„Mafia“ ist zweifellos ein viel strapazierter Begriff. Jede Form ansatzweise „organisierten Verbrechens“, von der Autoschieber- bis zur Zigarettenmafia erhält diese Bezeichnung. Gleichzeitig ist die Vorstellung vom typischen mafioso, das Bild eines smarten Gangsters mit pomadisierten Haaren, dank zahlreichen Filmlegenden allgegenwärtig. Jenseits von Schlagwort und Bildklischee allerdings scheint es relativ unklar, worin nun die eigentlichen Wesensmerkmale der mafia bestehen könnten.
Dieser Text versucht wenigstens einigen Grundzügen des Phänomens auf die Spur zu kommen. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger bestimmte illustre Führungspersönlichkeiten oder konkrete Syndikate. Vielmehr gilt es allgemeine Charakteristika „mafiöser Machenschaften“ herauszuarbeiten und jene gesellschaftlichen Umstände zu beleuchten, aus denen sie erwachsen.
Zu diesem Zweck wurde im Folgenden auf zwei Forschungsberichte zurückgegriffen, die sich bei der Behandlung des Themas als aufschlussreich erweisen dürften. Hierbei handelt es sich zum einen um die Ausführungen Anton Bloks zur westsizilianischen Mafia. Mit Hilfe zahlreicher Dokumente, Zeitzeugenstimmen und anhand eigener Beobachtungen rekonstruiert der Autor ihre Ursprünge, verfolgt Phasen ihrer Entwicklung und vermittelt letztlich einen Eindruck dessen, was für sie zumindest über weite Teile sizilianischer Geschichte hinweg kennzeichnend war.
Verglichen werden jene Ausführungen mit William Foote Whytes Studie zur „Street Corner Society“. Bei seiner Untersuchung des Bostoner North End trifft der Autor auf „mafiöse Strukturen“, die - wie noch zu zeigen sein wird - den sizilianischen gar nicht so unähnlich sind.
Inhalt
1. Einführung in das Thema
2. ländliche Unternehmer auf Sizilien
2.1. feudales Erbe
2.2. eine neue Machtinstanz
2.3. Mittelsmänner und Macht-Makler
3. städtische Unternehmer in North End, Boston
3.1. illegale Geschäftsfelder
3.2. das Verhältnis zu Gewalt
3.3. politische Mittelsmänner
4. „Früher war es Mafia; heute ist es Politik“
1. Einführung in das Thema
„Mafia“ ist zweifellos ein viel strapazierter Begriff. Jede Form ansatzweise „organisierten Verbrechens“, von der Autoschieber- bis zur Zigarettenmafia erhält diese Bezeichnung. Gleichzeitig ist die Vorstellung vom typischen mafioso, das Bild eines smarten Gangsters mit pomadisierten Haaren, dank zahlreichen Filmlegenden allgegenwärtig. Jenseits von Schlagwort und Bildklischee allerdings scheint es relativ unklar, worin nun die eigentlichen Wesensmerkmale der mafia bestehen könnten.
Dieser Text versucht wenigstens einigen Grundzügen des Phänomens auf die Spur zu kommen. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger bestimmte illustre Führungspersönlichkeiten oder konkrete Syndikate. Vielmehr gilt es allgemeine Charakteristika „mafiöser Machenschaften“ herauszuarbeiten und jene gesell-schaftlichen Umstände zu beleuchten, aus denen sie erwachsen.
Zu diesem Zweck wurde im Folgenden auf zwei Forschungsberichte zurückgegriffen, die sich bei der Behandlung des Themas als aufschlussreich erweisen dürften. Hierbei handelt es sich zum einen um die Ausführungen Anton Bloks zur westsizilianischen mafia[1]. Mit Hilfe zahlreicher Dokumente, Zeitzeugenstimmen und anhand eigener Beobachtungen rekonstruiert der Autor ihre Ursprünge, verfolgt Phasen ihrer Entwicklung und vermittelt letztlich einen Eindruck dessen, was für sie zumindest über weite Teile sizilianischer Geschichte hinweg kennzeichnend war.
Verglichen werden jene Ausführungen mit William Foote Whytes Studie zur „Street Corner Society“[2]. Bei seiner Untersuchung des Bostoner North End trifft der Autor auf „mafiöse Strukturen“, die - wie noch zu zeigen sein wird - den sizilianischen gar nicht so unähnlich sind.
2. ländliche Unternehmer auf Sizilien
2.1. feudales Erbe
Als Folge seiner Eroberung durch die Normannen war Sizilien seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts von einer feudalen Herrschaftsform geprägt. Ein Netzwerk lokaler Vasallen unterstand zwar formal einer zentralen königlichen Herrschaftsinstanz, war allerdings in der Praxis weitestgehend unabhängig und souverän. Die Barone beherrschten ihre autarken Territorien, die stati, relativ eigenmächtig, erhoben Steuern und sprachen Recht. Die Bevölkerung, in erster Linie Bauern, waren dem lokalen Adel verpflichtet und von seinem Wohlwollen abhängig[3].
