Die transzendentalphilosophische Frage, wie Objektivität zustande kommt und worauf sie beruht, hat die Philosophie seit Kant intensiv beschäftigt. Kants Philosophie war vor allem einem erkenntniskritischen Ansatz gefolgt: Mit welcher Berechtigung können wir Aussagen über die Wirklichkeit machen? Wo liegen die Grenzen des Erkenntnisvermögens? Kant hatte vor allem durch eine begriffliche Analyse des Bewusstseins versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als parallel zur Hochindustrialisierung in Deutschland die Natur- und Ingenieurwissenschaften immer mehr an Bedeutung gewannen, schienen diese Fragen zunächst nicht mehr besonders interessant. Warum sollte man sich über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der eigenen Aussagen über die Wirklichkeit Gedanken machen, wenn sich doch eine ganz naive Wirklichkeitsauffassung in der technisch-naturwissenschaftlichen Praxis kontinuierlich bewährte? Die Frage, inwiefern die Welt durch unser Bewusstsein konstituiert sei und ob es ein "Ding an sich" gebe, erschien auf einmal als metaphysische Haarspalterei, bei der sich die moderne, positivistische Wissenschaft nicht lange aufhalten wollte. Mit dieser Wende verlor über eine rein intellektuelle Auseinandersetzung hinaus auch die Philosophie als Wissenschaft gegenüber den empirischen Wissenschaften an Bedeutung.
Dilthey und Nietzsche nahmen beide gegenüber diesen Entwicklungen die erkenntniskritische Fragestellung wieder auf. Anders als Kant gingen sie jedoch bei der Beantwortung der Frage nicht mehr auf die Strukturen des Bewusstseins im einzelnen Subjekt zurück, sondern auf das "Leben", das sie als Grundlage aller Erkenntnis sahen. Was mit diesem "Rückgang auf das Leben", der beiden Philosophen die nicht unumstrittene Einordnung in die "Lebensphilosophie" einbrachte , gemeint ist, und was daraus für das Verständnis von Wissenschaft und Objektivität folgt, ist die Fragestellung dieser Hausarbeit.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Diltheys Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften aus dem Leben
- Die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften
- Hermeneutik: Erleben, Ausdruck, Verstehen
- Die Zeitlichkeit und die Unerfassbarkeit des Lebens
- Nietzsches Wissenschaftskritik
- Die Gegenüberstellung von Historie und Leben und die drei Arten der Geschichtsbetrachtung
- Nietzsches Argumente gegen die Geschichtswissenschaft
- Wissenschaft als "Willen zur Macht"
- Gemeinsamkeiten und Differenzen in Nietzsches und Diltheys Auffassung
- Historisierung des Wissens
- Unterschiedliche Lebensbegriffe
- Objektivitätsbegründungen in Simmels Geschichtsphilosophie
- Habermas Auseinandersetzung mit Dilthey und Nietzsche
- Reflexion als Erkenntnisgrundlage
- Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht das Verhältnis von Wissenschaft und Leben bei Nietzsche und Dilthey. Beide Philosophen kehren zur erkenntniskritischen Fragestellung zurück, die durch den Aufstieg der Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund gerückt war. Im Gegensatz zu Kant, der die Strukturen des Bewusstseins im einzelnen Subjekt untersuchte, betrachten sie das "Leben" als Grundlage aller Erkenntnis. Die Arbeit analysiert, was mit dieser Rückführung auf das Leben gemeint ist und welche Folgen sich daraus für das Verständnis von Wissenschaft und Objektivität ergeben.
- Diltheys Konzept der historischen Geisteswissenschaften, das auf dem Leben gründet
- Nietzsches Kritik an der Geschichtswissenschaft und die Rolle des Lebens
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Ansätzen von Nietzsche und Dilthey
- Die Frage nach der Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse im Kontext des Lebens
- Zeitgenössische Ansätze zur Lösung des Problems: Simmels Geschichtsphilosophie und Habermas' Kritik an Dilthey und Nietzsche
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Fragestellung der Arbeit dar, die sich auf die transzendentale Frage nach der Objektivität von wissenschaftlichen Erkenntnissen im Kontext des Lebens konzentriert. Sie zeigt die besonderen Herausforderungen, die sich für die Philosophie durch den Aufstieg der empirischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert stellten und führt die beiden Philosophen, Dilthey und Nietzsche, ein, die auf diese Herausforderungen mit einer Neubewertung des "Lebens" als Grundlage der Erkenntnis reagierten.
Das zweite Kapitel behandelt Diltheys Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften. Es stellt die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften dar und erläutert Diltheys Konzept des Verstehens, das auf dem Erleben und Ausdruck von Lebensprozessen beruht. Dieses Kapitel beleuchtet auch die Rolle der Zeitlichkeit und die Unerfassbarkeit des Lebens in Diltheys Philosophie.
Das dritte Kapitel befasst sich mit Nietzsches Wissenschaftskritik. Es analysiert die von Nietzsche vorgebrachten Argumente gegen die Geschichtswissenschaft und stellt seine Sicht auf die "Wissenschaft als Willen zur Macht" dar. Das Kapitel geht auch auf die Gegenüberstellung von Historie und Leben und die drei Arten der Geschichtsbetrachtung nach Nietzsche ein.
Im vierten Kapitel werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Nietzsches und Diltheys Auffassung vom Verhältnis von Wissenschaft und Leben beleuchtet. Es untersucht die Historisierung des Wissens, die unterschiedlichen Lebensbegriffe der beiden Philosophen sowie die Frage nach der Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse im Kontext von Simmels Geschichtsphilosophie.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Schlüsselthemen der historischen Geisteswissenschaften, Lebensphilosophie, Wissenschaftskritik, Historismus, Objektivität und Hermeneutik im Kontext des 19. Jahrhunderts. Sie beleuchtet die Gedankenwelt von Wilhelm Dilthey und Friedrich Nietzsche, wobei zentrale Begriffe wie "Leben", "Erleben", "Ausdruck", "Verstehen", "Wille zur Macht", "Historie" und "Objektivität" im Mittelpunkt stehen. Darüber hinaus werden zeitgenössische Ansätze zur Beantwortung der Frage nach der Objektivität in der Wissenschaft, wie die Geschichtsphilosophie von Georg Simmel und die Kritik von Jürgen Habermas an Dilthey und Nietzsche, behandelt.
- Quote paper
- Moritz Deutschmann (Author), 2006, Das Verhältnis von Wissenschaft und Leben bei Nietzsche und Dilthey, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58949