In der Arbeit über die Ursachenforschung und Beschreibung von Sprachstörungen in der Sprachheilkunde im Nationalsozialismus ist untersucht worden, wie sich die Inhalte dieser Fachwissenschaft während der Diktatur entwickelt haben. Schwerpunkt ist besonders die Ursachenforschung und Beschreibung der drei Störungsbilder Stottern, Dyslalie und der Lippen - Kiefer – Gaumenspalte (LKG).
Geographisch und politisch bezieht sich die Arbeit auf das nationalsozialistische Deutschland. Der Nationalsozialismus ist nicht soweit gegangen, dass er Menschen mit Sprachstörungen im Sinne der Euthanasie verfolgt hat. Behinderte Menschen hatten im Nationalsozialismus eine Daseinsberechtigung, wenn sie arbeitsfähig waren. Es musste sich volkswirtschaftlich lohnen, einen Menschen zu behandeln. Gegenstand dieser Arbeit ist es, herauszufinden, ob Sprachstörungen im Sinne der Rassenpflege und Erbbiologie erklärt worden sind, um dadurch z.B. Menschen mit Sprachstörungen unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fallen zu lassen. Diese Untersuchung geschieht anhand der Diskussion um Erklärungs- und Erscheinungsbilder von Sprachstörungen und soll aufzeigen, inwieweit die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus einen Weg in die Fachdisziplin Sprachheilkunde gefunden hat.
Nach einem einleitenden Kapitel wird im zweiten Kapitel das Verständnis von Sprachheilkunde in jener Zeit dargestellt. Dies erscheint wichtig, da die Untersuchung der Primärquellen im Hauptteil dieser Arbeit auch einen Überblick über die inhaltliche Diskussion innerhalb der Sprachheilkunde ergeben soll und nicht losgelöst von der Fachsdisziplin Sprachheilkunde gesehen werden darf.
Es werden Primärquellen von 1933 bis 1944 zu den drei Störungsbildern ausgewertet. Dabei wird hinterfragt, ob ätiologische Faktoren, die auf Erblichkeitsstheorien und Erblichkeitsforschungen basieren mehr Bedeutung gewannen und ob diese an bestehende Erklärungsbilder anknüpfen, diese verändern oder erweitern. Außerdem wird eine veränderte Beschreibung von Sprachstörungen mit beachtet. Gleichzeitig werden daraus veränderte Auswirkungen für die betroffenen Menschen mit aufgezeigt.
Im darauf folgenden Kapitel werden die Auswirkungen für Menschen mit Sprachstörungen von einer anderen Seite beleuchtet, indem die Praxis des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ untersucht wird.
Im Schlusskapitel wird kurz zusammenfassend dargestellt, welche Ergebnisse die Untersuchung der Quellen ergeben haben.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
1.1 Das Thema
1.2 Zur Methodik und Quellenlage
2. VOM VERSTÄNDNIS DER SPRACHHEILKUNDE UND –PÄDAGOGIK IM NATIONALSOZIALISMUS
2.1 Zur Begrifflichkeit und zum Standort der Sprachheilkunde, Sprachheilpädagogik und Sprachheillehrer in der ausgehenden Weimarer Republik und im Dritten Reich
2.1.1 Der naturwissenschaftlich – medizinische Standort
2.1.2 Die pädagogische Arbeit in der der Sprachheilkunde
2.2 Das Verständnis von Spracherwerb, Sprachentwicklung und Sprachstörung
2.3 Klassifizierung von Sprachstörungen
3. WISSENSCHAFT, THEORIEBILDUNG UND DIE FRAGE DER VERERBUNG IM NATIONALSOZIALISMUS
3.1 Wissenschaft und Theoriebildung im Dritten Reich
3.2 Erbliche Faktoren im Ursachenkomplex Sprachstörungen
4. ERKLÄRUNGSBILDER FÜR STOTTERN
4.1 Beschreibung und Ätiologie vor 1933 und in der Übergangszeit
EXKURS: Geißler vs. Appelt – ein Beispielfür die diffamierende Behandlung von Wissenschaftlern nach der Machtübernahme
4.2 Beschreibung und Einteilung in der Symptomatik von Stottern nach 1933
4.3 Theoretische Ansätze mit einem besonderen Bezug zur Ätiologie von Stottern
4.3.1 Forschung zu Erblichkeitsverhältnissen
4.3.1.1 Karl Helwig
4.3.1.2 Hermann Gutzmann jun
4.3.1.3 Hugo Staak
4.3.1.4 Zwillingsforschung
4.3.2 Ideologisch konforme Erklärungen
4.3.2.1 Max Nadoleczny
4.3.2.2 Stottern aufgrund einer schwachen Konstitution und nach Infektionskrankheiten
4.3.2.3 Stottern als Fehllebensvorgang – Einordnung in die Philosophie Ludwig Klages
4.3.2.4 Julius Gehricke
4.3.3 Andere Strömungen
4.3.3.1 Rudolf Werner
4.3.3.2 Josef Schmücker
4.4 Konsequenzen im Umgang und Therapie von stotternden Menschen
5. ERKLÄRUNGSBILDER FÜR DYSLALIE
5.1 Beschreibung und Ursachenerklärung vor 1933 und in der Übergangszeit
5.2 Beschreibung nach 1933
5.3 Erklärungsbilder von Dyslalien und mögliche Konsequenzen
6. Die Erforschung der Erblichkeitsverhältnisse der Lippen – Kiefer – Gaumenspalte
6.1 Beschreibung und die Frage der Vererbung bei LKG nach 1933
6.2 EXKURS: Josef Mengele – Der „Teufel von Auschwitz“ und die Ursachen-
forschung der LKG
6.3 Andere Forschungen zu Erblichkeitsverhältnissen
6.4 Die Diskussion um Sterilisation von Menschen mit LKGs
7. DAS GESETZ ZUR VERHÜTUNG ERBKRANKEN NACHWUCHSES UND SEINE AUSWIRKUNGEN AUF MENSCHEN MIT SPACHSTÖRUNG
7.1 Gesetze und Erlasse zum GzVeN
7.2 Zwangssterilisation von sprachbehinderten Menschen?
7.2.1 Menschen mit Sprachstörungen durch Lippen – Kiefer – Gaumenspalten.
7.2.2 Menschen mit anderen Sprachstörungen
8. ERGEBNIS DER UNTERSUCHUNG UND ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG FÜR DIE SPRACHHEILKUNDE
8.1 Bedeutung für die nationalsozialistische Sprachheilkunde
8.2 Darstellung der Ergebnisse
8.3 Neuanfang oder Kontinuität – Ausblick auf die Sprachheilkunde nach 1945
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
„Professionalität bedarf der vergegenwärtigenden Erinnerung, der Aufarbeitung und Einarbeitung der fachlichen Vergangenheit samt ihrer dunklen Seiten. Gerade diese zu vergessen oder zu verdrängen, macht anfällig für unkritisches, verblendetes oder im bloß gegenwärtigen eingefrorenes Denken und Handeln.“ (Martin Doehlemann 1990 zit. n. Stahlmann 1992, S. 72)
1. Einleitung
1.1 Das Thema
In meiner Arbeit über die Ursachenforschung und Beschreibung von Sprachstörungen in der Sprachheilkunde im Nationalsozialismus soll untersucht werden, wie sich die Inhalte dieser Fachwissenschaft während der Diktatur entwickelt haben. Dabei geht es mir besonders um die Ursachenforschung und Beschreibung der drei Störungsbilder Stottern, Dyslalie und der Lippen - Kiefer - Gaumenspalte.
Geographisch und politisch bezieht sich die Arbeit auf das nationalsozialistische Deutschland. Der Nationalsozialismus ist nicht soweit gegangen, dass er Menschen mit Sprachstörungen im Sinne der Euthanasie verfolgt hat. Behinderte Menschen hatten im Nationalsozialismus eine Daseinsberechtigung, wenn sie arbeitsfähig waren. Es musste sich volkswirtschaftlich lohnen, einen Menschen zu behandeln. Gegenstand dieser Arbeit ist es, herauszufinden, ob Sprachstörungen im Sinne der Rassenpflege und Erbbiologie erklärt worden sind, um dadurch z.B. Menschen mit Sprachstörungen unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fallen zu lassen. Diese Untersuchung geschieht anhand der Diskussion um Erklärungs- und Erscheinungsbilder von Sprachstörungen und soll aufzeigen, inwieweit die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus einen Weg in die Fachdisziplin Sprachheilkunde gefunden hat.
