Die bis heute anhaltende Aktualität und Brisanz des Stückes ist zum einen in der provozierenden Wirkung des dramatischen Schlusses, der noch immer kontroverse Diskussionen hervorruft, begründet, zum anderen in der Bedeutsamkeit der tragischen Konflikte, in denen sich die Figuren befinden. Lessing greift mit ‚Emilia Galotti’ die literarisch oft bearbeitete Legende der Virginia auf, wie sie bei Titus Livius in seinem Geschichtswerk „Ab urbe condita“ und später bei Dionysios von Halikarnaß zu finden ist.2 Lessing verändert die beiden Vorlagen jedoch insoweit, dass er die politische Thematik, die in der Virginia-Legende eine tragende Rolle spielt, bei ‚Emilia Galotti’ in den Hintergrund stellt und sich vielmehr auf die Psychologie der Figuren konzentriert. Er habe „geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.“3 Lessings Hauptinteresse gilt also weniger der politischen Dimension, sondern vielmehr den Konflikten der einzelnen Individuen, durch deren Betrachtung er sich bei den Rezipienten eine moralische Reflexion und Beeinflussung erhofft. Das wichtigste Hilfsmittel zu dieser moralischen Belehrung stellt für Lessing das Mitleid dar, wobei er dieses als eine Form des Mit-Leidens versteht, die seiner Meinung nach die höchste aller Tugenden darstellt.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich infolgedessen mit Lessings Mitleidskonzeption im Hinblick auf ‚Emilia Galotti’. Neben einer knappen Darstellung dieser Konzeption steht vor allem deren Ausführung in Lessings Stück anhand einer textimmanten Analyse der einzelnen Figuren im Vordergrund der Hausarbeit. Da es sich bei Lessings Mitleidskonzeption jedoch um ein sehr komplexes und noch immer viel diskutiertes Gebiet handelt, werde ich mich bei meinen Ausführungen auf diejenigen Aspekte konzentrieren, die für das nähere Verständnis der Handlung und der Figuren von Bedeutung sind.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Lessings Mitleidskonzeption
3. Lessings Mitleidskonzeption in ‘Emilia Galotti’
Emilia Galotti
Odoardo Galotti
Graf Appiani
Prinz Hettore
Gräfin Orsina
4. Abschließende Bemerkungen
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung:
Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“[1] gehört zu den meist aufgeführten und gelesenen deutschen Dramen des 18. Jahrhunderts und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit.
Die bis heute anhaltende Aktualität und Brisanz des Stückes ist zum einen in der provozierenden Wirkung des dramatischen Schlusses, der noch immer kontroverse Diskussionen hervorruft, begründet, zum anderen in der Bedeutsamkeit der tragischen Konflikte, in denen sich die Figuren befinden.
Lessing greift mit ‚Emilia Galotti’ die literarisch oft bearbeitete Legende der Virginia auf, wie sie bei Titus Livius in seinem Geschichtswerk „Ab urbe condita“ und später bei Dionysios von Halikarnaß zu finden ist.[2]
Lessing verändert die beiden Vorlagen jedoch insoweit, dass er die politische Thematik, die in der Virginia-Legende eine tragende Rolle spielt, bei ‚Emilia Galotti’ in den Hintergrund stellt und sich vielmehr auf die Psychologie der Figuren konzentriert. Er habe „geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.“[3]
Lessings Hauptinteresse gilt also weniger der politischen Dimension, sondern vielmehr den Konflikten der einzelnen Individuen, durch deren Betrachtung er sich bei den Rezipienten eine moralische Reflexion und Beeinflussung erhofft.
Das wichtigste Hilfsmittel zu dieser moralischen Belehrung stellt für Lessing das Mitleid dar, wobei er dieses als eine Form des Mit-Leidens versteht, die seiner Meinung nach die höchste aller Tugenden darstellt.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich infolgedessen mit Lessings Mitleidskonzeption im Hinblick auf ‚Emilia Galotti’. Neben einer knappen Darstellung dieser Konzeption steht vor allem deren Ausführung in Lessings Stück anhand einer textimmanten Analyse der einzelnen Figuren im Vordergrund der Hausarbeit.
