Die transzendentalphilosophische Frage, wie Objektivität zustande kommt und worauf sie beruht, hat die Philosophie seit Kant intensiv beschäftigt. Kants Philosophie war vor allem einem erkenntniskritischen Ansatz gefolgt: Mit welcher Berechtigung können wir Aussagen über die Wirklichkeit machen? Wo liegen die Grenzen des Erkenntnisvermögens? Kant hatte vor allem durch eine begriffliche Analyse des Bewusstseins versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als parallel zur Hochindustrialisierung in Deutschland die Natur- und Ingenieurwissenschaften immer mehr an Bedeutung gewannen, schienen diese Fragen zunächst nicht mehr besonders interessant. Warum sollte man sich über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der eigenen Aussagen über die Wirklichkeit Gedanken machen, wenn sich doch eine ganz naive Wirklichkeitsauffassung in der technisch-naturwissenschaftlichen Praxis kontinuierlich bewährte? Die Frage, inwiefern die Welt durch unser Bewusstsein konstituiert sei und ob es ein "Ding an sich" gebe, erschien auf einmal als metaphysische Haarspalterei, bei der sich die moderne, positivistische Wissenschaft nicht lange aufhalten wollte. Mit dieser Wende verlor über eine rein intellektuelle Auseinandersetzung hinaus auch die Philosophie als Wissenschaft gegenüber den empirischen Wissenschaften an Bedeutung.
Dilthey und Nietzsche nahmen beide gegenüber diesen Entwicklungen die erkenntniskritische Fragestellung wieder auf. Anders als Kant gingen sie jedoch bei der Beantwortung der Frage nicht mehr auf die Strukturen des Bewusstseins im einzelnen Subjekt zurück, sondern auf das "Leben", das sie als Grundlage aller Erkenntnis sahen. Was mit diesem "Rückgang auf das Leben", der beiden Philosophen die nicht unumstrittene Einordnung in die "Lebensphilosophie" einbrachte , gemeint ist, und was daraus für das Verständnis von Wissenschaft und Objektivität folgt, ist die Fragestellung dieser Hausarbeit.
Inhalt
Einleitung
Diltheys Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften aus dem Leben
Die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften
Hermeneutik: Erleben, Ausdruck, Verstehen
Die Zeitlichkeit und die Unerfassbarkeit des Lebens
Nietzsches Wissenschaftskritik
Die Gegenüberstellung von Historie und Leben und die drei Arten der Geschichtsbetrachtung
Nietzsches Argumente gegen die Geschichtswissenschaft
Wissenschaft als ”Willen zur Macht”
Gemeinsamkeiten und Differenzen in Nietzsches und Diltheys Auffassung
Historisierung des Wissens
Unterschiedliche Lebensbegriffe
Objektivitätsbegründungen in Simmels Geschichtsphilosophie
Habermas Auseinandersetzung mit Dilthey und Nietzsche
Reflexion als Erkenntnisgrundlage
Literatur
Einleitung
”Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, nicht eine Fiktion sein? ”[1]
Die transzendentalphilosophische Frage, wie Objektivität zustande kommt und worauf sie beruht, hat die Philosophie seit Kant intensiv beschäftigt. Dabei verfolgte Kants Philosophie einen erkenntniskritischen Ansatz: Mit welcher Berechtigung können wir Aussagen über die Wirklichkeit machen? Wo liegen die Grenzen des Erkenntnisvermögens? Kant versuchte vor allem durch eine begriffliche Analyse des Bewusstseins Antworten auf diese Fragen zu finden.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als parallel zur Hochindustrialisierung in Deutschland die Natur- und Ingenieurwissenschaften immer mehr an Bedeutung gewannen, schienen diese Fragen zunächst nicht mehr besonders interessant. Warum sollte man sich über die Grundlagen der eigenen Aussagen über die Wirklichkeit Gedanken machen, wenn sie sich in der technisch-naturwissenschaftlichen Praxis bewährten? Die Frage, inwiefern die Welt durch unser Bewusstsein konstituiert sei und ob es ein "Ding an sich" gebe, erschien auf einmal als metaphysisches Problem der Vergangenheit, bei dem sich die moderne, positivistische Wissenschaft nicht lange aufhalten, sondern lieber gleich vom Gegebenen ausgehen wollte. Mit dieser Wende verlor über eine rein intellektuelle Auseinandersetzung hinaus auch die Philosophie als Wissenschaft gegenüber den empirischen Wissenschaften an Bedeutung.