Nach einem einleitenden Kapitel wird im zweiten Kapitel das Verständnis von Sprachheilkunde in jener Zeit dargestellt. Dies erscheint wichtig, da die Untersuchung der Primärquellen im Hauptteil dieser Arbeit auch einen Überblick über die inhaltliche Diskussion innerhalb der Sprachheilkunde ergeben soll und nicht losgelöst von der Fachsdisziplin Sprachheilkunde gesehen werden darf.
Es werden Primärquellen aus der Zeit von 1933 – 1944 zu den Störungsbildern Stottern, Dyslalie und der Lippen - Kiefer – Gaumenspalte ausgewertet. Dabei wird hinterfragt, ob ätiologische Faktoren, die auf Erblichkeitsstheorien und Erblichkeitsforschungen basieren mehr Bedeutung gewannen und ob diese an bestehende Erklärungsbilder anknüpfen, diese verändern oder erweitern. Außerdem soll eine veränderte Beschreibung von Sprachstörungen mit beachtet werden. Gleichzeitig werden daraus veränderte Auswirkungen für die betroffenen Menschen mit aufgezeigt.
Die Auswahl der drei Störungsbilder ergab sich daraus, dass die Diskussion vor allem um die Störungsbilder Stottern und Dyslalie geführt wurde. Da gerade Kinder mit LKG eine Zielgruppe der Sprachheilkunde sind, wurde es für notwendig erachtet, Auswirkungen des Nationalsozialismus auf das organische Störungsbild LKG mit zu untersuchen.
Im darauf folgenden Kapitel werden die Auswirkungen für Menschen mit Sprachstörungen von einer anderen Seite beleuchtet, indem die Praxis des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses untersucht wird.
Im Schlusskapitel wird noch einmal kurz zusammenfassend dargestellt, welche Ergebnisse die Untersuchung der Quellen ergeben hat.
1.2 Zur Methodik und Quellenlage
Die Arbeit beschäftigt sich mit einer historischen Fragestellung der Sprachheilpädagogik.
Daher wurde die Dokumentenanalyse als Methode gewählt, ein Untersuchungsverfahren der qualitativen Forschung. Nach Mayring wird eine systematische Vorgehensweise durch 4 Schritte gewährleistet: (vgl. Mayring 1996, S. 34)
Formulierung der Fragestellung
Definition und Festlegung des Ausgangsmaterials
Quellenkritik
Interpretation im Hinblick auf die Fragestellung
Die Arbeit versucht dieser Vorgehensweise zu folgen.
Für diese Arbeit wird ausschließlich auf veröffentlichtes Material zurückgegriffen. Dazu zählen Fachliteratur, Zeitschriftenartikel, Aufsätze in wissenschaftlichen Publikationen und dokumentierte Diskussionen, Debatten und Fachtagungen. Als Ausgangsquelle für die Entwicklung von erblichen Erklärungsbildern in der Sprachheilkunde im Nationalsozialismus wurde “Die deutsche Sonderschule“, das offizielle Organ der Reichsfachschaft V (Sonderschule) im NS - Lehrerbund gewählt. Wenngleich dies eine Zeitschrift ist, die auf das praktische Betätigungsfeld Schule der nationalsozialistischen Sonderpädagogik und damit dem Sprachheilwesen abzielt, so war diese Zeitschrift jedoch auch Plattform für die Diskussion um Erblichkeit und Rassenpflege im Sonderschulwesen des Dritten Reiches. Außerdem hat sich diese Zeitschrift bemüht, sämtliche offiziell erschienenen Bücher und Zeitschriftenartikel zur Sprachheilkunde zu rezensieren, so dass man davon ausgehen kann, über diese Zeitschrift einen hohen Prozentsatz der im Dritten Reich veröffentlichten Literatur erfassen zu können. Außerdem soll auch der Versuch unternommen werden, herauszufinden, welche Auswirkungen mögliche neue erbliche Ursachenfaktoren auf den Umgang und Therapie von Menschen mit Sprachstörungen hatten. Dafür ist “Die deutsche Sonderschule“ eine gute Möglichkeit, da Auswirkungen in einer veränderten Sichtweise auf die Ätiologie von Sprachstörungen sich wahrscheinlich zuallererst im Sprachheilunterricht zeigten. Allerdings muss man sich bewusst machen, dass es heutzutage kaum noch möglich ist, diese Auswirkungen für Menschen mit Sprachstörungen zu untersuchen. Der zeitlich große Abstand macht z.B. die Methode des Oral History fast unmöglich und veröffentlichte Literatur aus der Zeit des Nationalsozialismus ist immer eine selektierte, zensierte Literatur. „Die deutsche Sonderschule“ ist offizielles Organ einer NSDAP – Vereinigung gewesen. Man kann nicht davon ausgehen, dass Autoren, die in dieser Zeitschrift veröffentlicht haben (Sprachheillehrer wie auch Ärzte), für die Gesamtheit der Menschen steht, die sich mit den Ursachen und der Behandlung von Sprachstörungen beschäftigt haben. Aber die Untersuchung dieser Quellen steht für die Darstellung einer Tendenz, einer möglichen Verschiebung des Schwerpunktes innerhalb der Sprachheilkunde.
Als ein Problem bei der Sichtung der Quellen stellte sich heraus, dass die Verfasser sich auf andere Autoren beziehen, für die sie jedoch sehr oft keine Quellenangabe gemacht haben und dieser Bezug als Behauptung stehen bleibt. Für die Zeit des Nationalsozialismus ist dies umso problematischer, da oftmals die Bezüge diffamierenden Charakter haben oder bei näherer Untersuchung manchmal die gemachte Behauptung einfach falsch ist. Im Rahmen dieser Arbeit wird versucht, Autoren und Theorien so zu beschreiben, dass entweder der Bezug zu Primärquelle klar erkennbar ist oder es wird auf eine problematische Beweisführung durch den Autor hingewiesen. Dies geschieht im Rahmen der Quellenkritik.
Ein einseitiges Darstellen von Quellen, die sich mit der Ursachenforschung „Vererbung“ beschäftigen, könnte ein verfälschtes Bild von der Sprachheilkunde geben. Daher werden auch Theorien mit angeführt, die sich nicht mit der Thematik „Vererbung“ beschäftigen. Die Auswahl der Quellen geschieht in der Weise, dass einerseits für alle relevanten Fragen dieser Arbeit aus heutiger Sicht bedeutsame Autoren hinzugezogen werden, sofern sie sich dazu geäußert haben. Dies gilt für Hermann Gutzmann jun. und Max Nadoleczny. Des Weiteren wurde Fritz Steiniger ausgewählt, der heutzutage ziemlich unbekannt ist, sich jedoch im Dritten Reich sehr ausführlich mit strukturellen Fragen des deutschen Sprachheilwesens beschäftigte und sich außerdem als Erbbiologe intensiv mit der Frage der Vererbung von Sprachstörungen auseinandergesetzt hat. Es wurde jedoch auch für wichtig erachtet, weniger bedeutende und in ihrem Aufbau sehr unterschiedliche Quellen mit zu beachten, um einen guten Überblick geben zu können und ein Gleichgewicht zwischen führenden Vertretern und der „Basis“, zwischen Theorie und Praxis herstellen zu können. Deshalb sind auch einige unbedeutende Autoren mit aufgeführt. Es soll somit ein Gesamtbild der deutschen Sprachheilkunde zur Ursachenforschung und Beschreibung von Sprachstörungen entstehen und gezeigt werden, was dies für den einzelnen Menschen mit einer Sprachstörung im Nationalsozialismus bedeutet hat.
