In der vorliegenden Arbeit soll sich mit den Voraussetzungen der deutschen Nationalstaatsgründung von 1871 auseinandergesetzt werden. Es ist unbestritten, dass der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die Reichsgründung im Zuge einer ‘Revolution von oben’ vollzog. Hieraus ergibt sich aber die untersuchungsleitende Frage, was das Fundament bzw. die Voraussetzungen dafür waren, dass so viele Menschen damals bereit waren, die in Kriegen geschaffenen Tatsachen zu akzeptieren und so den Nationalstaat ermöglichten?
Daraus folgt die These, dass die ’Revolution von oben’ von einem vielschichtigen Prozess der Nationsbildung bekleidet wurde, in der gleiche Handlungsmuster auf verschiedenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Ebenen entstanden, welche die Akzeptanz der preußisch kleindeutschen Reichsgründung erhöhten. Allerdings kann es nicht Anspruch dieser Arbeit sein, ein vollständiges Bild über das innerdeutsche wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Beziehungsgeflecht zu geben. Vielmehr sollen besonders markante und bedeutende Phänomene vorgestellt und nach ihrer Bedeutung am Einigungsprozesses hinterfragt werden. Die Ausgangsbasis dieser Arbeit sollen kurze einleitende Betrachtungen bezüglich der Reichseinigungskriege und dem Nationenbegriff bilden. Davon ausgehend wird als erstes auf die wirtschaftlichen Verklammerungen eingegangen. Diesbezüglich gilt es herauszuarbeiten, in wieweit die wirtschaftliche Integration den Nationalbildungsprozess begünstigte und möglicherweise die staatliche Einheit förderte.
Den zweiten Schwerpunkt der Arbeit sollen das soziokulturelle Fundament der Reichsgründung bilden. Es wird danach zu fragen sein, welche Entwicklungen die Vertiefung der sozialen und kulturellen Beziehungen begünstigten und so eine Entlokalisierung von Lebenswelten und Lebenserfahrungen bewirkten. Dabei kommt, so eine weitere These, dem überregionalen Vereinswesen und der sich verdichtenden Kommunikation über die Grenzen hinweg besondere Bedeutung zu.
Im letzten Teil der Arbeit wird sich mit dem politischen Verklammerungen, die vor 1871 bestanden, auseinander gesetzt werden. Dabei soll die politische Nationalbewegung eine zentrale Rolle einnehmen, war sie es doch, welche die Idee der Nation von einem kleinen Kreis Gebildeter zu einer breiten Massenbewegung werden ließ, die darin neue herrschaftliche und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen erkannte.
Inhalt
1. Einleitung
2. 1866/1871 weit mehr als eine ‘Revolution von oben’
3. Die wirtschaftlichen Verklammerungen als Fundament der Reichsgründung von 1871
3.1. Die Bedeutung des deutschen Zollverein
3.2. Die Bedeutung der Fortschritte im Verkehrs- und Nachrichtenwesen
4. Die soziokulturellen Verklammerungen als Fundament der Reichsgründung von 1871
4.1. Die Zunahme der sozialen Mobilität und deren Folgen
4.2. Die Bedeutung der Vereins-, Verbands- und Parteienbildung
4.4. Die Bedeutung von Religion und Wissenschaft
5. Die politischen Verklammerungen als Fundament der Reichsgründung von 1871
6. Fazit
7. Literatur
Anlagen
Anlage 1 - Übersicht: Auswahl einiger Gesetze der liberalen Reformära nach
Sachgebieten
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit soll sich mit den Voraussetzungen der deutschen Nationalstaatsgründung von 1871 auseinandergesetzt werden. Es ist unbestritten, dass der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die Reichsgründung im Zuge einer ‘Revolution von oben’ vollzog. Hieraus ergibt sich aber die untersuchungsleitende Frage, was das Fundament bzw. die Voraussetzungen dafür waren, dass so viele Menschen damals bereit waren, die in Kriegen geschaffenen Tatsachen zu akzeptieren und so den Nationalstaat ermöglichten?