Dilthey und Nietzsche nahmen beide gegenüber diesen Entwicklungen die erkenntniskritische Fragestellung wieder auf. Anders als Kant gingen sie jedoch bei der Beantwortung der Frage nicht mehr auf die Strukturen des Bewusstseins im einzelnen Subjekt zurück, sondern auf das "Leben", das sie als Grundlage aller Erkenntnis sahen.[2] Was mit diesem Rückgang auf das Leben, der beiden die Einordnung in die "Lebensphilosophie" einbrachte[3], gemeint ist, und was daraus für das Verständnis von Wissenschaft und Objektivität folgt, ist die Fragestellung dieser Hausarbeit.
Auch wenn Diltheys und Nietzsches philosophische Ausgangssituation gewisse Gemeinsamkeiten aufwies[4], scheinen sich ihre Antworten sehr deutlich von einander zu unterscheiden. Das wird besonders deutlich, wenn man ihr Verhältnis zur Historie und zum Historismus vergleicht: Dilthey stellte sich selbst ausdrücklich in die Tradition des Historismus und wurde zu einem Begründer der historisch arbeitenden, modernen Geisteswissenschaften, während Nietzsche gerade für seine Historismus-Kritik bekannt ist. Nietzsche spielt das Leben gegen die Geschichtswissenschaft aus, während Dilthey sie aus dem Leben neu zu rechtfertigen versucht, so könnte man in einem ersten Versuch das Verhältnis von Wissenschaft und Leben bei den beiden Philosophen charakterisieren.
Um der Klarheit der Argumentation willen werde ich zunächst die wichtigsten Ideen der beiden Philosophen zum Verhältnis von Wissenschaft und Leben getrennt darstellen, wobei ich mich auf eine problemorientierte Interpretation weniger Texte beschränken werde. Aus der Gegenüberstellung der beiden Philosophen wird sich dann ein bestimmtes systematisches Problem ergeben: In welchem Sinne kann die Wissenschaft, die von Dilthey und Nietzsche in unterschiedlicher Weise in ihrem Lebenszusammenhang gesehen wird, für sich Objektivität beanspruchen? Verschiedene Ansätze zur Lösung dieser Frage sollen am Ende der Arbeit thematisiert werden. Dabei werde ich zunächst eine zeitgenössische Antwort auf das Problem, nämlich Simmels Geschichtsphilosophie, behandeln und dann auf die von Jürgen Habermas formulierte grundsätzliche Kritik an Dilthey und Nietzsche eingehen.