2. Vom Verständnis der Sprachheilkunde und -pädagogik im Nationalsozialismus
2.1 Zur Begrifflichkeit und zum Standort der Sprachheilkunde, Sprachheilpädagogik und Sprachheillehrer in der ausgehenden Weimarer Republik und im Dritten Reich
2.1.1 Der naturwissenschaftlich - medizinische Standort
“Die Logopädie ist eine medizinische Wissenschaft“ (Fröschels 1931, VII). Dies ist der erste Satz im Vorwort des “Lehrbuch der Sprachheilkunde“ von Emil Fröschels. Ihm war es in den Zwanziger Jahren ein besonderes Anliegen, die noch junge Wissenschaft als eine medizinische Fachdisziplin zu etablieren. Obwohl er die Professur für Sprach- und Stimmheilkunde in Wien inne hatte, wurde dieses Lehrbuch ebenfalls in Leipzig verlegt und kann aufgrund seiner Fülle als das Standardwerk der Sprach- und Stimmheilkunde Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland angesehen werden, da es inhaltlich auf die physiologischen Aspekte von Stimme und Artikulation, auf die Sprachentwicklung und den damals klassifizierten Sprachstörungen in einer medizinischen Fachsprache eingeht. Emil Fröschels war jedoch jüdischer Abstammung und emigrierte in die USA. Fröschels wird im beginnenden Dritten Reich manchmal noch zitiert, seine Bedeutung für die deutsche Sprachheilkunde schwindet jedoch.
Neben diesem Werk gab es verschiedene Ausführungen zu Sprachentwicklung und Sprachstörungen, hier ist ganz besonders von Hermann Gutzmann jun. “Des Kindes Sprache und Sprachfehler“ zu nennen. 1891 von Hermann Gutzmann sen. erstmalig herausgebracht, wurde es 1931 in einer dritten Auflage von Hermann Gutzmann jun. publiziert. Im Vorwort zur dritten Auflage manifestiert sich der medizinische Standort der Logopädie in den Worten: „ Es fehlt aber immer noch ganz allgemein die Erkenntnis, daß es sich bei den Sprachfehlern (...) um wirklich echte Krankheiten handelt“ (Gutzmann 1931, IX).
Eine genauere Standortbestimmung in der Zeit des Dritten Reiches ist durch Johannes Wulff, Oberlehrer für Sprachkranke in Hamburg geschehen: “Wir sehen, daß dieses Fach größtenteils auf medizinischen Boden gewachsen ist und von dort auch immer wieder bereichert wird“ (Wulff 1941, S. 376). Er sieht die Sprachheilkunde als eine multidisziplinäre Wissenschaft, die sich vor allem aus Wissen der medizinischen Fachgebiete wie Anatomie, Physiologie, Neurologie, Psychopathologie, Psychologie und Zahnheilkunde zusammen setzt, außerdem kommen noch Experimentalphonetik, Sprachwissenschaft, Vererbungswissenschaft, Sprecherziehung und die “Heilarbeit mit Sprachgestörten“ hinzu (vgl. Wulff 1941, S. 376). Die Pädagogen “gehen bei dem Mediziner in die Schule und empfangen von ihm die Grundlagen ihrer praktischen Arbeit“ (Wulff 1941, S. 376). All dies sieht er als Grundlage für die Sprachheilarbeit und weist nun in der praktischen Arbeit der Pädagogik einen großen Stellenwert zu, indem der Pädagoge nicht nur heilen, sondern auch erziehen soll (vgl. Wulff 1941, S. 377).
Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Sprachkunde als eine medizinische Wissenschaft gesehen wurde, wenngleich die Behandlung der sprachgestörten Kinder doch zumeist in einer Sprachheilschule durch Sonderschullehrer geschah, ist die Tatsache, dass z.B. eine Dissertation zum Stottern an der Medizinischen Fakultät der Schlesischen Universität Breslau vorgelegt wurde (Rauthe 1936) und der Verfasser Zahnarzt war (Rauthe 1936, S. 31).
Die Sprachheilkunde unterlag jedoch einer Wechselbeziehung zwischen Medizin und Pädagogik. Dies zeigt sich im Spannungsfeld um den therapeutisch Wirkenden. Mediziner stellten die Erkenntnisse auf und waren auch auf die Lehrer angewiesen, jedoch formulierte Flatau die Bedeutung des Sprachheillehrers für die Sprachheilkunde folgendermaßen:
“Der Phoniater wird gern dem Lehrer geben, was ihm gebührt. Aber er muß davon ausgehen, daß es sich in der weitaus größeren Zahl der Stimm- und Sprachkranken um Patienten handelt, die eben einer Behandlung und der ärztlichen Überwachung nicht entraten können.“ (Flatau 1930, zit. n. Kolonko / Krämer 1992, S. 25).
Jedoch wird sich nun auch von Seiten der Pädagogen gegen den Begriff “sprachkrank“ und den daraus gezogenen Schluss, dass Mediziner für die Therapie zuständig seien gewehrt: “Wenn nämlich Sprachstörung ein und dasselbe wie Sprachkrankheit ist, dann gliedert sich leicht die Schlußkette an: Krankheiten sind zu heilen, das ist die Aufgabe des Arztes, also hat der Lehrer kein Recht zur Behandlung von Sprachstörungen.“ (Hansen 1930, S. 79 zit. n. Kolonko / Krämer 1992, S. 25).
Auffällig ist, dass sich die Logopädie und die Sprachheilpädagogik in Deutschland heute oftmals in der Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Anfängen ihrer beiden Disziplinen auf dieselben Ereignisse und Personen beziehen, was einmal mehr Wechselbeziehung und Verquickung dieser beiden Fachdisziplinen zeigt. Vergessen darf man dabei nicht, dass, wenn man von einer Sprachheilpädagogik zu jener Zeit schon sprechen kann, diese viel medizinischer auszulegen ist, als man es im heutigen Verständnis dieser Fachdisziplin tut. Nach Kolonko / Krämer ist die Sprachheilpädagogik als ein „Ableger“ der Sprachheilkunde zu betrachten, die sich mit „Fragen der Behandlung und Beschulung sprachbehinderter Kinder“ beschäftigt (vgl. Kolonko / Krämer 1992, S. 23). In der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus ist eine klare Trennung zwischen den beiden Termini Sprachheilkunde und Sprachheilpädagogik kaum möglich, ebenso wie eine klare Definition der beiden Begriffe nicht stattfinden kann.
Als Beispiel dafür, dass es heute schwierig ist, zwischen den Termini Sprachheilkunde und Sprachheilpädagogik zu unterscheiden, kann die historische Wirkung von Hermann Gutzmann jun. dienen. Hermann Gutzmann jun., von Beruf her Mediziner, arbeitete ab 1926 unter der Leitung von Flatau am Ambulatorium für Stimm- und Sprachstörungen an der Charité Berlin. Nach der Emigration Flataus 1933 war er alleiniger Leiter des Ambulatoriums, nachdem er 1932 in “Störungen der Sprache und Stimme“ habilitiert hatte (vgl. Stürzbecher 1994, S. 32f.). Diese Fakten deuten auf eine rein medizinische Laufbahn als Phoniater, später Logopäde hin, jedoch trat Gutzmann schon 1933 in den NS - Lehrerbund ein, die Aufnahme in den NS - Medizinerbund erfolgte dagegen erst 1936. Gutzmann war auch auf Tagungen der Reichsfachschaft V vertreten, trat als Redner auf und hat richtungsweisende Aussagen gemacht, wie sich später in dieser Arbeit noch zeigen wird (vgl. Kapitel 4.3.1.2 & 5.3). Auch war er mit am Aufbau des Berliner Sonderschulwesens beteiligt, er arbeitete von 1933 - 1942 als Schularzt an der Sprachheilschule Berlin - Neukölln, ab 1942 - 1945 an allen Sprachheilschulen Berlins (vgl. Stürzbecher 1994, S. 42; S. 56). Die heutige Sprachheilpädagogik verweist immer wieder auf die Bedeutung Hermann Gutzmann jun., so stellt Maihack seine Arbeit in der Sprachheilpädagogenausbildung heraus (Maihack 2001, S. 38), Holtz seine Bedeutung innnerhalb der Standortbestimmung der Sprachheilpädagogik in faschistischer Zeit (Holtz 1984, S. 52f.). Die Logopäden dagegen sehen Gutzmanns Verdienst in der Entwicklung und Leitung der ersten Logopädenschule in Berlin (vgl. Gross 1994, S. 4).
Die Sprachheilkunde wie auch die Sprachheilpädagogik haben in sich Medizin und Pädagogik vereinigt, wobei man heute sagen kann, dass bei der Frage, was Sprachstörung und Sprachbehinderung war, mehr eine medizinische Sichtweise überwog, die Mediziner richtungsweisend waren, aber die Arbeit an der Basis von Pädagogen, von Sonderschullehrern ausgeführt worden ist.