Daraus folgt die These, dass die ’Revolution von oben’ von einem vielschichtigen Prozess der Nationsbildung bekleidet wurde, in der gleiche Handlungsmuster auf verschiedenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Ebenen entstanden, welche die Akzeptanz der preußisch kleindeutschen Reichsgründung erhöhten.
Allerdings kann es nicht Anspruch dieser Arbeit sein, ein vollständiges Bild über das innerdeutsche wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Beziehungsgeflecht zu geben. Vielmehr sollen besonders markante und bedeutende Phänomene vorgestellt und nach ihrer Bedeutung am Einigungsprozesses hinterfragt werden.
Die Ausgangsbasis dieser Arbeit sollen kurze einleitende Betrachtungen bezüglich der Reichseinigungskriege und dem Nationenbegriff bilden. Davon ausgehend wird als erstes auf die wirtschaftlichen Verklammerungen eingegangen. Diesbezüglich gilt es herauszuarbeiten, in wieweit die wirtschaftliche Integration den Nationalbildungsprozess begünstigte und möglicherweise die staatliche Einheit förderte. Am Beispiel des Zollvereins soll tiefgehender untersucht werden, wie die handelspolitischen Vorteile die kleindeutsche Reichsgründung begünstigen bzw. erzwangen. Aufgrund der Entwicklungen in der Gegenwart bezüglich des europäischen Wirtschaftsraums und der Europäischen Union kann vermutet werden, dass die wirtschaftliche Integration auch im 19. Jahrhundert nicht zwangsläufig auf eine staatliche Einheit hinauslief.
Den zweiten Schwerpunkt der Arbeit sollen das soziokulturelle Fundament der Reichsgründung bilden. Es wird danach zu fragen sein, welche Entwicklungen die Vertiefung der sozialen und kulturellen Beziehungen begünstigten und so eine Entlokalisierung von Lebenswelten und Lebenserfahrungen bewirkten. Dabei kommt, so eine weitere These, dem überregionalen Vereinswesen und der sich verdichtenden Kommunikation über die Grenzen hinweg besondere Bedeutung zu.
Im letzten Teil der Arbeit wird sich mit dem politischen Verklammerungen, die vor 1871 bestanden, auseinander gesetzt werden. Dabei soll die politische Nationalbewegung eine zentrale Rolle einnehmen, war sie es doch, welche die Idee der Nation von einem kleinen Kreis Gebildeter zu einer breiten Massenbewegung werden ließ, die darin neue herrschaftliche und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen erkannte.
2. 1866/1871 weit mehr als eine ‘Revolution von oben’
Als der preußische König am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde und die Bismarcksche Politik der Schaffung eines deutschen Nationalstaates zu einem ersten Abschluss kam, war die Redewendung ‘Revolution von oben’ bereits eingebürgert. Schon die Gründung des Norddeutschen Bundes (1866) empfanden die Zeitgenossen als „revolutionäre Schwelle auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat.“[1]
Der Konflikt zwischen Preußen und Österreich um die Hegemonie im Deutschen Bund mündete, nachdem man 1864 noch gemeinsam den Krieg gegen Dänemark um die Herzogtümer Schleswig und Holstein erfolgreich führte, schließlich 1866 in eine kriegerische Auseinandersetzung der innerdeutschen Staaten unter der jeweiligen Führung Preußens oder Österreichs. Mit dem Sieg der von Preußen geführten Staaten entstand ein „nationaler Rumpfstaat [...], ein deutscher Teilstaat, der bis etwa zur Mainlinie reichte – eine Wegmarke nur, so glaubten wohl die meisten Deutschen, hin zum deutschen Nationalstaat, ohne Österreich, unter preußischer Führung.“[2] Vier Jahre später, nach dem für Preußen ebenfalls siegreich geführten Krieg gegen Frankreich und den vor diesem Hintergrund erfolgreich verlaufenen diplomatischen Gesprächen mit den süddeutschen Regierungen, sollte sich diese Einschätzung bestätigen. Bismarck konnte schließlich in einem Gespräch mit Mitarbeitern am 23. November 1870 in Versailles konstatieren: „Die deutsche Einheit ist gemacht, und der Kaiser auch.“[3]