Mit der offiziellen Aufhebung des Feudalismus unter britischer Kolonialherrschaft im Jahre 1812 sollte diese Abhängigkeit zwar beendet und die Entstehung eines grundbesitzenden, eigenständigeren Bauerntums befördert werden. Die Privatisierung und Aufteilung des Bodens, die auch Ziel zahlreicher weiterer Reformen des Bourbonen- und des diesen ablösenden italienischen Staates war, trug allerdings eher zur Verschärfung der bestehenden Verhältnisse bei. Der Boden als elementare Lebensgrundlage einer agrarischen Gesellschaft blieb im Adelsbesitz - dieser vermehrte sich dank aggressiven, mitunter illegalen Aufkaufs sogar teilweise noch beträchtlich.
Da sie zumindest formell auf ihre einstigen Privilegien - Rechtssprechung, Verwaltung etc. - verzichteten, mussten die Privateigentümer der verarmten Bauernschicht auch keine usi civici mehr zugestehen. Die öffentliche Nutzung natürlicher Ressourcen, der Getreideanbau, das Weiden der Tiere, die Möglichkeit zu jagen, das Sammeln von Holz und Steinen, aber auch von Früchten und Kräutern hatte den Bauern bis dahin eine gewisse Existenzgrundlage geliefert. Durch die Privatisierung des Bodens gerieten die aus feudaler Abhängigkeit entlassenen Bauern in eine neue, in gewisser Weise noch extremere Form des Abhängigseins. Ihrer traditionellen Zugangsrechte beraubt, waren sie gezwungen auf den Großbesitzungen der Oberschicht, den sogenannten latifondi, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften[4]. In gedrungenen „Agrarstädten“ versammelt - vor allem bei der Besiedelung des Binnenlandes hatte man seitens der Grundbesitzer stets darauf geachtet, Bauern und Landarbeiter auch räumlich von ihrer Lebensgrundlage zu trennen, um keine Besitzansprüche aufkommen zu lassen - lieferte die einfache Bevölkerung nun ein Reservoir an Arbeitskraft, das je nach Bedarf ausgeschöpft werden konnte[5]. Insbesondere in bevölkerungsreichen, durch ein Überangebot an Arbeitskraft gekennzeichneten Zeiten, war der Druck auf die Landbevölkerung, sich auch auf verschiedenen Besitzungen „saisonweise als Unterpächter, Tagelöhner, Hirten, Ackerknechte, Baumscherer oder Wächter“[6] zu verdingen, immens - ihrer Ausbeutung damit Tür und Tor geöffnet[7].
Barone und private Großgrundbesitzer gelangten auf Grundlage dieser Situation zu Reichtum und Wohlstand[8]. Abgesehen vom Profit kaum an ihrem landwirtschaftlichen Unternehmen interessiert - die Landarbeit gilt in diesen Regionen generell als niedere, verächtliche und eines uomo civile (respektabler Mann) unwürdigen Tätigkeit - zogen die Großgrundbesitzer bald in die größeren Städte. Hier lockte ein attraktiveres, von Müßiggang und Luxus geprägtes Leben.
Zur weiteren Verwaltung ihrer Güter allerdings bedurfte es nun Männern, die in der Lage waren die Geschäfte der latifondisti gewinnbringend weiterzuführen und dauerhaft nach dem Rechten zu sehen[9].
2.2. eine neue Machtinstanz
Für die Übernahme der Verwaltungs- und Kontrollaufgaben kam freilich nur eine gesellschaftliche Schicht in Frage, die sich vom Grand der einfachen Bauernschaft selbst genug abhob, um die Interessen der Großgrundbesitzer auch angemessen vertreten zu können. Rekrutiert wurden die neuen lokalen Machthaber demnach aus der Minderheit etwas wohlhabenderer, grund- und viehbesitzender Bauern. Als gabellotti wurden sie nun zu Pächtern größerer Anteile der latifondisti- Besitzungen. Auch Männer, die ihre Loyalität bei der Aufsicht über die Güter bereits bewiesen hatten, konnten ihre Machtpositionen im Zuge dieser Entwicklungen ausbauen[10].
In eben dieser Machtausdehnung, einer Verbesserung der eigenen Lebensumstände mit allen nur erdenklichen Mitteln ist das zentrale Anliegen jener neuen Kaste „ländlicher Unternehmer“ zu sehen, die Blok als mafiosi bezeichnet[11].