2.1.2 Die pädagogische Arbeit in der Sprachheilkunde
Um die Wirklichkeit der pädagogischen Arbeit in der Sprachheilkunde zu verstehen, müssen die Bedingungen und Voraussetzungen untersucht werden, unter denen dieses Praxisfeld existieren konnte. Dabei geht es einmal um das Aufgabenfeld des Sprachheillehrers, aber auch um die ideologischen Bedingungen und woraus diese sich entwickelt haben.
Nach Maihack führt der Terminus “Sprachheillehrer“ für die Zeit der Weimarer Republik und Nationalsozialismus oftmals zu Missverständnissen. Dieser Begriff bezieht sich bis 1945 nicht nur auf den Raum der Sprachheilschule, sondern auf unterschiedliche Tätigkeitsfelder, die mit Sprachstörungen zu tun haben (vgl. Maihack 2001, S. 41f.).
Noch vor den Sprachheilschulen hat es die Stottererkurse gegeben, in denen Sprachheillehrer therapiert haben. Diese sprachheiltherapeutischen Kurse gab es neben den Sprachheilschulen noch bis 1945, sie bildeten ein wichtiges Tätigkeitsfeld für die Sprachheillehrer. Holtz weist den Sprachheilkursen für die ausgehende Weimarer Republik sogar eine viel wichtigere Rolle zu als den Sprachheilschulen. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem “Diasporadasein“ der Sprachheilschulen (Holtz 1984, S. 46).
Die Zahl der Sprachheilschulen im Deutschen Reich stieg nur langsam an. 1927 existierten in 14 Städten Sprachheilklassen und in 4 Städten Sprachheilschulen (vgl. Hansen 1929 zit. n. Orthmann 1982, S. 81). Steiniger gibt für 1942 in elf Städten Sprachheilklassen und in 10 Städten Sprachheilschulen an, wobei Berlin und Hamburg mit jeweils 4 Schulen eine führende Rolle einnahmen (Steiniger 1942, S. 11 ff.). Zur Zeit der Weimarer Republik lagen die Gründe für die wenigen Schulen vor allem darin, dass keine gesetzliche Grundlage für die Einrichtung von Sprachheilschulen existierte, die Sprachheilkunde noch immer eine relativ junge Fachwissenschaft darstellte und die Initiative sich zumeist auf wenige Mediziner oder Pädagogen und auf wenige Orte beschränkte (vgl. Orthmann 1982, S. 81). Ebenso gab es keine Lehrpläne, es fehlten Umschulungs- und Einschulungskriterien, Schwierigkeiten für die Sprachheillehrer waren vorprogrammiert. Die oben erwähnte Problematik, ob Mediziner oder Pädagogen therapieren sollten, wurde nicht vollständig gelöst. Zwar handelte es sich dem Wesen nach mehr um Lehrer, die Problematik um ihre Ausbildung blieb jedoch. Es herrschte noch immer das Kursausbildungssystem, in dem die Teilnehmer in wenigen Wochen oftmals nur mit der Therapie des Kursleiters bekannt gemacht wurden. Dies gilt zum Beispiel im Falle des Stottern für Gutzmann in Berlin, der eine völlig andere Methode verfolgte als dies bei Elders in Krefeld der Fall war. Hier zeigt sich schon, dass es “die“ sprachheilpädagogische Arbeit in der Weimarer Republik und auch später im Dritten Reich nicht gab.
Auch der 1927 gegründeten “Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik in Deutschland“ gelang es nicht, die Ausbildungsinhalte hinreichend anzugleichen, da sie sich noch mit oben genannten Zuständigkeitsproblemen auseinander zu setzen hatte. Dieser Arbeitsgemeinschaft kommt jedoch die Bedeutung zu, dass es damit erstmals eine Institution gab, die sich um das Berufsfeld des Sprachheillehrers kümmerte und überregional tätig wurde (vgl. Orthmann 1982, S. 80f.). Erst 1936 kommt es zu einer einheitlichen, zentralistischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung aller Schwerhörigen- und Sprachheillehrer (vgl. Krämer – Kiliç / Hauschild 2000, S. 26).
1933 wird die Arbeitsgemeinschaft in den NS - Lehrerbund gleichgeschaltet (vgl. Kolonko / Krämer 1992, S. 26). Die Sprachheilkunde findet sich nun zusammen mit dem Hörgeschädigtenwesen in der Reichsfachschaft V (Sonderschulen) wieder. Offensichtlich bezieht sich diese Vertretung auf die Sonderschullehrer, es bleibt die Frage, was aus den Sprachheilkursen im Dritten Reich wurde. In der offiziellen Zeitung “Die neue Sonderschule“ finden sich Hinweise darauf, was aus den Sprachheilkursen wurde, die es 1928 in Deutschland in 95 Gemeinden gab. (Holtz 1984, S. 46). Manig nennt 1938 6 Kurse für sprachkranke Kinder in der 1937 neu zusammengeschlossenen Hansestadt Hamburg (Manig 1938, S. 672), wogegen Fritz Zwanziger und Adolf Lambeck von “8 Nachmittagskursen für einfachere Sprachstörungen“ in Hamburg sprechen (Mitteilungen der Reichsfachschaft V 1938, S. 803). Eine sehr genaue Auflistung der Sprachheilkurse im gesamten Dritten Reich geschieht durch Fritz Steiniger 1942. Die Veröffentlichung über mehrere Monate hinweg in der Zeitschrift „Die deutsche Sonderschule“ zeigt, dass auch im Dritten Reich den Sprachheilkursen als Therapiemittel große Bedeutung zugemessen wurde.
In den Zwanziger Jahren ist erkennbar, dass die Einrichtung von Sprachheilkursen und Sprachheilschulen nicht ausschließlich zum Wohle der Kinder und Jugendlichen geschieht, sondern um sprachunauffällige Kinder der Volksschule vor Ansteckung zu bewahren, dies bezieht sich vor allem auf das Störungsbild Stottern. Ziel war die Aussonderung zum “Schutze der Gesunden“ und Therapie des Kindes, um es als vollwertiges Mitglied wieder der Gesellschaft zuführen zu können (vgl. Kolonko / Krämer 1992, S. 34).
Schon in der Weimarer Republik und dann ganz besonders im Dritten Reich wurde pädagogische Arbeit nicht zur Stärkung und Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, sondern im Sinne einer Dienstbarmachung für das Gemeinwohl gesehen. Die Pädagogik entwickelte sich immer mehr zu einem Handlungsfeld, das im Dienste von Wirtschaft und Ideologie stand. Sicher gab es solche Ansätze in gewissem Ausmaß zu jeder Zeit der Geschichte, im Nationalsozialismus erreichten diese jedoch in Verbindung mit der menschenverachtenden nationalsozialistischen Lehre ihren Höhepunkt. Dies ist umso einschneidender, da die Zeit der Weimarer Republik auch die Zeit der Reformpädagogik ist, in der erstmals die Bedürfnisse des Kindes in den Mittelpunkt gestellt wurden. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass es neben der Reformpädagogik immer Strömungen gegeben hat, die ein Kind im Sinne eines bestimmten machtorientierten Gesellschaftssystems formen wollten. Der Wunsch, den Menschen nach dem Vorbild einer angeblichen nordischen Rasse formen zu wollen, hat letztendlich dazu geführt, dass nur noch das Wohl und die Gesunderhaltung dieser Rasse gesehen wurde. Ausschlaggebende Strömung hierfür ist die Rassenhygiene. Die Rassenhygiene hat im Nationalsozialismus die Aufgabe, die Herrschaft abzusichern, indem sie in sämtliche Lebens- und Wissenschaftsbereiche eingegriffen hat. Minderbegabung und Minderwertigkeit von Menschen wurden festgestellt, um sie im Sinne der Aufartung umzuerziehen oder zu vernichten. Wie sich später noch in dieser Arbeit zeigen wird, wurde im Nationalsozialismus auch der Sprachheillehrer zum Instrument (vgl. Kapitel 4.3.1 & 4.4), wobei hier wieder zu sehen ist, dass dies nicht erstmalig mit der Machtergreifung Hitlers geschah. Die Rassenhygiene ist eine ältere Erfindung und hat auch schon früher sprachtherapeutische Arbeitende instrumentalisiert.