Wie angedeutet empfanden, schon die Zeitgenossen die Jahre 1866 und 1871 als revolutionär. Dieter Langewiesche sieht hierfür besonders zwei Gründe. Zum einen schien das Hauptziel der Revolution von 1848/49 der deutsche Nationalstaat, der zugleich ein Verfassungsstaat war (wenn auch nicht so demokratisch und parlamentarisch wie von manchen erhofft), erreicht und zum anderen annektierte Preußen 1866 vier selbständige deutsche Staaten. „Historisch gewachsene Staaten und dynastische Legitimität zugunsten eines Nationalstaates auszulöschen, hatte 1848 nur der kleine republikanische Flügel der Demokraten zu fordern gewagt.“[4]
Die Gründung des deutschen Nationalstaates von 1866/1871 wird, wie eben dargestellt, im Zuge der Reichseinigungskriege vollzogen. Die hohe Zustimmung zur Reichseinigung, die sich bei den politischen Führern der klein- und mitteldeutschen Staaten und bei weiten Kreisen der Gesellschaften eingestellte hatte, kann aber nicht mit den Ergebnissen einer ‘Revolution von oben’ erklärt werden. Vielmehr muss im Vorfeld der Gründung des Deutschen Reiches (1871) bzw. des Norddeutschen Bundes (1866) ein anderes Fundament bewusst oder unbewusst geschaffen worden sein, welches die Nationalstaatsgründung im breiten Maße gesellschaftlich akzeptabel machte und vielleicht auch bedingte (hierzu findet sich in der Literatur keine eindeutiger Standpunkt).
Im Sinne der Überlegungen, die Max Weber anstellte, entsteht eine „Nation“ eben nicht aus einem einzigen „Staatsvolk“, einer einzigen „Sprachgemeinschaft“, einer einzigen „Religionsgemeinschaft“, einem „ethnischen Gemeinschaftsgefühl“, einer „realen Blutsgemeinschaft“ oder aus Erinnerungen an gemeinsame politische Schicksale. Vielmehr ist Nation eine Zumutung von spezifischer Solidarität, in der ein „Gemeinschaftshandeln“ entwickelt wird, wodurch gemeinsame Kulturgüter entstehen, die bewahrt und gepflegt werden.[5] Schließlich definiert Weber Nation als „eine spezifische Art Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfession-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtorganisation verbindet.“[6] Oder wie es Theodor Schieder formulierte, „die Nation [...] kann als Willens- und Bekenntnisgemeinschaft der auf gleiche politische Werte verpflichteten Bürger verstanden werden, wie im Frankreich der Französischen Revolution, [oder] – um das andere Extrem zu nennen – die organisierte und politisch geeinte Sprachgemeinschaft, wie dies die ältere deutsche Nationalbewegung meinte.“[7] Allerdings fügt Schieder sofort hinzu, dass diese beiden Grundtypen in der historischen Realität keineswegs so scharf zu trennen sind, wie in der Begriffssprache.
In den folgenden Betrachtungen soll sich an der Definition von Max Weber orientiert werden, thematisiert sie doch die verschiedenen Ebenen des gemeinsamen gesellschaftlichen Handelns, wie es im 19. Jahrhundert unter den deutschen Staaten charakteristisch werden sollte.