Diltheys Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften aus dem Leben
Die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften
Diltheys philosophisches Projekt im ”Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften” ist eine erkenntnistheoretische Fundierung der historischen Geisteswissenschaften nach dem Vorbild von Kants Erkenntniskritik, wie auch schon die Wendung von der ”Kritik der historischen Vernunft” deutlich macht, die Dilthey hin und wieder verwendet.[5] Dilthey entwickelt seine wissenschaftstheoretische Konzeption der Geisteswissenschaften in Abgrenzung von den Methoden der Naturwissenschaften: Während die Naturwissenschaften die Natur dauernd durch hinzugedachte Gesetze, Modelle und Konstruktionen ergänzen müssten, um sie zu erklären, versuchten die Geisteswissenschaften, die Geschichte gerade durch einen Rückgang auf diejenigen Lebensvorgänge zu verstehen, aus denen sie hervorgegangen ist und die in ihr selbst enthalten sind.[6]
Dieser Rückgang auf die hinter der geschichtlichen Wirklichkeit stehenden Lebensprozesse ist für Dilthey nicht eine auf die Wissenschaft begrenzte Methode, sondern ein Vorgang, der jedem Menschen aus dem eigenen Leben vertraut ist. Auch die Geisteswissenschaften sind insofern selber Teil des Lebens, das sie zu verstehen versuchen: "Leben erfasst hier Leben"[7] könnte ihr Motto lauten. In den Geisteswissenschaften reflektiert sich also das Leben permanent selbst. Der “Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften” ist ein Versuch, diesen Reflexionsprozess genauer zu beschreiben und als Grundlage einer eigenständigen Kategorie von Wissenschaften zu etablieren. Dabei macht Dilthey die Grundthese von der Fundierung der Geisteswissenschaften im Leben in unterschiedlichen Argumentationsschritten plausibel. Zunächst erläutert er die Besonderheiten des verstehenden Zugangs der Geisteswissenschaften zur Wirklichkeit, um diese dann auf die zeitliche Struktur des Lebens zurückzuführen.
Hermeneutik: Erleben, Ausdruck, Verstehen
Verstehen bedeutet für Dilthey vor allem ein Schließen von einem Äußeren, Sinnlichen auf ein Inneres, den Sinnen Entzogenes, von einer "Lebensäußerung" auf ein "Geistiges".[8] Ein Kunstwerk zu verstehen heißt zum Beispiel, aus dem äußerlichen, sinnlich erfahrbaren Stoff auf die Intentionen und Gefühle des Künstlers zu schließen. Auch im Alltagsleben fassen wir permanent Sinneseindrücke als Ausdruck eines inneren Zustandes anderer Individuen auf, etwa wenn wir eine bestimmte Geste als “Trauer” oder “Zorn” deuten. In ähnlicher Weise lassen sich auch gesellschaftliche Einrichtungen, zum Beispiel in Gestalt von Institutionen, als objektivierter Ausdruck vergangener Lebensvorgänge erfassen, als ”objektiver Geist”, wie Dilthey unter Aufnahme von Hegels Begriff formuliert[9]: So lässt sich zum Beispiel eine Verfassung als Ergebnis politischer Machtverhältnisse zu einer bestimmten Zeit interpretieren.
Doch in welcher Beziehung stehen Äußeres und Inneres, Ausdruck und Deutung im Verstehen? Offenbar handelt es sich nicht um ein eindeutiges Kausalverhältnis: Das Verstehen geht nicht einfach von einer Wirkung auf eine Ursache.[10] Stattdessen spricht Dilthey an unterschiedlichen Stellen von einem ”Ausdruck” des Inneren in einem Äußeren. In diesem Gedanken spiegelt sich eine lange Tradition der deutschen Philosophie seit dem späten 18. Jahrhundert wider.[11]
Verstehen wird nach Dilthey dadurch möglich, dass wir diese Ausdrücke durch eigene Erlebnisse, nicht durch Gesetze oder Modelle wie bei Naturobjekten, erschließen. Nur indem wir unsere eigenen inneren Erlebnisse zugrundelegen, können wir Äußerungen anderer verstehen.[12] Umgekehrt werden für uns unsere Erlebnisse erst dadurch voll verständlich, dass wir sie in den Objektivationen der Gesellschaft, zum Beispiel in der Sprache oder in kulturell geprägten Symbolen, ausdrücken: "Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und Allgemeinen."[13] Dieser wechselseitige Zusammenhang zeigt sich auf einer höheren Ebene auch im Urteilen. Einerseits ist das Urteil im Gegebenen fundiert und muss immer wieder aus diesem bestätigt werden können, andererseits expliziert das Urteil erst das, was im Gegebenen nur implizit enthalten ist.[14]
Auch wenn allerdings zwischen Erleben und Verstehen, zwischen unmittelbarer subjektiver Gegebenheit und vermittelten Objektivationen, ein notwendiger Zusammenhang besteht, so lässt sich doch das eine nie vollkommen durch das andere ausschöpfen. Verstehen ist nicht einfach ein Reproduzieren des ursprünglichen Erlebnisses oder ein vollständiges Nachempfinden. Ein Erlebnis kann nie vollkommen auf den Begriff gebracht und insofern auch immer nur unvollständig verstanden werden, denn es ist nicht auf andere Formen von Erfahrung reduzierbar: ”Sein Dasein [das des Erlebnisses, M.D.] ist für mich ununterschieden von dem, was in ihm für mich da ist.”[15] Ein besonders einleuchtendes Beispiel für diesen Zusammenhang sind Erfahrungen, die an den eigenen Körper geknüpft sind: So kann man zwar über die eigenen Schmerzen reden, aber was diese in diesem Augenblick in einem selber sind, bleibt unvermittelbar.