Der Begriff der Rassenhygiene wurde 1895 von dem Arzt Alfred Ploetz eingeführt (vgl. Kolonko / Krämer 1992, S. 51). In Verbindung mit dem Sozialdarwinismus betont er die Ungleichwertigkeit des Menschen und formuliert als Aufgabe der Medizin die Veredlung der menschlichen Rasse. Nicht mehr die Arbeit zum Dienste am Menschen steht im Vordergrund. Diese Entwicklung verstärkt sich mit dem beginnenden 20. Jahrhundert, der Begriff der Eugenik entsteht. Das “Ziel, die rassischen - sowohl körperlichen und geistigen - Eigenschaften künftig zu verbessern oder einzuschränken“ formuliert der Mediziner Schallmeyer in seinem Werk “Vererbung und Auslese“ 1918 und sieht die Sterilisierung von Menschen aus rassehygienischen Gründen mit vor (vgl. Kolonko - Krämer 1992, S. 52).
Die Rassehygiene hat den Weg für Sterilisation und Euthanasie bereitet, dies zeigt sich in den Worten:
“ln der Frage der Aussonderung der Minderwertigen ist ein Humanitätsdusel nicht am Platze. Unsere gesunde Nachkommenschaft hat das Recht auf Schutz vor einem Verderb durch Keimschädlinge, und jede vorwärtsstrebende Nation hat die Pflicht, den Ballast von Minderwertigkosten zu vermindern.“ (Kaup 1913 zit. n. Kolonko - Krämer 1992, S. 52).
Hier kommt nicht nur die Aufartung zu Wort, sondern auch die Problematik, dass ein behinderter Mensch den Staat mehr Geld kostet.
Ein Beispiel, wie die Rassehygiene Sprachheilpädagogen schon vor dem Dritten Reich beeinflusste, ist der Wiener Karl Cornelius Rothe, Direktor der Sonderklassen und Heilkurse für sprachgestörte Schulkinder in Wien. Er ist Verfasser des 1929 erschienenen Buches “Die Umerziehung. Die heilpädagogische Behandlung schwererziehbarer, entgleister und stotternder Kinder und Jugendlicher“. Schon die Zusammenführung der drei Attribute ist erstaunlich, im Aufbau des Buches zeigt sich, dass Rothe vor seine Theorie der Umerziehung eine Analyse der Persönlichkeit durch die Rassen- und Konstitutionslehre setzt. Er verweist nachdrücklich auf die Beziehung zwischen Rasse, Rassemerkmalen, Rasseseele und psychischen Eigenschaften: “Sicher aber ist, und darauf lege ich an dieser Stelle besonderen Nachdruck, daß zur Erfassung der Persönlichkeit die Berücksichtigung der Konstitution und Rasse gehört.“ (Rothe 1929, S. 14). Außerdem behauptet er: “Zunächst sind es die Ausdrucksformen der Seele, die rassig bedingt sind.“ (Rothe 1929, S. 55), sowie “Mimik und Gesten sind ebenfalls rassig bestimmt, nach Clauß sogar das Lachen, Begabung für Musik und die Art der Musik sicher auch.“ ( Rothe 1929, S. 55).
Rothe geht daraufhin noch einen Schritt weiter und bringt nun die Erziehung in Verbindung mit der Rassenlehre:
“Wenn Rassen- und Konstitutionslehre auch nicht alles erklären können, so doch manches und für jede Aufklärung müssen wir dankbar sein, die uns hilft einen Zögling zu verstehen. Wer als Erzieher oder als Psychotherapeut einen Konstitutions- oder Rassetyp falsch, das heißt nicht im Sinne des Typus behandelt, erschwert seine Arbeit oder vernichtet sie.“ (Rothe 1929, S. 56 - Hervorhebung vom Verfasser)
Rothe ordnet den einzelnen Rassen sehr diskriminierende Merkmale zu, die zum Teil aus eigenen Untersuchungen stammen und nun auch die Sprachstörungen mit einbeziehen:
“Die ostbaltische Rasse zeigt oft Stottern.“
“Die alpine (ostische) Rasse neigt zu Konflikten, wie sie überhaupt eine komplizierte Rasse ist.“
“Die orientalische Rasse ist vielleicht die konfliktreichste, da sie an dem jüdischen Volke starken Anteil hat, erklärt sich vielleicht hieraus manche Erscheinung, wie z.B. die Psychoanalyse.“
“Sicher ist - neben anderen Neurosen - das Stottern im jüdischen Volk stark verbreitet“
“Nach landläufiger Meinung nimmt das Stottern an Häufigkeit der Fälle zu, wenn wir in Europa nach Norden und Osten wandern.“ (Rothe 1929 , S. 56f.)
Mit der folgenden Aussage unterstützt Rothe auf der Ebene der Erziehung indirekt die Rassenpolitik Hitlers, der die reine nordische Rasse als die herausragende Rasse an sich proklamiert hat: “Es scheint auch mit den Mischungen eine Steigerung der Erziehungsschwierigkeit zu erfolgen, je mehr der nordische Einschlag zurücktritt, desto mehr.“ (Rothe 1929, S. 60).
Natürlich kann man nicht von Rothe auf den Sprachheillehrer an sich schließen, jedoch zeigt sich an diesem Beispiel sehr gut, dass Rassekunde und -hygiene auch vor der Sprachheilarbeit nicht halt gemacht haben und dies schon vor 1933.
2.2 Das Verständnis von Spracherwerb, Sprachentwicklung und Sprachstörung
Kinder, Jugendliche und Erwachsene wurden als “sprachkrank“ bezeichnet und in Sprachheilschulen, in Sprachheilkursen oder ambulant behandelt. Dabei ist interessant, wie der Spracherwerb, eine gestörte Sprachentwicklung sowie eine Sprachstörung definiert wurden, da sich danach auch die Frage der Aussonderung und Behandlung richtet.
Die Sprachheilkunde entwickelte keine eigenen Theorien zur Sprachentwicklung, sondern stützt sich auf psychologische Theorien (vgl. Kolonko - Krämer 1992, S. 2). Ihre Vertreter wie Gutzmann, Fröschels, Flatau oder Nadoleczny erwähnen sich gegenseitig und ihre Arbeiten basieren auf Wissenschaftler wie William Preyer, Clara und William Stern und Wilhelm Wundt.
Als Bespiel wie Spracherwerb und Sprachentwicklung gesehen wurden, soll Hermann Gutzmann sen. wirken, ich beziehe mich dabei auf die Erstausgabe seines Buches von 1912 und die von seinem Sohn 1931 herausgebrachte zweite Auflage, da in diesem Bereich für den Nationalsozialismus keine neue Literatur vorliegt und Gutzmann jun. ein bedeutender Wissenschaftler des Dritten Reiches war.
Gutzmann hat die Sprachentwicklung in drei Stufen beschrieben. “die Stufe der Urlaute, die Stufe der Nachahmung und die dritte Stufe, auf der die Sprache zum Gedankenausdruck des Kindes wird.“ (Gutzmann 1931, S. 5). Die Stufe der Urlaute ist eine Periode der Schrei- und Lalllaute und seiner Meinung nach wichtig zur Schulung der Atmung, Stimme und Artikulation (vgl. Gutzmann 1931 S. 2ff.). Die Nachahmungsphase wird als “physiologischer Nachahmungszwang“ (Gutzmann 1931. S. 7) bezeichnet, außerdem spricht er vom Sprechtrieb des Kindes, der das Kind dazu veranlasst, die Lautsprache seiner Umgebung nachzuahmen. Bei Eintritt in die dritte Phase gebraucht das Kind schon einzelne gelernte Wörter und beginnt nun seine Gedanken in Ein - Wort - Sätze umzusetzen. Während der dritten Phase gelangt das Kind zu einer fehlerfreien Sprache. Gutzmann weist darauf hin, dass die Sprachentwicklung bei jedem Kind individuell zeitlich sehr verschieden sein kann, ebenso darauf, dass der Zeitpunkt, wann ein Kind spricht und wie es spricht kein alleiniger Maßstab für die Intelligenz und geistige Entwicklung des Kindes sein kann (vgl. Gutzmann 1931, S. 19f.).