3. Die wirtschaftlichen Verklammerungen als Fundament der Reichsgründung von 1871
3.1. Die Bedeutung des deutschen Zollvereins
Bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts erkannten führende Männer der preußischen Politik, unter ihnen der Finanzminister Friedrich von Motz, die Notwendigkeit die wirtschaftliche Zersplitterung Deutschlands mit ihren 39 unterschiedlichen Zoll- und Währungsordnungen zu beseitigen.[8]
Dass Preußen die Führungsrolle bei der wirtschaftlichen und schließlich auch bei der politischen Einigung Deutschlands übernehmen konnte, liegt nicht zuletzt an den territorialen und wirtschaftsgeographischen Konstellationen, welche die Jahre 1814/15 mit sich brachten. Preußen war weit nach Deutschland hineingewachsen, hatte mit Sachsen und dem Rheinland wirtschaftlich starke Gebiete erhalten, beherrschte wichtige Handelswege und stand mit den anderen deutschen Staaten weit mehr in engen wirtschaftlichen Verbindungen als Österreich. Dennoch zeichnete sich nicht gleich eine preußische Hegemonie in Handelsfragen ab. Erst das zollpolitische Scheitern des Deutschen Bundes[9], das erfolgreiche preußische Zollgesetz von 1818 und die fehlgeschlagenen Zollunionsversuche der klein- und mitteldeutschen Staaten ebneten jedoch bald den Weg zur wirtschaftlichen Führungsrolle Preußens.[10]
Motz gelang es relativ rasch die preußischen Finanzen zu stabilisieren, was ihm die Möglichkeit einräumte, potentiellen Zollvereinspartnern großzügige finanzielle Angebote zu machen. Hinzu kam, dass Preußen keine entscheidenden Souveränitätsopfer den beitrittswilligen Staaten abverlangte, da jedes dieser Länder ein Vetorecht besaß.
So traten 1828 Hessen-Nassau und einige thüringische Staaten dem preußischen Zollverband bei. Württemberg, Bayern, Hannover, Sachsen und Hessen-Kassel gingen zunächst regionale Zollunionen miteinander ein, um die preußische Wirtschaftsmacht zu behindern. Es zeigte sich aber relativ schnell, dass diese Abwehrhaltung weniger Preußen als vielmehr ihnen selbst Nachteile bereitete. Die Zusicherung des Vetorechts für jedes Mitglied sowie weitere Zugeständnisse bezüglich der Interessen einzelner Länder führten 1834 zum Zusammenschluss der preußischen, mittel- und süddeutschen Zollunionen zum Deutschen Zollverein, in dem einheitliche Außenzölle und ein freier Warenverkehr herrschten.[11]
Preußen konnte trotz des Einstimmigkeitsprinzips seine hegemoniale Stellung weiter ausbauen, was der Jenaer Historiker Hans-Werner Hahn im wesentlichen auf fünf Punkte zurückführt. So wirkte es sich negativ aus, dass die Mittelstaaten bei ihrem Zollvereinsbeitritt einzeln und nicht als geschlossene Masse mit Preußen verhandelten und selbst Konflikte miteinander auszustehen hatten. Hinzu kam, dass die kleineren Partner von den überdurchschnittlichen Zolleinnahmen der preußischen Zollverwaltung enorm profitierten, die preußische Bürokratie recht früh Instrumente entwickelte, um die kleiner Staaten immer enger mit ihr zu verbinden und, dass Preußen eine intensive Pressepolitik betrieb, um für die eigene Position zu werben und ein moralisches Fundament zu schaffen.
Wenn es in den 30er Jahren auch noch vielfach Widerstand in den süddeutschen Gebieten gab, so bildete sich rasch eine liberale Unterstützerfront heraus, zu der u.a. Heinrich von Gagern gezählt werden kann. Dieser erhoffte sich von der „preußischen Initiative auf dem Felde der Handelspolitik [eine wichtige] Stufe auf dem Wege zur politischen Einheit Deutschlands.“[12]
Motz schätzte diesbezüglich schon damals völlig richtig ein, dass vorerst keiner der kleinen Partnerstaaten bereit war, über die materiellen Interessen hinweg einen politischen Einigungsprozess voranzutreiben. Dennoch war der preußische Finanzminister stets bereit gewesen, für die politischen Vorteile auch finanzielle Einbußen des preußischen Staates in Kauf zu nehmen, was allerdings die Hochkonservativen ablehnten. Zu Beginn der 40er Jahre war auch Preußens König Friedrich Wilhelm IV. bereit, den politischen Vorteilen des Zollvereins wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken.[13] Die preußische Zollvereinspolitik mit ihrer alles dominierenden Bürokratie und wirtschaftlichen Stärke führte in den folgenden Jahren im ökonomischen und finanziellen Bereich zu einer steigenden Abhängigkeit der kleinen Staaten. Mehr und mehr zeichnete sich ab, dass es kein zurück mehr geben konnte.