Insofern kann ich zwar ein Erlebnis objektivieren, etwa in der Sprache oder in einem Gemälde, aber in dieser Objektivierung erscheint es unvermeidlich anders als bei seinem ursprünglichen Auftreten. Daher entsteht durch das Verstehen, das bei den Objektivationen früherer Erlebnisse ansetzt, immer etwas Neues: Die objektivierten, fremden Erlebnisse werden nie ganz zu eigenen.[16] Jedes Verstehen ist insofern immer eine produktive Deutung, ein ”intellektueller Prozess von höchster Anstrengung, der doch nie ganz realisiert werden kann.”[17] In der dauernden Erfahrung dieser Unangemessenheit bestätigt sich die Differenz zwischen mir und den anderen, und dadurch meine Individualität, immer wieder aufs Neue. Gerade in diesem Gedanken von der Unausweichlichkeit des Missverstehens (im Sinne des anders Verstehens) liegt eine große Nähe zu Nietzsche, der deswegen bemerkte, es sei für ihn beleidigend, verstanden zu werden.[18]
Die Zeitlichkeit und die Unerfassbarkeit des Lebens
Diltheys Vorstellungen von der Rolle des Verstehens in unserem Zugang zur Wirklichkeit hängen wesentlich mit seinem Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit zusammen, die auch spätere Philosophen, vor allem Heidegger, beeinflusst haben.[19] Zeitlichkeit ist für Dilthey denn auch die ”erste kategoriale Bestimmung” des Lebens.[20] Damit ist keineswegs nur gemeint, dass das Leben ein in der Zeit ablaufender Vorgang ist, sondern Leben und Zeit sind überhaupt nicht getrennt voneinander zu erfassen; sie sind zwei Begriffe für den gleichen Zusammenhang.[21] Dilthey wendet sich deswegen ausdrücklich gegen eine Übertragung der naturwissenschaftlichen "Idealität der Zeit", in der ein Vorgang und seine zeitliche Struktur gedanklich voneinander getrennt sind, auf die Geisteswissenschaften. Im Leben gebe es kein "schattenhaftes Reich der Zeitlosigkeit", das erst in einem gedanklich getrennten Schritt einer zeitlichen Struktur untergeordnet werden könnte[22] ; vielmehr sei unsere Wirklichkeit selbst uns nur in unterschiedlichen zeitlichen Modi, etwa der Erwartung oder der Erinnerung, gegeben: ”So bestimmt dies Erlebnis der Zeit nach allen Richtungen den Gehalt unseres Lebens.”[23]
Die Zeit ist für Dilthey wiederum nicht ein von außen an das Leben herangetragener Gliederungsbegriff, sondern Grundelement dieses Lebens selbst. Deswegen existiert eine historische Sichtweise der Wirklichkeit nicht nur als Ergebnis wissenschaftlicher Betrachtung, sondern auch als alltäglicher Bestandteil unseres Selbstverständnisses: Jeder von uns sieht sich selbst als Produkt einer bestimmten Lebensgeschichte und stellt sich permanent verschiedene zukünftige Lebensverläufe vor Augen. In der Autobiographie ist damit ”das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan."[24] Eine Vorstellung vom Verlauf des eigenen Lebens und von der eigenen Vergangenheit zu haben, ergibt sich auch ohne ausdrückliche Reflexion aus dem Leben selbst.