Die Gefahr zur Ausbildung eines Sprachfehlers sieht Gutzmann am stärksten in der Nachahmungsphase:
“Die Nachahmungsperiode ist die wohl wichtigste in der gesamten Sprachentwicklung des Kindes. Gerade hier ist ja die beste Gelegenheit für das Kind geboten, sich Fehler anzueignen oder doch den unmerklichen Keim für Fehler in sich aufzunehmen. Die Nachahmung setzt ein Vorbild voraus; ist das Vorbild schlecht, zeigt es Abnormes, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir beim Kinde in der späteren Sprache dieselben abnormen Erscheinungen wiederfinden.“ (Gutzmann 1912 zit. n. Kolonko/Krämer 1992, S. 3f.).
Josef Schmücker ist einer der wenigen Vertreter der Sprachheilkunde, die nach der Machtübernahme Hitlers Theoriekonzepte von Spracherwerb und Sprachstörungen aufstellen. Schmücker geht von einer Sprachbahn, einem Art Sprachkreislauf aus:
“Der akustische Sprachreiz trifft das Ohr, wird durch den Hörnerv zum Wernickschen Zentrum geleitet - wo die Wortklangbilder aufbewahrt werden - und zum Bewußtsein erhoben. Das Bewußtsein diktiert nun das Sprechen; der Befehl Iäuft (in den meisten Fällen wohl zuerst über das Wernicksche Zentrum zurück) über das Brocasche Zentrum - wo die Wortbewegungsbilder aufbewahrt werden -‚ die entsprechenden Bewegungsnerven werden angeregt, die Artikulation erfolgt, und das Ohr hört sie, empfängt also von neuem den akustischen Reiz. Damit ist der Sprachkreislauf geschlossen.“ (Schmücker 1934, S. 12)
Wird dieser Sprachkreislauf an einer Stelle gestört, tritt eine Sprachstörung auf.
Max Nadoleczny orientiert sich an Kußmaul und Clara und Wilhelm Stern und beschreibt drei Vorstufen, die der eigentlichen Sprachentwicklung vorausgehen: die Vorstufe des spontanen Lallens, die Vorstufe der Nachahmung und die Vorstufe des Sprachverständnisses (vgl. Nadoleczny 1926, S. 3ff.). In diesen Vorstufen hat das Kind das Lallen, das „sinnlose“ Nachahmen und das „anfängliche Verstehen“ durchlaufen. Das erste selbständige Sprechen oder Mitteilen und damit der Beginn der eigentlichen Sprachentwicklung nach Nadoleczny setzt dadurch ein, dass das „anfängliche Verstehen“ mit eigenen Äußerungen verknüpft wird (vgl. Nadoleczny 1926, S. 9). Dies geschieht ungefähr zwischen dem 12. und 15. Lebensmonat. In der Einteilung der eigentlichen Sprachentwicklung bezieht sich Nadoleczny auf Meumann, der folgende Stufen vorgibt:
1. Emotionell – volitionale Stufe oder Stufe der Wunschwörter
2. Assoziativ – reproduktive Stufe
3. Logisch – begriffliche Stufe (vgl. Nadoleczny 1926, S. 10f.)
Bei der ersten Stufe gibt das Kind seinen Wünschen und Gefühlen Ausdruck, in der zweiten Stufe beginnt es, Wörter rein assoziativ zu bezeichnen. Die dritte Phase hat begonnen, „wenn das Kind seine Worte intellektualisiert.“ (Nadoleczny 1926, S. 12). Der wichtigste Faktor im Spracherwerb ist bei Nadoleczny die Nachahmung, er weist aber darauf hin, dass physiologische Störungen in der Sprachentwicklung selbst bei einem sehr guten sprachlichen Vorbild vorkommen. Sensorische und motorische Schwierigkeiten, mangelnde Erinnerung und Auffassungsschwierigkeiten führen häufig zu diesen physiologischen Störungen, z.B. Aussprachefehler (vgl. Nadoleczny 1926, S. 17). Nadoleczny gibt keine Definition von Sprachstörungen bzw. wann man von einer Sprachstörung sprechen muss, er erläutert zum Teil bei den einzelnen Sprachstörungen, wann eine Störung pathologisch wird.
Die Wissenschaftler räumen dem Faktor der Nachahmung einen hohen Stellenwert ein. Daraus sollte man schließen, dass dem Faktor Vererbung nicht soviel Bedeutung beigemessen wird, sondern die Ausbildung einer Sprachstörung eher durch Umwelteinflüsse entsteht.
2.3 Klassifizierung von Sprachstörungen
Die Klassifizierung von Sprachstörungen hat einen wichtigen Einfluss auf die Ursachenklärung eines Störungsbildes. Je nachdem wie klassifiziert wird, folgt auch in Zusammenhang mit den Ursachen eine Einteilung dahingehend ob eine Sprachstörung nur behandelt wird im Sinne einer Verbesserung oder ganz beseitigt werden kann. Daher ist es wichtig, bei der Verfolgung der Frage, ob erbliche Ursachen größere Bedeutung im Dritten Reich erlangten, die wichtigsten Klassifizierungen für Sprachstörungen aufzustellen.
Es werden drei Klassifizierungen vorgestellt. Auch wenn die Klassifizierungen von Gutzmann und Nadoleczny in der Weimarer Republik entwickelt wurden, ist davon auszugehen, dass diese Einteilungen auch für das Dritte Reich Bedeutung hatten. Beide Wissenschaftler wirkten auch im Dritten Reich, ebenso ihre veröffentlichte Literatur. Josef Schmücker wurde mit ausgewählt, da seine Klassifizierung im Dritten Reich entstanden ist und eines der wenigen Beispiele für diese Zeit darstellt.
Schmücker unterscheidet drei Gruppen von Sprachstörungen. Seine Einteilung erfolgt ausgehend von der Sprachbahn, die organische Grundlage für einen gesunden Ablauf der Sprache. Zu der Gruppe der peripher - impressiven Sprachstörungen gehören die Taubstummheit, die Schwerhörigkeit und die Taubblindheit. Ursache sind organische Schäden, die sich auf die Sinne Hören und Sehen beziehen (vgl. Schmücker 1934, S. 19, S. 60). Zu den zentralen Sprachstörungen werden das funktionelle Stammeln, Hörstummheit, Stottern und Aphasien gezählt (vgl. Schmücker 1934, S. 60ff.). Er weist darauf hin, dass man bei anatomischen Veränderungen des zentralen Nervensystems von funktionellen Sprachstörungen spricht und keine “organische Unzulänglichkeit“ nachgewiesen werden kann. In der Gruppe der peripher - expressiven Sprachstörungen findet sich das organische Stammeln, das aufgrund von organischen Missbildungen der Sprechwerkzeuge entsteht: durch Lippen - Kiefer - Gaumenspalten, Kieferanomalien, sowie Missbildungen an Kehlkopf, Zunge und Gaumensegel (vgl. Schmücker 1934, S. 98).
Gutzmann unterscheidet impressive oder perzeptive, zentrale und periphere Sprachstörungen (Gutzmann 1931, S. 28ff.). Die impressiven oder perzeptiven Sprachstörungen sind ähnlich wie bei Schmücker Wahrnehmungsstörungen, betreffen also Taubstumme, Schwerhörige und Taubblinde. Die zentralen Sprachstörungen werden als Störungen des Broca und/oder Wernicke-Zentrum und der Verbindung zwischen den Zentren erklärt (vgl. Gutzmann 1931, S. 29). Die peripheren Störungen sind von Erklärung und Zuweisung her dieselben wie bei Schmücker. In seiner Beschreibung der Einteilung der Sprachfehler weist Gutzmann den zentralen Sprachfehlern nur die Aphasien zu, man erfährt nicht, wo sich bei dieser Klassifikation Stottern, Stammeln etc. finden sollen. Im weiteren Verlauf des Buches setzt dann eine neue Einteilung ein, es werden Sprachstörungen beschrieben, die ihre Ursache in der Sprachentwicklung haben, sowie Sprachstörungen mit Ursachen in den organischen Veränderungen der Sprachwerkzeuge (vgl. Gutzmann 1931, S. 113ff.). Zur ersten Gruppe gehören Hörstummheit, Stammeln, Stottern und grammatische Fehler, zur zweiten Gruppe Taubstummheit, zentrale Sprachstörungen und Sprachstörungen, die durch Lähmungen oder Fehler der Artikulationswerkzeuge entstehen.
