit und ein eventuell nachfolgendes Studium sind für die Eltern finanziell schwer kalkulierbar.
- Oft können die Eltern bei weiterführenden schulischen Lernprozessen ihren Kindern kaum Hilfen geben.[39]
So bleibt es dann doch oft dabei, dass die Wahrscheinlichkeit des Besuches einer weiterführenden Schule mit dem sozialen Status der Eltern steigt.[40]
Es ist also eine Kombination aus individuellen Fähigkeiten des Jugendlichen, Aspirationsniveau[41] des Elternhauses und Niveau der Schulausbildung an der Zuteilung gesellschaftlicher und beruflicher Chancen beteiligt. Die Schule spielt in diesem Gefüge eine wichtige Rolle, was auch von Jugendlichen für gerechtfertigt gehalten wird: „Ganz offensichtlich identifizieren sich die allermeisten Jugendlichen mit dem Leistungsprinzip und akzeptieren es als geeignetes Kriterium für die Verteilung von Chancen.“[42] In dieser Akzeptanz erfahren sie während der Ausbildungs- oder Arbeitsplatzsuche noch Bestärkung, denn ohne einen bestimmten Bildungstitel ist heute ein Eintritt in privilegierte Berufspositionen so gut wie unmöglich geworden.[43]
Neben dieser Rolle als Chancenverteiler gesellschaftlicher und beruflicher Positionen schreibt Schäfers der Schule eine große Rolle in der Sozialisation Jugendlicher zu: „ Die komplexer werdende Gesellschaft, die die patriarchalischen, hierarchisch-traditionalen, familiär und religiös fundierten Sozialbeziehungen ablöste, musste zwangsläufig eine `gesellschaftliche´ Institution schaffen, in der diese Zusammenhänge auf neuer Basis, in `antizipatorischen[44] Lernprozessen´ verdeutlicht werden können.“[45] Diese Rollenbeschreibung von Schule heute ist besonders anschaulich, da sie auch beschreibt, in welchen Zusammenhängen Jugendliche früher sozialisiert wurden. Als besonderes Problem, was auch mit dem Thema der vorliegenden Arbeit in direkter Verbindung steht, betont er im Bezug auf die heutige Schule außerdem „[...] ihre mangelnde Anschaulichkeit und Praxisnähe, ihr Abheben auf kognitive Lernprozesse und abstraktes Begreifen [...]“[46]
Auch der Druck bzw. Bedrohung durch Noten kann Schüler in ihren Leistungsqualitäten hemmen. „Sobald das Gehirn Bedrohliches wahrnimmt, ob dies verdeckt oder offen daherkommt, reagiert es mit Hemmungen.“[47] Nicht nur, dass dies eine Art des Lernens ist, die nicht die effektivste ist, sie entspricht auch nicht unbedingt jugendlicher Abenteuerlust. „In den meisten Klassen besteht noch heute die größte physische Aktivität darin, Fragen auf dem Papier zu beantworten. Dementsprechend gilt es als größtes Abenteuer, die Autoritätspersonen zu ärgern.“[48]
Auch Hurrelmann beschreibt diese Problematik der Abstrahierung von Lerninhalten: „In den modernen Industriegesellschaften lernen Jugendliche gesellschaftliche Handlungsvollzüge und dafür notwendige Kenntnisse nicht mehr im unmittelbaren Lebensalltag [...] sondern sie werden in speziell hierfür geschaffenen Organisationen von speziell hierfür ausgebildeten professionellen Lehrkräften unterrichtet.“[49] Schule hat eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Wissen und Kompetenz übernommen, ohne dabei einen Ausgleich für die wegfallenden praktischen Lernfelder überkommener Sozialisationsinstanzen zu bieten.
„Die Jugendzeit in den modernen Industriegesellschaften ist zur Schulzeit geworden.“[50] Schulzeit gewinnt an Bedeutung. Somit muss überlegt werden, ob Schule alle notwendigen Lern- und Entwicklungsbereiche abdeckt.
Zusammenfassend soll zur Rolle der Schule heute festgehalten werden, dass sie für die Zuteilung sozialer Positionen, mit Chance auf Verbesserung gegenüber der Herkunftsfamilie, in erheblichem Maße verantwortlich ist.
Ferner dient sie als wichtige Sozialisationsinstanz und hat in diesem Punkt die oben nach Schäfers zitierten traditionellen Formen abgelöst. Sie vermittelt ihre Lerninhalte in abstrakter Art und Weise, was ein Nachdenken über zusätzliche praktische orientierte Angebote erforderlich macht.