Die Revolution von 1848/49 berührte die Zollvereinsgeschäfte kaum, was ein Indiz für die zu dieser Zeit schon stabile Verschmelzung war. Preußen war es gelungen in wirtschaftlicher Hinsicht die meisten deutschen Regierungen und einen Grossteil des Bürgertums für die preußische Führungsrolle zu gewinnen.
Eine erste Krise des Zollvereins trat 1853 ein, als der österreichische Ministerpräsident Schwarzenberg die preußische Zollvereinspolitik mit der Alternative einer mitteleuropäischen Zollunion von der Nordsee bis zur Adria konfrontierte. Die kleinen mitteldeutschen Zollvereinsstaaten fanden durchaus Interesse, sahen sie sich doch zunehmend von Preußen dominiert und erhofften so, ihre staatliche Eigenständigkeit bewahren zu können. Als Preußen aber nach langen Vorbereitungen 1854 mit Hannover und zwei weiteren Staaten des norddeutschen Steuervereins einen Handelsvertrag schloss, wurden die kleineren Mitgliedländer ultimativ aufgefordert, sich zum preußischen Zollverein weiter zu bekennen. Preußen hatte somit rasch die Initiative zurückgewonnen und Österreich eine weitere politische Niederlage zugefügt.[14]
In den 50er Jahren vergrößerte sich die Wirtschaftskraft Preußens zunehmend. Das industrielle Wachstum, der sich stetig steigernde Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr, die größer werdende überregionale Verflechtung des Kapitalverkehrs und die Arbeitsteilung im Zollgebiet sorgten für eine ständige Verdichtung der gegenseitigen Beziehungen. Nicht nur das liberale Bürgertum sah in den liberalen preußischen Wirtschaftsgesetzen eine Möglichkeit, den unterschiedlichen Einzelinteressen eine klare Richtung zu geben und eine volle Vereinheitlichung im Zollgebiet zu erreichen. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich heraus, dass das einzelstaatliche Vetorecht zunehmend behindernd für das erstarkte Preußen wirkte, um wirtschaftlich und politisch voran zu kommen.[15]
Der Zollverein erlebte seit den 50er und 60er Jahren einen enormen Wirtschaftsboom und die Exporterträge schnellten in die Höhe. Österreich hingegen konnte an diese Entwicklung nicht anknüpfen, deren Exportzahlen sanken sogar. Hierfür werden in der Literatur folgende Gründe benannt; zum Ersten die ungünstige Lage, durch die verkehrsgeographisch schwer erschließbaren Alpenregionen, war Österreich sowohl vom Norden als auch von den Adriahäfen schwer erschließbar; zum Zweiten gab es in der Habsburgmonarchie keine nennenswerten Kohlevorkommen und zum Dritten betrieb sie „eine konservative, protektionistische, technik- und industrieängstliche Politik“.[16]
Eine zweite Krise musste der Zollvereins 1862 durchlaufen, als Preußen ohne große Rücksprache mit den anderen Zollvereinspartnern einen Handelsvertrag mit Frankreich abschloss. Sie lehnten diesen Vertrag ab, weil sie zu recht sahen, dass Preußen „seine Hegemonialstellung auf dem Felde der Wirtschaft endgültig festigen und zugleich die Voraussetzungen für größere politische Lösungen verbessern könnte.“[17]
Der neue preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der im Herbst 1862 sein Amt angetreten hatte, setzte schließlich mit harter Hand und der Unterstützung der liberalen Mehrheit – trotz Verfassungskonflikt – der zweiten Zollvereinskrise ein Ende. Wien, welches die opponierenden Staaten gegen Preußen unterstützte, erfuhr ein weiteres Mal eine Niederlage. Baden, Sachsen, Hannover, Kurhessen und die Mittelstaaten votierten 1864 für die zwölfjährige Verlängerung des Zollvereins und den Handelsvertrag mit Preußen. Nur vier Außenseiter um Bayern und Württemberg sträubten sich weiter, worauf Bismarck den Druck erhöhte, so dass diese am 16. Mai 1865 der Verlängerung zustimmten. Auch wenn Preußen im gleichem Sommer mit dem österreichischen Rivalen einen Handelsvertrag schloss, in dem Verhandlungen in der Zollvereinsfrage „in Aussicht“ gestellt wurden, um das angespannte Verhältnis nicht noch mehr zu belasten, war der kleindeutsche Wirtschaftsraum unter preußischer Führung nun stabiler als je zuvor und eine wirtschaftliche Einheit erreicht.[18]
Erst nach dem Preußisch - Österreichischen Krieg von 1866 kam es 1867 zu den langangestrebten Vereinsverträgen, die ein Zollparlament ermöglichten, Preußen die Zollexekutive beherrschen ließen und dem einzelstaatlichen Vetorecht ein Ende setzten.