Gutzmann versteht also unter zentralen Sprachstörungen etwas anderes als Schmücker, der Begriff „funktionelle Sprachstörungen“ taucht nicht auf, allerdings erscheinen in der 1912 erschienenen “Sprachheilkunde“ als Störungsbild auch die funktionellen Sprachstörungen, die Störungen werden jedoch nicht klassifiziert (vgl. Kolonko/Krämer 1992, S. 4f.).
Nadoleczny spricht von den Entwicklungshemmungen der Sprache, diese unterteilt er in drei Gruppen. Taubheit, Schwerhörigkeit und Taubblindheit gehören zu den peripher -impressiven Hemmungen (vgl. Nadoleczny 1926, S. 26). Entwicklungshemmungen der inneren Sprache oder zentrale Hemmungen stellen sensorische Sprachstörungen dar. Des Weiteren zählt er zu dieser Gruppe Störungen, die verursacht werden durch “Mängel an seelischen Vorbedingungen [...] namentlich auf dem Gebiet des Willens bzw. dessen wichtigster Leistung, der Aufmerksamkeit, die keine ‘sensorische Funktion‘ ist, ferner an Sprechlust und Nachahmungstrieb“ (vgl. Nadoleczny 1926, S. 41). Diese “Mängel“ führen zu einer verzögerten Sprachentwicklung, zur Hörstummheit und dem “Freiwiligen Flüstern“. Zu den zentralen Sprachstörungen gehören außerdem die Form- und Aufbaustörungen der Rede, die Akataphasien und der Agrammatismus, die angeborene Leseschwäche (sogenannte kongenitale Wortblindheit) und das funktionelle Stammeln (vgl. Nadoleczny 1926, S. 41ff.).
Die letzte Gruppe bilden die Entwicklungshemmungen der äußeren Sprache, die peripher -expressiven Hemmungen. Diese Gruppe bezeichnet er auch als mechanische Dyslalien (vgl. Nadoleczny 1926, S. 64). Diese Dyslalien basieren auf organischen Schäden und er verweist besonders auf das Lispeln und Näseln mit organischen Ursachen.
Neben der großen ersten Gruppe der Entwicklungshemmungen der Sprache nennt Nadoleczny als zweite Gruppe einfach die Störungen der Sprache. Dies sind Störungen, die bei der Weiterbildung der Sprache oder nach Abschluss der Sprachentwicklung entstehen (vgl. Nadoleczny 1926, S. 80ff.). Hierzu zählen Sprache ohne Kehlkopf, Poltern und Stottern, des Weiteren eine ganze Reihe von Sprachstörungen, die durch andere Krankheiten verursacht werden, so z. B. Sprachstörungen bei angeborenem Schwachsinn und Sprachstörungen infolge von organischen Erkrankungen des Nervensystems.
In der Beschäftigung mit den Klassifizierungen von Sprachstörungen fällt auf, dass die verschiedenen Autoren ihre erst gemachten Einteilungen wieder verwerfen und einer anderen folgen. Möglicherweise begründet sich dies darin, dass es sich bei der Sprachheilkunde um eine noch junge Wissenschaft handelte, die Inhalte noch nicht so gut erforscht waren und eine Systematisierung erst noch in der Entwicklung war.
3. Wissenschaft, Theoriebildung und die Frage der Vererbung im Nationalsozialismus
3.1 Wissenschaft und Theoriebildung im Dritten Reich
Um zu sehen, wie Erklärungsbilder von Sprachstörungen sich entwickelt und möglicherweise verändert haben, ist es notwendig, eine kurze Einleitung vom Verständnis und den Aufgaben nationalsozialistischer Wissenschaft zu geben.
Im Dritten Reich galten als oberste Ziele die Absicherung des Überlebens des deutschen Volkes, dessen Weiterentwicklung in allen Lebensbereichen, sowie die Etablierung und Festigung einer herausragenden Rolle der arischen, nordischen Rasse gegenüber allen anderen Rassen. Basis dafür war die Idee der Volksgemeinschaft. Innerhalb dieser Volksgemeinschaft sollte das reine deutsche Blut erschaffen werden (vgl. Schultze 1938, S. 12). Die Idee der Volksgemeinschaft legitimierte Vorgänge wie z.B. die Entfernung jüdischer oder politisch nicht konformer Wissenschaftler entweder durch den Zwang zur Emigration oder Verhaftung.
Für die Wissenschaft galt ebenso wie für andere Lebensbereiche, dass sie sich erneuern sollte im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Wissenschaft unterlag also dem Primat der Volksgemeinschaft. Die Aufgabe des Wissenschaftlers war damit die Ausführung von Forschung im Sinne der Volksgemeinschaft, es werden Probleme dieser Volksgemeinschaft erforscht und Lösungen für diese gesucht. Dabei sollte auch schon vorhandenes Wissen neu überprüft werden und lebenspraktische Probleme untersucht werden, so dass der weltfremde Wissenschaftler nicht mehr existieren sollte (vgl. Schultze 1938, S. 14f.). Daraus resultierte auch, dass der Aufbau von theoretischen Konstrukten nicht mehr erwünscht war, wenn ihr praktischer Wert nicht sofort anwendbar war: “Was nützen staatswirtschaftliche Dogmen, wenn sie den wirtschaftlichen Verfall eines Volkes nicht um eine Stunde aufhalten können?“ (vgl. Schultze 1938, S. 15) oder “Was haben juristische Lehrmeinungen und Theorien für einen Wert, wenn sie sich im praktischen Leben nicht anwenden lassen.“(vgl. Schultze 1938, S. 15)
Forschung darf also niemals nur Wissen produzieren, sondern muss immer für die Volksgemeinschaft anwendbar sein, im Dienste an der Nation und an der nationalsozialistischen Bewegung.
Wissenschaftliches Denken wird immer in Verbindung mit dem rassischen Denken gesehen (vgl. Groß 1937, S. 43). Als “eine grundsätzlich neue geistige Einstellung zu den großen Wirklichkeiten des biologischen wie des geschichtlichen (und geistesgeschichtlichen!) Lebens“ (Groß 1937, S. 43) muss es dem Wissenschaftler dienen, um die tatsächlichen Zusammenhänge seines Fachgebiets zu begreifen.
Die Medizin war der Raum, in dem zum großen Teil Theorien um die Ursachen von Sprachstörungen entwickelt wurden. Für die Mediziner drückt Schultze das Arbeits- und Wirkungsgebiet der Medizin folgendermaßen aus:
“Heute schon sind die nationalsozialistischen medizinischen Hochschullehrer die Helfer und Berater ihrer Berufskameraden in der Praxis; sie sind mit diesen in das Gemeinschaftsleben des ganzen Volkes einbezogen und empfangen von dort ihre Aufgaben. Die nationalsozialistische Blut- und Rassenlehre hat ihnen und ihrer Wissenschaft ein Forschungs- und Arbeitsgebiet eröffnet, dessen Weite und Bedeutung sich heute nur erahnen läßt. Damit hat sich die Bewertung der wissenschaftlichen Aufgaben von Grund auf geändert. Eine Fülle von wichtigen Fragestellungen ist gegeben, von deren Lösung die Gesunderhaltung des Volkes abhängt.[...]Die Verantwortung für ein ganzes Volk hat auch das ärztliche Berufsethos geändert: vielfach ist heute Pflicht geworden, was früher als Verbrechen bezeichnet wurde.“ (Schultze 1937, S. 16).
Das Forschungsgebiet Blut- und Rassenlehre impliziert schon die Frage nach Verbesserung der Rasse und damit nach Untersuchungen, inwiefern Krankheiten und Eigenschaften von Menschen erblich und als Makel für die Volksgemeinschaft anzusehen sind. Stärker betont wird dies noch einmal durch Groß, der fordert, “der Erblichkeitsforschung im strengsten wissenschaftlichen Sinn die Stellung auch innerhalb der Medizin zu verschaffen, die sie verdient“ (Groß 1937, S. 44).