Schule spielt auch eine bedeutende Rolle als Treffpunkt von Gleichaltrigengruppen und somit auch als Basis für jugendkultureller Tätigkeiten. Auf Gleichaltrigengruppe und Jugendkultur wird in Kapitel 2.3.4. gesondert eingegangen.
2.3.3 Berufliche Ausbildung
Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass alle Sozialisationsinstanzen eine Doppelanforderung für den Jugendlichen bedeuten. Sie besteht darin, dass er sich einerseits in das jeweilige gesellschaftliche System integrieren und andererseits den eigenen Prozess der Selbstwerdung erfolgreich bewältigen muss. Dies kommt besonders in der beruflichen Ausbildung zum Tragen.
Durch sie werden eine ganze Reihe von Anpassungsanforderungen an den Jugendlichen gestellt, die im Wechsel auch immer eine Reflexion und Neudefinition der eigenen Position erfordern. Gegenüber der Schule findet eine erheblich gesteigerte zeitliche Bindung statt. Die Gesellschaft Gleichaltriger wird im Wesentlichen durch ein Umgebensein von Älteren, zumeist Höhergestellten ersetzt. Auch finanziell ergeben sich neue Möglichkeiten, aber auch Anforderungen. In Kapitel 2.1. wurde gezeigt, dass als eines der Merkmale zur Erreichung des Erwachsenenstatus die wirtschaftliche Eigenständigkeit gilt.
Es ergeben sich also mit dem Eintritt in die berufliche Ausbildung für den Jugendlichen eine Reihe von Umständen, die durch Reflexion und Neudefinition der eigenen Person im gesellschaftlichen Gefüge bewältigt werden müssen. Auch bringt „der Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung [...] eine weitere wichtige Vorentscheidung über den Ausgang des Platzierungsprozesses und eine Weichenstellung für künftige Lebenslage und Lebensqualität.“[51]
In Deutschland geschieht die betriebliche Berufsausbildung durch das duale System. Nach Abschluss der allgemeinbildenden Schule findet die Ausbildung im Betrieb parallel zum Besuch einer Teilzeitberufsschule statt.
Nach Abschluss der Klasse 10 besuchten 1990
35% die gymnasiale Oberstufe, die Fachgymnasien oder vergleichbare Schulen.
50% das duale berufliche Ausbildungssystem.
15% Vollzeitberufsbildungseinrichtungen wie Berufsfachschule,
Fachschulen, Förderjahrgänge, Spezialausbildungen.[52]
Da viele der Absolventen der gymnasialen Oberstufe und der Vollzeitberufsschulen später noch in das duale Berufsbildungssystem übergingen, kam es dazu, dass dieses zu Beginn der 90er Jahre von ca. 70% der Jugendlichen durchlaufen wurde.[53] Zunehmend begeben sich also auch Jugendliche mit höherer allgemeiner Schulbildung in eine berufliche Ausbildung durch das duale System, was noch in den 70er Jahren eher eine Domäne der Hauptschüler war. Dieser Umstand lässt den Betrieben oft die Wahl zwischen Bewerbern mit unterschiedlich hoch qualifizierten Abschlüssen, wobei die Entscheidung dann nicht selten wegen der gestiegenen Qualifikationsanforderungen in der Berufsausbildung und den Berufsschulen, auf Bewerber mit Realschulabschluss oder Abitur fällt.[54]
Die Berufswahl und der Umfang der erworbenen Qualifikationen innerhalb der Berufsausbildung sind dann wiederum maßgeblich an der Zuteilung gesellschaftlicher Positionen, sprich sozialem Status, beteiligt.
Besonders wichtig scheint deshalb der Erwerb von ausbildungsunabhängigen Fähigkeiten, die den Jugendlichen auch außerhalb konkret beruflicher Zusammenhänge einen verlässlichen Hintergrund für kompetentes Handeln bieten können. Solche Kompetenzen gewinnen im Berufsalltag an interdisziplinärer Bedeutung. Selbstbewusstsein, die Fähigkeit selbstständig zu denken und zu handeln, Empathie, Verantwortung für andere und Teamfähigkeit sind Eigenschaften, die junge Bewerber für die Berufwelt interessant machen und zudem ein stabiles Selbstkonzept der Jugendlichen fördern und somit auch das Ausweichen auf andere Anerkennungsfelder wie Aggressivität, Gewalt und Drogenkonsum mindern können. Die Förderung der Entwicklung einer solch ´kompetenten Persönlichkeit` kann teilweise innerhalb beruflicher Ausbildung stattfinden, sie kann aber auch durch begleitende Angebote geschehen, wie sie im späteren Verlauf dieser Arbeit beschrieben werden.