Gerade aufgrund dieser ursprünglichen Zeitlichkeit des Lebens ist es nicht möglich, Zeit unabhängig vom Leben zu beobachten. Eine solche Sichtweise brächte den dauernden Lebensfluss zum Erstarren und nähme ihm damit gerade die ihm wesentliche Veränderlichkeit: "Was wir erleben, sind Änderungen dessen, was eben war, und dass diese Änderungen von dem, was war, sich vollziehen. Aber den Fluss selber erleben wir nicht."[25] Zeitlichkeit als Lebensvorgang ist damit ein unhintergehbares, uns selbst nicht direkt zugängliches Kontinuum, über das man sich auch in der Reflexion nicht erheben kann, gerade weil es diese Reflexion erst ermöglicht. Daraus wird auch verständlich, warum das Leben, obwohl es für Diltheys Argumentation eine so wichtige Rolle spielt, unmöglich als solches auf einen Begriff zu bringen oder zu definieren ist.[26] Genauso wenig wie die Zeit darf man sich das Leben im Sinne Diltheys als ein Objekt gegenübersetzen. Vielmehr bildet das Leben überhaupt erst die Grundlage, auf der Objekte für uns verständlich werden können. Bedeutung als hermeneutische Kategorie entsteht erst dadurch, dass wir im eigenen Leben einzelne Vorgänge zur Gesamtheit unseres Lebens in Beziehung setzen.[27]
Wir können uns selbst gar nicht anders verstehen, als in solchen Perspektiven, in Erinnerungen und Erwartungen, die im Licht sich dauernd verändernder Gegenwarten immer wieder neu erscheinen. Das Leben selbst produziert damit im Zeitverlauf immer neue bedeutsame Ausblicke auf sich selbst, immer neue Blickrichtungen von der Gegenwart in die Vergangenheit und immer neue Zukunftserwartungen, ohne je selbst unmittelbar als Ganzes in den Blick zu kommen.
Der Verweis auf die Zeitlichkeit des Lebens macht also deutlich, dass jede Perspektive auf das Leben auf einem zeitlich vermittelten Verhältnis zwischen Teil und Ganzem im Lebens selbst beruht und dass nur in diesem Verhältnis Ereignisse für uns Bedeutung gewinnen können. Jedes Verstehen enthält damit eine zeitliche Differenz zu seinem Objekt, die das ursprüngliche Erlebnis verfremdet. Jedoch ist diese Verfremdung keineswegs ein Mangel, sondern nur durch sie entsteht überhaupt Bedeutung.
Gerade weil die Geisteswissenschaften insofern wesentlich Lebensvorgänge sind, existiert das Leben für sie nur in der Vielfalt seiner Auslegungen, die gerade aus ihrer spezifischen Beschränktheit, als Teil eines Ganzen, sinnvoll und verständlich sind. Das Leben ist damit immer mehr, als aus der Perspektive seiner geisteswissenschaftlichen Selbstbetrachtung deutlich werden kann: ”Leben ermöglicht Erkenntnis, ohne selbst erkannt werden zu können. Durch den philosophischen Begriff des Lebens werden darum alle übrigen philosophischen und wissenschaftlichen Begriffe zur Disposition gestellt.”[28] In diesem Argument liegt auch der tiefere Grund für die von Dilthey so deutlich verteidigte Pluralität der Weltanschauungen und historischen Wahrheiten, die vielen Kritikern, wie zum Beispiel Husserl, als ein Beleg für seinen ”Relativismus” galt.[29]
Nietzsches Wissenschaftskritik
Die Gegenüberstellung von Historie und Leben und die drei Arten der Geschichtsbetrachtung
Nietzsches ”Zweite Unzeitgemäße Betrachtung” verfolgt ein ganz anderes Ziel als Diltheys ”Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften”. Während Dilthey einen positiven Beitrag zur Weiterentwicklung der Wissenschaften leisten will, macht sich in Nietzsches gesamtem Werk eine grundsätzliche Kritik an der wissenschaftlichen Perspektive auf die Welt bemerkbar. Wie ein Motto steht schon am Anfang der ”Geburt der Tragödie” die Aufforderung, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers, die Kunst aber unter der des Lebens zu sehen.[30]