Dabei unterschied sich die konkrete Vorgehensweise der gabellotti in wesentlichen Bereichen kaum von jener, die auch von den adligen Großgrundbesitzern an den Tag gelegt worden war. Rücksichtslose Usurpation von Land und Ausbeutung der in völliger Abhängigkeit gehaltenen Arbeiterklasse sind zentrale Säulen ihres Aufstiegs. Sie waren es nun, die zu ihren Bedingungen wirtschaften, Unterpächtern Land zuteilen und Wanderarbeitern Gelegenheitsjobs vermitteln konnten. Wer sich nicht mit ihnen arrangierte, blieb ohne jede Lebensgrundlage. Mit Hilfe eines Abgabensystems, welches die Hauptlast des landwirtschaftlichen Produktionsrisikos (Ernteausfälle, Vieherkrankungen etc.) auf den Schultern der Unterpächter und Angestellten verteilte, hielt er seine Einkünfte relativ konstant. Gleichzeitig verstrickte er seine Arbeiter in ein Schuldennetz, aus dem es kaum ein Entkommen gab und das Letztere dem Grundherren stets aufs Neue verpflichtete[12]. Doch erschöpft sich der Einfluss der mafiosi keineswegs in der Kontrolle über die zentralen wirtschaftlichen Ressourcen.
Die Aufhebung des Feudalismus und die auf diese Maßnahme folgenden Bodenreformen hatten in erster Linie das Ziel verfolgt, die lokalen Souveräne Siziliens, verkörpert durch die Barone, aber auch ihre Großgrund besitzenden Nachfolger, zugunsten einer zentralen Regierungsinstanz zu entmachten. Gleichzeitig sollte eine neue Klasse von Kleinpächtern entstehen, deren Besserstellung - und Zufriedenheit - zugleich darauf abzielte, soziale Unruhen zu unterbinden[13].
Wie bereits erwähnt, bewirkten die Bodenreformen entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung eher eine Verstärkung der bäuerlichen, in Form der latifondi institutionalisierten Abhängigkeitsverhältnisse. Und auch bei der Entmachtung lokaler, ihren Herrschaftsanspruch untergrabender Potentaten scheiterte die Zentralgewalt. Es gelang ihr nicht die lokalen Machtsphären zu durchdringen - das feudale Erbe, die relative Autarkie der einzelnen Territorien und ihre schlechte Erschließung durch Strassen- und Handelsnetze[14] standen solchen Bemühungen im Wege.
Als Folge dieser beiden Entwicklungen - zunehmende Bauernnot und Unvermögen, die Gewalt auf Regierungsseite zu monopolisieren - war die formelle Autorität schizophrener Weise gar gezwungen mit den lokalen Machthabern zu kooperieren, um mit ihrer Hilfe die darbenden Bauern, deren Lage sie eigentlich hatte verbessern wollen, im Zaum zu halten. Dies brachte wiederum die mafiosi in eine äußerst komfortable Lage. So konnten sie einerseits relativ eigenmächtig und dennoch im schützenden Dunstkreis einer Regierung herrschen, die auf die Gewaltmittel ländlicher Unternehmer zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung absolut angewiesen war, gleichzeitig aber jene Repressalien, mit deren Hilfe sie die eigenen Profite und Machtmittel maximierten, innerhalb ihres angestammten Umfeldes als Schikane der ohnehin unbeliebten Zentralregierung verkaufen[15].
[...]
[1] Blok, A. (1981). Die Mafia in einem sizilianischen Dorf 1860-1960. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
[2] Whyte, W. F. (1996). Die Street Corner Society. Walter de Gruyter Verlag: Berlin/New York.
[3] Blok, S. 47-50 (Abschnitt: Geschichtliches).
[4] Blok, S. 58-66 (Abschnitt: Bodenordnung); S. 119-121.
[5] Vgl. Blok, S. 38-41 (Abschnitt: Das Erscheinungsbild des Dorfes); S. 52-53.
[6] Blok, S. 70-71.
[7] Blok, S. 71-72.
[8] Vgl. u. a. Blok, S. 54.
[9] Vgl. Blok, S. 66-79 (Abschnitt: Landwirtschaftliche Arbeit); S. 54; S. 61-62.
[10] Vgl. Blok, S. 55; 67-68.
[11] Vgl. u.a. Blok, S. 10; S. 55.
[12] Blok, S. 55; S. 66-79 (Abschnitt: Landwirtschaftliche Arbeit); S. 80-83 (Abschnitt: Latifondismo und Rentenkapitalismus).
[13] Blok, S. 60; S. 120-122.
[14] Zu diesem Aspekt siehe auch Blok, S. 41-47 (Abschnitt: Verkehr).
[15] Siehe hierzu Blok, S. 119-134 (Kapitel: Genese der Mafia).
- Arbeit zitieren
- Julian Opitz (Autor:in), 2005, Mafiöse Strukturen - Charakteristika "mafiöser Machenschaften", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58079
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