Zusammenfassend kann die berufliche Ausbildung als wichtige Sozialisationsinstanz auf dem Weg ins Erwachsensein bezeichnet werden. Diese Rolle begründet sich auf der steigenden finanziellen Unabhängigkeit, den Entwicklungschancen für die Persönlichkeit und der weichenstellenden Funktion für den späteren sozialökonomischen Status.
2.3.4 Gleichaltrigengruppe und Jugendkultur
Die Gleichaltrigengruppe, auch Bezugsgruppe oder Peergroup genannt, ist eine in der Gruppensoziologie so bezeichnete Gruppe Gleichalter Kinder oder Jugendlicher, die den in der Familie eingeleiteten Sozialisationsprozess fortsetzt, indem sich in ihr Möglichkeiten sozialer Orientierung bei gleichzeitiger Reduzierung der Abhängigkeitsverhältnisse von der Familie bieten.[55]
Die altersspezifische Neigung des Zusammenschlusses ist „[...] auch die psychische Basis für die Herausbildung von Jugendkulturen.“[56] Jugendkultur kann als Teilkultur innerhalb unserer Gesellschaft definiert werden, in der gemeinsame Interessen, Einstellungen und Handlungsweisen im Verbund mit äußeren Merkmalen wie Kleidung, Sprache und Musik zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl führen. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist alterstypisch und dient der Abrenzung gegenüber der Welt der Erwachsenen.
Welchen enormen Stellenwert das Treffen in Gleichaltrigengruppen heute bei Jugendlichen erreicht hat, zeigen Zahlen einer Befragung des Ipos-Institutes aus dem Jahr 1999:[57]
Westdeutschland
Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten
(alle Werte sind exakt der angegebenen Quelle entnommen. Unlogische Summen basieren daher nicht auf Tippfehlern)
Die ersten eigenständigen Jugendbewegungen gab es in Deutschland zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit den bürgerlichen Wandervögeln und der proletarischen Jugendbewegung, innerhalb derer sich die Lehrlinge gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzten. Bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten entfalteten sich weitere jugendkulturelle Elemente, die ihr spezifisches Lebensgefühl jenseits von Traditionen zum Ausdruck brachten. Das Hitlerregime schaltete in den 30er und 40er Jahren alle eigenständigen Aktivitäten aus und gründete mit der Hitlerjugend ein zentrales Organ zur Unterbringung der Jugend innerhalb einer den Parteizielen dienlichen Organisation. Nach dem Krieg, in den 50er Jahren, machte die zumeist unpolitische Halbstarkenbewegung auf sich aufmerksam. In den 60er und 70er Jahren kam es zunehmend zu einer politisierten Jugendbewegung mit deutlich sozialkritischen Zügen. Auch in den 80er Jahren standen vielfach politische bzw. umweltpolitische Motivationen im Vordergrund jugendlicher Zusammenschlüsse. Unter dem kräftigen Einfluss der Massenmedien und Werbebranche kam es ab den 80er und besonders innerhalb der 90er Jahre zu einer Pluralisierung der Jugendkulturen.[58] Durch die gestiegenen Freizeit- und Konsummöglichkeiten ist Jugendkultur „[...] eher ein Ausgleich zum Alltag, eine Vergnügungskultur [...]“ geworden, dient aber „[...] weiterhin den Jugendlichen zur Abgrenzung von Erwachsenen.“[59]
Allen Jahrzehnten des Zusammenschlusses in jugendkultureller Aktivitäten bleibt die Gemeinsamkeit des Suchens und Findens einer Gruppenidentität. Dieses Suchen und Finden scheint jedoch besonders durch die heutige Bindung jugendkultureller Ausformungen an Konsumverhalten, wiederum durch die jeweilige sozioökonomischen Voraussetzungen der Herkunftsfamilie mitbestimmt zu werden. Dies legt auch der Elfte Kinder- und Jugendbericht nahe: „Die Verfügbarkeit kultureller und sozialer Kapitalia, die im Rahmen familiärer Sozialisation erworben wurden, grenzt gleichzeitig die Möglichkeiten von Zugängen zu peer-groups und daran geknüpfte Lebens-, Freizeit- und Konsumstilen ein.“[60] Laut dem Bericht hat die jüngste Shell- Jugendstudie als liebste Freizeitaktivität Jugendlicher Feiern und Partys(98%) ermittelt, gefolgt von zu Hause Musik hören (96%), dem Einkaufsbummel (92%), Rumhängen (88%), Urlaubsreisen (87%), Diskobesuch(85%), Kneipenbesuch(82%), Sport(81%), Spazieren gehen(79%), Konzertbesuch (71%), am Computer spielen/arbeiten (69%) und Hausaufgaben (68%).[61] Diese Zahlen unterstreichen die vielfach von finanziellen Ressourcen abhängige, konsumorientierte Freizeitgestaltung Jugendlicher in ihren Gleichaltrigengruppen.