In der ”Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung” trifft Nietzsches Kritik vor allem die historischen Wissenschaften. Nietzsche wendet sich nicht gegen die Beschäftigung mit Geschichte im Allgemeinen, sondern gegen das Ausmaß und die Art, in der seine Zeitgenossen historische Erkenntnis hochschätzten, wie auch in seiner Aufforderung am Anfang zum Ausdruck kommt: ”Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet.”[31]
Diese These von der lebensfeindlichen Wirkung der Historie versucht Nietzsche auf verschiedene Weise zu belegen. Vor allem erscheint Nietzsche die Historie als eine handlungslähmende Macht. Manch Ahnungsloser sei ”zum derben Wollen und Begehren”[32] viel eher in der Lage, als ein historisch differenziert Denkender, dessen Wertungen und Maßstäbe sich permanent veränderten. Jedes Handeln enthalte notwendig ein Moment des Vergessens, ein Unrechttun gegenüber der Vergangenheit und die Historie stehe insofern dem Handeln im Weg.[33] Auch menschliches Glück sei nur in einem unhistorischen Leben möglich: ”Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkt, wie die Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist...”[34] Schon aus diesem Grund ließe sich Geschichte nie als reine, um Objektivität bemühte Wissenschaft betreiben; also solche wäre sie eine Art ”Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit”[35]. Jedoch gibt es bestimmte Formen der Geschichtsbetrachtung, die sich dazu eignen, das Leben zu unterstützen. Nietzsche unterscheidet drei Typen: die monumentale, die antiquarische und die kritische Historie.
Die monumentale Historie bietet nach Nietzsche den Betrachtern den Lebensnutzen, dass sie sich an den Heroen der Vergangenheit aufrichten und für die Auseinandersetzungen der Gegenwart vorbereiten können. Doch dazu muss der Historie als Wissenschaft Gewalt angetan werden: ”Die Individualität des Vergangenen” muss ”in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Übereinstimmung zerbrochen werden”[36].So sehr also die monumentale Betrachtung der Geschichte dem Leben nutzt, so sehr wird in ihr die Vergangenheit den Maßstäben und Zwecken der Gegenwart unterworfen.
Die zweite Betrachtungsart der Historie ist für Nietzsche die antiquarische, in der sich der Mensch als Produkt seiner Umgebung, seines Ortes, seiner engen Lebenswelt zu begreifen und sich so um so behaglicher in dieser einzurichten versucht.[37] Auch diese Sichtweise begünstigt nicht gerade den wissenschaftlich-faktengetreuen Umgang mit der Geschichte, denn sie hat von vorne herein nur Interesse an der Geschichte, die die eigene Lebensweise nicht in Frage stellt.[38] Die antiquarische Betrachtung der Historie neigt insofern dazu, Veränderungen zu unter- und Kontinuitäten zu überschätzen, sie bringt kein neues Leben hervor, sondern konserviert nur altes.[39]
Ganz im Gegensatz dazu steht die kritische Betrachtung der Historie, die die Vergangenheit nach den Maßstäben der Gegenwart verurteilt und sich von ihr abwendet. Damit nützt sie dem Leben, jener "dunkle[n], treibende[n], unersättlich sich selbst begehrende[n] Macht”[40], das sich von Zeit zu Zeit gegen sich selbst wendet, indem es sich von seiner eigenen Vergangenheit losreißt. Bei dieser Verurteilung ist der Urteilende immer gefährdet, denn er setzt seine eigene, historisch gewonnene Identität aufs Spiel.[41] Dieser kritischen Historie bringt Nietzsche am meisten Sympathie entgegen; er hat sie sich in späteren Arbeiten, etwa in der ”Genealogie der Moral”, immer wieder zu eigen gemacht.[42]
[...]