Ebenso fällt in die medizinische Forschung der Bereich, inwieweit “das krankhafte Geschehen rassische Verschiedenheiten aufweist.“ (Groß 1937, S. 44). Dass dieses Denken aus der Medizin heraus in die Pädagogik mitwirkte, zeigt sich am Beispiel um die Umerziehung nach Karl Cornelius Rothe und seiner “Beobachtung“, welche Rassen vermehrt unter Stottern leiden (vgl. Kapitel 2).
Theoriebildung in der medizinischen Wissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus bedeutet also, dass Themen untersucht wurden, die die Volksgemeinschaft direkt angingen. Es wurden Konstrukte entwickelt, die auf den Fragen der Rassenlehre und Erblichkeitsforschung aufbauten. Diese Konstrukte stellten ein Fundament dar, um die Gesunderhaltung des deutschen Volkes zu garantieren. Die Wissenschaft wurde zu einem Organ, das dieses Fundament zu legitimieren hatte. Im Falle der Medizin galt es, Erblichkeitsverhältnisse festzustellen sowie den Beweis zu liefern, dass die reine nordische Rasse “die“ gesunde Rasse an sich ist.
Um sich als Fachdisziplin im Nationalsozialismus legitimieren zu können, müsste die Sprachheilkunde also ihr Betätigungsfeld in Richtung Rassenlehre und Erbbiologie verlagert haben. Diese These soll in dieser Arbeit mit untersucht werden.
3.2 Erbliche Faktoren im Ursachenkomplex Sprachstörungen
“Der gesamte Sprechapparat als solcher ist in seiner Anlage ererbt, und zwar ebenso ererbt wie die äußere Gesichtsbildung. Der Sprechapparat, d.h. das Ansatzrohr, sind den inneren Gesichtszügen gleichzusetzen. So wie aber die äußeren sich ähneln, findet man auch im Bau des inneren Gesichts stets große Familienähnlichkeit. Daher klingt die Sprache von Geschwistern [...] ähnlich, nicht nur auf Grund der gleichen Nachahmung, sondern auch auf Grund der Ähnlichkeit im Ansatzrohr. Man sieht danach, wie wenigstens ein Teil der sprachlichen Erscheinung der Vererbung körperlicher Eigenschaften beizumessen ist. Andererseits kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Disposition zur Nervosität und Neurasthenie vererbt wird, daher dürfen wir uns nicht wundern, daß [...]Sprachstörungen ebenfalls vererbt werden können.“ (Gutzmann, H. sen. zit. n. Gutzmann 1934, S. 256)
Dieses Zitat setzt Hermann Gutzmann jun. an den Anfang eines Berichtes über eine Untersuchung zur Erblichkeit von Sprachstörungen, die er 1933 durchführte. Sein Interesse galt dabei besonders Stottern und Dyslalie, er traf jedoch auch Allgemeinaussagen für die Vererbung von funktionellen Sprachstörungen: “Aus unseren Untersuchungen über die funktionellen Sprachstörungen und die Möglichkeit ihrer Vererbung geht für uns deutlich hervor, dass die neuropathische Anlage, die durchaus als Basis für jede funktionelle Störung anzusehen ist, sicher vererbbar ist.“(Gutzmann 1934, S. 258). Wie bei Gutzmann sen. zeigt sich hier die Ansicht, dass eine Ursache für Sprachstörungen in einer Art Nervenleiden oder Nervosität zu sehen ist und man der Überzeugung ist, dass diese vererbt werden kann. Die neuropathische Anlage ist eine “ruhende Anlage“, die z.B. durch Trauma, psychischen Schock, Nachahmung oder körperlichen Reifeprozess aktiviert wird. Aus dieser Vorstellung heraus spricht Gutzmann jun. nicht von der Vererbung von funktionellen Sprachstörungen, sondern formuliert die Vererbung einer Anlage, dabei muss die Sprachstörung nicht auftreten, jedoch habe sich gezeigt, dass nach Auftreten einer Sprachstörung diese Anlage sehr oft nachzuweisen ist (Gutzmann 1934, S. 258).
Bei einem Vortrag auf der Tagung der Reichsfachschaft V und der der Deutschen Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde im Juni 1939 in Hamburg betont Gutzmann die Unterscheidung, “daß eben nur diese Sprachentwicklungshemmung vererbbar ist, aber nicht der voll ausgebildete Fehler.“ (Gutzmann 1939, S. 489). Er verschärft seine Ansichten von 1934 und betont, dass alle Kinder für funktionelle Sprachstörungen anfällig sind, bei denen in der Familie irgendwelche neuropathischen Krankheiten vorhanden sind (vgl. Gutzmann 1939, S. 490). Daraus resultiert für ihn die Forderung: “Schafft gesunde Eltern mit gesunden Nervensystemen, und die funktionellen Sprachstörungen werden auf ein Minimum herabsinken!“ (Gutzmann 1939, S. 490).
Bei Gutzmann zeigt sich auch die Tendenz, Sprachstörungen bestimmten Rassen zuzuordnen. Er spricht davon, dass man vor allem Stammeln sehr oft bei jüdischen Patienten findet (vgl. Gutzmann 1934 S. 257), was später noch ausführlicher in dieser Arbeit erläutert wird (vgl. Kapitel 5.3).
Steiniger spricht ganz allgemein von der Tatsache der Vererbung bei Sprachstörungen (vgl. Steiniger 1942, S. 15).
Wüsthoff berichtet in seiner Ausführung “Die Bedeutung der Vererbung auf dem Gebiete der Sprach- und Stimmheilkunde“ von der Erforschung der Vererbung der verzögerten Sprachentwicklung. Er bezieht sich dabei auf Seemann, der bei seinen Familienuntersuchungen festgestellt habe, dass die verzögerte Sprachentwicklung ein genotypisches Merkmal sei (vgl. Wüsthoff 1938, S. 40). Dies würde bedeuten, dass man die verzögerte Sprachentwicklung oder den Zeitpunkt der Sprachentwicklung allgemein als ein Gen der Erbanlagen sieht. Zu dieser Aussage kommt Seemann durch die Tatsache, dass in einigen Fällen die verzögerte Sprachentwicklung angeblich in zwei bis drei Generationen zu beobachten war. Er unterlegt diese These mit einer Untersuchung über Kinder mit Hörstummheit (vgl. Wüsthoff 1938, S.40).
Seeman hat versucht, anhand von Zwillingsforschungen seine These zu belegen (vgl. Wüsthoff 1938, S. 42). 25 zweieiige Zwillingspaare wurden untersucht, bei acht von ihnen verzögerte sich bei beiden Kindern die Sprachentwicklung, bei 4 Paaren nur bei einem Zwilling. Von 14 eineiigen Zwillingspaaren haben 9 Paare verspätet angefangen zu sprechen, bei keinem einzigen Paar sprach vom Zeitpunkt her ein Zwilling eher als der andere. Aus dieser Tatsache zieht Seemann den Schluss, dass die verzögerte Sprachentwicklung ein genotypisches Merkmal sei.
Zur Vererbung der verzögerten Sprachentwicklung äußert sich Nadoleczny, er bezieht sich allerdings nicht auf Untersuchungen: “Unter den idiotypischen (genotypischen) Ursachen dürfte (selbstverständlich nach Ausschluß des Schwachsinns) ein angeborener Mangel an Sprechantrieb vorauszusetzen sein, der bei den Knaben etwa doppelt so häufig ist als bei Mädchen, in etwa einem Viertel der Fälle erblich bedingt ist, und zwar wiederum doppelt so oft in der männlichen Linie.“(Nadoleczny 1935, S. 275 - Hervorhebungen vom Verfasser). Als weitere Faktoren für das Auftreten einer verzögerten Sprachentwicklung nennt er außerdem motorische Entwicklungshemmungen, Geburtstraumen und pathologisch-anatomische Veränderungen im Gehirn, die sich nur funktionell äußern, sowie der Mangel an sprachlicher Anregung.
Es zeigt sich, dass schon die Sprachentwicklung und deren Zeitpunkt als eine erbliche Anlage gesehen wurde, auch allgemein wird dem Entstehen von Sprachstörungen eine erbliche Anlage zugesprochen.
Wie dies für einzelne Störungsbilder aussah, sollen die drei folgenden Kapitel zeigen.
[...]
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