Dennoch erfüllt die Gleichaltrigengruppe auch andere wichtige Funktionen.
Hurrelmann beschreibt die Gleichaltrigengruppe als `Freizeitpartner´ und die Familie als `Karriereberater´. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das `Ergänzungsverhältnis´ der beiden Sozialisationsinstanzen Familie und Gleichaltrigengruppe. Nach ihm stellt dieses Kräfteverhältnis jedoch lediglich als das hauptsächlich vorherrschende dar. Bei ungünstigem, gestörtem Verhältnis zu mindestens einem Elternteil, können sich auch Sozialisationsanteile aus dem Bereich der Familie in die Gleichaltrigengruppe verschieben.[62] „Eine intensive Gruppendynamik mit festen Zugehörigkeitsmerkmalen kann die Gleichaltrigengruppe zum dominierenden Orientierungs- und Handlungsfeld im Jugendalter machen, besonders, wenn dies der Lebenslage und Interessenorientierung der Jugendlichen entgegenkommt. [...] Genau in dieser Prägekraft kann auch ein ungünstiger Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Mitglieder bestehen und der Einstieg in abweichende soziale Verhaltensweisen (Aggressivität, Gewalt, Kriminalität, Konsum illegaler Drogen) erfolgen.“[63] Außerdem kann es auch zu einer schlechten Anbindung an Gleichaltrige kommen, was für den Einzelnen ebenfalls zu einer starken Belastung werden und eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung negativ beeinflussen kann.[64]
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Gleichaltrigengruppen Hilfe bei der Identitätsfindung durch Differenzerfahrung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ebenso wie zwischen den Jugendlichen selbst dient. Sie bietet „[...] Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Alternativen zur Routine des familialen und schulischen Alltags sowie soziale Anerkennung, Sicherheit und Solidarität vor allem über befriedigende soziale Kontakte.“[65] Das Testen der eigenen Grenzen und Fähigkeiten im direkten Vergleich mit Gleichaltrigen sind ebenso wichtige Elemente der Gleichaltrigengruppe wie ihre Funktion als Erfahrungsraum für erotische und sexuelle Bedürfnisse.
2.3.5 Religion und Kirche
Inwiefern Kirche und Religion heutzutage noch eine bedeutsame, eigenständige Rolle in der Sozialisation Jugendlicher spielen, lässt sich sicher kontrovers diskutieren. Während Hurrelmann nicht gesondert auf Kirche und Religion als eigenständiges Sozialisationsfeld eingeht und sich dieser Bereich innerhalb seiner vier sozialen Dimensionen am ehesten unter “kulturelle und politische Partizipation“ einordnen ließe[66], erhalten sie bei Schäfers die unter 2.3. aufgeführte eigenständige Bedeutung. Was aber eindeutig erscheint, ist der Umstand, dass die übrigen Sozialisationsinstanzen in der Vermittlung von ethisch- moralischen Grundwerten geprägt sind von christlichen Werthaltungen, die über die Jahrhunderte unsere Kultur geformt haben. Kirche als Institution hat jedoch für Jugendliche keine besonders hohe Bedeutung.
Die Frage nach der Häufigkeit von Kirchenbesuchen stellte in einer Umfrage das Ipos-Institut:[67]
Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten
(alle Werte sind exakt der angegebenen Quelle entnommen. Unlogische Summen basieren daher nicht auf Tippfehlern)
Die extreme Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland rührt daher, dass die atheistische Ausrichtung der DDR-Gesellschaft ein Grundzug der Politik der SED war.