[1] Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in, ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 21988, Bd. 5, S. 54. Im Folgenden nenne ich nur noch den Titel sowie Band und Seitenzahl in der Kritischen Studienausgabe (KSA)
[2] So erkennt Stegmaier in Diltheys Lebensbegriff einen "kritischen Begriff" im Sinne von Kant. Stegmaier, Werner: Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, S. 167.
[3] Ebd., S. 25f.
[4] Bemerkenswert sind darüber hinaus die biographischen Gemeinsamkeiten der beiden Pastorensöhne, die ein interessantes Licht auf die Geistesgeschichte des späten 19. Jahrhunderts werfen. Vgl. ebd., S. 22f.
[5] Zum Beispiel in Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt 1981, S. 235.
[6] Ebd., S. 142. Vgl. auch das gesamte Kapitel über die "Verschiedenheit des Aufbaus in den Natur- und Geisteswissenschaften".
[7] Ebd., S. 162.
[8] Z.B. ebd., S. 95
[9] Ebd., S. 256.
[10] Ebd., S. 255.
[11] Zur Bedeutung des Ausdrucks-Gedankens in der idealistischen und romantischen Philosophie vgl. Taylor, Charles: Hegel, Frankfurt 1993, S. 28ff.
[12] Dilthey, Aufbau, a.a.O., S. 264.
[13] Ebd., S. 173.
[14] Ebd., S. 150.
[15] Ebd., S. 168.
[16] Ebd., S. 277.
[17] Ebd., S. 280. Interessanterweise scheint Dilthey diese Einsicht aber schwergefallen zu sein. So misst er an anderer Stelle gerade der Kunst eine Sonderstellung zu. Die Werke großer Künstler lösten sich von ihren Schöpfern, seien nicht nur einfach Ausdruck ihrer Lebensbedingungen, sondern dort träte man in ”ein Gebiet, wo alle Täuschung endet” (Ebd., S. 254).
[18] Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, a.a.O., S. 283 und S. 348.
[19] Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Frankfurt 1977 (=Band 2 der Gesamtausgabe), S. 428ff. Speziell zur Auseinandersetzung mit Dilthey vgl. S. 525f.
[20] Dilthey, Aufbau, a.a.O., S. 237. Gerade an dieser Stelle ist der Einfluss auf Heideggers Ideen zur Bedeutung der Zeitlichkeit in der Interpretation des Daseins unübersehbar. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 438f.
[21] Dilthey, Aufbau, a.a.O., S. 237.
[22] Ebd., S. 238.
[23] Ebd.
[24] Ebd., S. 247.
[25] Ebd., S. 240.
[26] Dilthey gibt zwar später eine Definition, die aber gerade von dem Aspekt der Zeitlichkeit ausdrücklich absieht: ”Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefasst in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den wechselnden Zeiten und Orten." Ebd., S. 282.
[27] Ebd., S. 289.
[28] Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, a.a.O., S. 146.
[29] Vgl. dazu ebd., S. 266ff sowie Riedel, Manfred: Einleitung, in: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt 1981, S. 9-81 (S. 12).
[30] Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 14.
[31] Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 245.
[32] Ebd., S. 252.
[33] Ebd., S. 254.
[34] Ebd., S. 250.
[35] Ebd., S. 257.
[36] Ebd., S. 261.
[37] Ebd., S. 265ff.
[38] Ebd., S. 267.
[39] Ebd., S. 268.
[40] Ebd., S. 269.
[41] Ebd., S. 270.
[42] Kittsteiner, Heinz-Dieter: Erinnern - Vergessen - Orientieren. Nietzsches Begriff des ‘umhüllenden Wahns’ als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Dieter Borchmeyer (Hrsg.), ‘Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt 1996, S. 48-76 (S.58).
- Citation du texte
- Moritz Deutschmann (Auteur), 2006, Das Verhältnis von Wissenschaft und Leben bei Nietzsche und Dilthey, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58949
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