In den zurückliegenden vierzig Jahren wurde aus einem lockeren Verbund unabhängiger Staaten, in denen ein freier Binnenverkehr und einheitliche Außenzölle galten, eine enge Wirtschaftsunion mit gemeinsamen Gesetzgebungsinstanzen und Institutionen. Im Zollbundesrat (Exekutive) waren 48 Delegierte der Mitgliedsländer vertreten, wobei Preußen wie im Bundesrat des Norddeutschen Bundes 17 Repräsentanten stellte und somit eine Vetomacht wurde. Preußen erhielt den Vorsitz und die Geschäftsführung, wurde von der preußischen Bürokratie, speziell dem Bundeskanzleramt und seinem Kanzler, übernommen. Dass diese wirtschaftliche Anbindung an Preußen zu Widerständen in den süddeutschen Ländern führte, ist kaum verwunderlich, da diese sich 1866 bewusst gegen den Norddeutschen Bund gestellt hatten, um die preußisch - hegemonialen Ziele nicht zu befördern. Die Wahlen zum Zollparlament führten schließlich dazu, dass Bismarcks und die ihn unterstützenden Nationalliberalen einer deutlichen Opposition gegenüberstanden. Diese über eine Mehrheit verfügende Opposition verhinderte vorerst die Erweiterung des Norddeutschen Bundes und somit das Vorrantreiben der „kleindeutsch – großpreußischen Politik“.[19]
[...]
[1] Dieter Langewiesche (1989): „Revolution von oben“?, S. 122.
[2] Ebd., S. 122.
[3] Scheler, Eberhard (Hrsg.): Otto von Bismarck, Werke in Auswahl, Bd. 4., S. 576.
[4] Dieter Langewiesche (1989): „Revolution von oben“?, S. 122.
[5] Max Weber (1980): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 528.
[6] Max Weber (1964): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 316.
[7] Theodor Schieder (1992): Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, S. 15f..
[8] Vgl. Hagen Schulz (1992): Der Weg zum Nationalstaat, S. 95.
[9] Anm. Metternich vertrat die Auffassung, ein bundeseinheitliches Zollsystem gefährdet den österreichischen Vielvölkerstaat und mobilisiere die liberale Opposition.
[10] Vgl. Manfred Görtemaker (1994): Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 165-170.
[11] Vgl. Hans-Ulrich Wehler (1987): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2., S. 128f.
[12] Hans-Werner Hahn (1984): Hegemonie und Integration, S. 52f.
[13] Vgl. Hans-Werner Hahn (1982): Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert, S. 53-56.
[14] Vgl. Manfred Görtemaker (1994): Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 170-171.
[15] Vgl. Wolfgang Zorn (1973): Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands, S. 303-334.
[16] Hagen Schulz (1992): Der Weg zum Nationalstaat, S. 99.
[17] Hans-Werner Hahn (1984): Hegemonie und Integration, S. 65f.
[18] Vgl. Friedrich Lenger (2003): Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung, Gebhardt Bd. 15, 10. Aufl., Stuttgart, S. 345f.
[19] Hans-Ulrich Wehler (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3., S. 305-307.
- Quote paper
- Christian Tischner (Author), 2005, Gemeinsame Handlungsmuster im Vorfeld der deutschen Nationalstaatsgründung von 1871 oder "Die innere Reichsgründung", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59248
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