„Der Institutionalisierungsgrad von Religiosität ist rückläufig; es wäre aber falsch, bereits diese Erscheinung auch als Indikator für das Entschwinden von Gläubigkeit zu nehmen. Diese wird, vergleichbar anderen Phänomenen der sog. Postmoderne, eine Sache der Privatheit, des Meinens, der Selbstorganisation.“[68] Auch wenn also die direkte Anbindung an eine institutionalisierte Religion abnimmt, erhält sich der Glaube an einen Gott oder eine
überirdische Macht. Statistisch weist das auch eine weitere Umfrage des Ipos-Institut nach.[69] Danach glauben 82% der 14-27jährigen in Westdeutschland daran, dass es Gott oder eine andere überirdische Macht gibt, In Ostdeutschland sind es 49%.
Westdeutschland 1999 Ostdeutschland 1999
Abbildung in ieser Leseprobe nicht enthalten
(alle Werte sind exakt der angegebenen Quelle entnommen. Unlogische Summen basieren daher nicht auf Tippfehlern)
Es scheint also unter der heutigen Jugend ein erweitertes Verständnis von Gott zu geben, dass in irgendeiner Weise zur Entwicklung einer individuellen oder kirchlich geprägten Spiritualität geeignet ist. Zur Verdeutlichung wird an dieser Stelle auf einen nicht repräsentativen Erfahrungsbericht verwiesen.[70]
Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass Religion und Kirche in ihrer traditionellen Ausprägung an Bedeutung für die Sozialisation junger Menschen verlieren. Dennoch ist unser Kulturkreis ein christlich geprägter und vermittelt entsprechende Normen auch innerhalb anderer Sozialisationsinstanzen. Der Glaube an und damit vielleicht auch die Suche nach etwas Höherem, einem Gott oder einer überirdischen Macht, steht weiterhin im Interesse Jugendlicher. Die Befriedigung spiritueller Bedürfnisse wird zur Privatsache und findet eher individuell, als innerhalb großer Religionsgemeinschaften statt. Weder in der hier bearbeiteten Literatur, noch in den angeführten Statistiken werden Gruppen anderen Glaubens als dem des christlichen berücksichtigt.
Der heutzutage sicher nicht geringe Anteil z.B. islamisch Gläubiger Jugendlicher ist nicht erfasst und in seiner Bedeutung untersucht. Da eine in diese Richtung gehende Erweiterung mit Hilfe spezieller Untersuchungsergebnisse den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und auch nicht deren Thema ist, soll lediglich auf den beschriebenen Umstand verwiesen werden.
2.4 Besondere gesellschaftliche Situation Jugendlicher heute
Stichworte wie Individualisierung, Entstrukturierung und Pluralisierung von Lebensstilen werden in der Diskussion zur Situation der Jugend häufig genannt. Gemeint sind damit gesellschaftliche Prozesse, vornehmlich der letzten 20 Jahre, die besonders die Lebenswelt Jugendlicher in entscheidender Weise beeinflussen. Es handelt sich um Vorgänge, die die Bedeutung und Gewichtung der einzelnen Sozialisationsinstanzen verändern bzw. neue Anforderungen an diese stellen. Sie sind deshalb im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit wichtig, weil sie auch Anforderungen an die Praxis sozialer Arbeit stellen. Die folgenden Begriffsklärungen sollen dazu beitragen, zu verdeutlichen, welche Phänomene den Begriff einer `modernen Gesellschaft´ in sozialer und sozioökonomischer Hinsicht mitbestimmen.
[...]
[1] An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass, um den Lesefluss zu gewährleisten, ausschließlich die maskuline Allgemeinform verwendet wird. Selbstverständlich umfassen alle Formulierungen dennoch ebenso angehörige des weiblichen Geschlechts.
[2] vgl.: Hurrelmann, Klaus: Leben sphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 6. Aufl., München: Juventa, 1999, S.26
[3] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.23
[4] Stimmer, Franz (Hrsg.): Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit. 4. Aufl., München, Wien: Oldenbourg, 2000, S.344
[5] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.30-31
[6] vgl.: Hurrelmann, a.a.O., S.31
[7] Oerter, Rolf; Dreher, Eva in Oerter, Rolf; Montada, Leo: Entwicklungspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union, 1995, S.310
[8] vgl.: Schäfers, Bernhard: Soziologie des Jugendalters. Opladen: Leske+Budrich 1998, S.21
[9] vgl.: Oerter, Rolf; Dreher, Eva a.a.O., S.311
[10] vgl.: KJHG §7
[11] JGG §1
[12] vgl.: Stimmer, Franz (Hrsg.): a.a.O., S.182
[13] vgl.: Stimmer, Franz (Hrsg.): ebd.
[14] Oerter, Rolf; Montada, Leo: a.a.O., S.7
[15] Oerter, Rolf; Montada, Leo: a.a.O., S.554
[16] vgl.: Oerter, Rolf; Montada, Leo: a.a.O., S.548
[17] vgl.: Oerter, Rolf; Montada, Leo: a.a.O., S. 8
[18] vgl.: Oerter, Rolf; Montada, Leo: ebd.
[19] vgl.: Oerter, Rolf; Montada, Leo: a.a.O., S.16
[20] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.33-34
[21] vgl.: Spranger Eduard in Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 88
[22] Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 100
[23] Stimmer, Franz (Hrsg.): a.a.O., S. 705
[24] Stimmer, Franz (Hrsg.): a.a.O., S. 667
[25] Heckmair, Bernd; Michl, Werner; Walser, Ferdinand (Hrsg.): Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit. Erlebnis im gesellschaftlichen Diskurs und in der pädagogischen Praxis.
Alling (Dr. Jürgen Sandmann) 1995.
[26] vgl.: Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 115
[27] Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Bericht. Mannheim: 1999, S.1
[28] Auf die bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West soll hier nicht weiter eingegangen werden, da dies den Rahmen sprengen würde.
[29] vgl.: Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 1 17
[30] vgl.: Schäfers, Bernhard: ebd.
[31] Vgl. Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 119
[32] vgl.: Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: a.a.O., S. 41
[33] vgl.: Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: a.a.O., S. 12
[34] vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin, 2002, S. 125
[35] vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: S. 126
[36] vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: ebd.
[37] vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: ebd.
[38] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.107
[39] vgl.: Schäfers, Bernhard: a.a.O., S.131
[40] vgl.: Schäfers, Bernhard: a.a.O., S.130
[41] Duden: Aspiration= Bestrebung, Hoffnung, ehrgeiziger Plan
[42] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.115
[43] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.88
[44] Duden: antizipatorisch= etwas (eine Entwicklung o.ä.) [bewusst] vorweg nehmend
[45] Schäfers, Bernhard: a.a.O., S.132
[46] vgl.: Schäfers, Bernhard: ebd.
[47] Brendtro, Larry K.; Brokenleg, Martin; Bockern, Steve Van: Kindheit und Jugend zwischen Entmutigung und Zuversicht. Ein indianischer Weg - Perspektiven für eine bessere Zukunft. Lüneburg: Edition Erlebnispädagogik. 1995, S.84
[48] Brendtro, Larry K.; Brokenleg, Martin; Bockern, Steve Van: Kindheit und Jugend zwischen Entmutigung und Zuversicht. Ein indianischer Weg - Perspektiven für eine bessere Zukunft. Lüneburg (Edition Erlebnispädagogik) 1995, S.27
[49] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.107
[50] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 106
[51] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 94
[52] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 95
[53] vgl.: Hurrelmann, Klaus: ebd.
[54] vgl.: Hurrelmann, Klaus: ebd.
[55] vgl.: Stimmer, Franz (Hrsg.): S. 493
[56] vgl.: Schröder, Achim; Leonhardt, Ulrike: Jugendkulturen und Adoleszenz. Was Jugendliche suchen und was sie brauchen. Neuwied; Kriftel: Luchterhand, 1998, S. 18
[57] vgl.: Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: a.a.O.: S. 84
[58] vgl.: Schröder, Achim; Leonhardt, Ulrike: a.a.O.: S.18-19
[59] vgl.: Shell-Jugendstudie 1997 in Schröder, Achim; Leonhardt, Ulrike: a.a.O.: S. 19
[60] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: a.a.O.: S. 128
[61] vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: a.a.O.: S. 127
[62] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 154
[63] Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 152
[64] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 152-155
[65] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S. 153
[66] vgl.: Hurrelmann, Klaus: a.a.O., S.87
[67] vgl. Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: a.a.O., S. 55
[68] Barz 1992 in Schäfers, Bernhard: a.a.O., S. 145
[69] vgl. Berger, Manfred; Jung, Matthias; Roth, Dieter: a.a.O., S. 56
[70] siehe Anhang I
- Citation du texte
- Dipl. Sozialarbeiter Andreas Voss (Auteur), 2002, Bedeutung von sinnhaften Erlebnissen und natürlichen Umwelten für die Entwicklung von Jugendlichen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60502
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