Da es sich bei Lessings Mitleidskonzeption jedoch um ein sehr komplexes und noch immer viel diskutiertes Gebiet handelt, werde ich mich bei meinen Ausführungen auf diejenigen Aspekte konzentrieren, die für das nähere Verständnis der Handlung und der Figuren von Bedeutung sind.
2. Lessings Mitleidskonzeption
Lessing verbindet mit dem Trauerspiel ein Ziel, das über das einfache Vergnügen des Zuschauens oder Lesens hinausgeht. Er sieht seine Aufgabe als Dramaturg darin, mittels des Dramas einen moralischen Einfluss auf den Rezipienten auszuüben, der diesem auch nach Beendigung des Stückes in Erinnerung bleibt, ihn sozusagen dauerhaft beeinflusst und damit zu einem moralisch besseren Menschen macht.
Der zentrale, die Wirkungsästhetik des Trauerspiels prägende Begriff für Lessing ist der des Mitleids, mit dessen Hilfe dieser dauerhafte Eindruck entstehen soll. Mitleidig zu sein bedeutet für Lessing gut und tugendhaft zu sein.
Nur durch die Erregung des Mitleids sieht Lessing den Auftrag der Tragödie bzw. des Theaters als erfüllt an, und zwar die moralische Erziehung und Besserung des Menschen, denn:
Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.[4]
In seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ und in seinen Stücken, vor allem aber in ‚Emilia Galotti’ knüpft Lessing an die Tragödientheorie der Antike, insbesondere an Aristoteles, an und adaptiert sie für seine Zeit.
Ziel der Tragödie, so Lessing in Anlehnung an Aristoteles, sei allein die Reinigung der Leidenschaften mithilfe des Mitleids. Im Mitvollzug der Handlung und im Mitgefühl mit dem Helden der Tragödie erfährt der Zuschauer die „ katharsis “, die Reinigung der Leidenschaften, an sich selbst und gelangt somit zu einer moralischen Besserung.
Aristoteles bestimmt im sechsten Kapitel seiner „Poetik“[5] den Zweck der Tragödie, indem er fordert, dass „durch [die Erregung von] Furcht (phobos) und Mitleid (eleos) eine Reinigung (katharsis) derartiger Leidenschaften bewerkstelligt“ werde.
Bis in die heutige poetologische Diskussion hinein spielt diese aristotelische Forderung eine tragende Rolle. Allerdings ist die Bedeutung der Begriffe eleos, phobos und katharsis sowie deren Zusammenhang auch heute noch nicht eindeutig geklärt. Phobos wurde meist als Furcht, Schrecken oder Schauer übersetzt, eleos als Mitleid, Jammer oder Rührung und katharsis meist als Reinigung, Läuterung oder Besserung.
Lessing diskutiert die aristotelische Bestimmung der Wirkung der Tragödie in seinem Briefwechsel mit den Freunden Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai, sowie später in seiner ‚Hamburgischen Dramaturgie’.
Lessing führt darin aus, dass er die Hauptaufgabe der Tragödie in der moralischen Besserung des Zuschauers durch die Katharsis sieht, worin er seinem Freund Nicolai vehement widerspricht, der als das beste Trauerspiel dasjenige ansah, „welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.“[6]
Lessing übersetzt den Begriff phobos entgegen dem allgemein gebräuchlichen Begriff ‚Schrecken’ mit ‚Furcht’. Die Furcht wird dabei dem Mitleid als dem zentralen Affekt untergeordnet und als „das auf uns selbst gerichtete Mitleid“[7] verstanden.
Lessing interpretiert den Zusammenhang von Mitleid und Furcht folgendermaßen:
… seine [d.h. Aristoteles’] Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines anderen, für diesen anderen erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.[8]
Lessing verdeutlicht in diesem Zitat, dass er die Furcht nicht als eine gleichberechtigte Leidenschaft neben das Mitleid stellt, sondern sie im Gegenteil nur als einen Weg sieht, mit dessen Hilfe man die Zuschauer zum Mitleid, anregen kann.
Um den Begriff des Mitleids näher zu erläutern diskutiert Lessing in seinen Briefen neben dem genannten Schrecken den ebenfalls aus der antiken Dramentheorie stammenden Begriff der „Bewunderung“. Für Lessing sind diese beiden Begriffe nicht wie für Nicolai zu den wertvollen Leidenschaften zu zählen, sondern dienen dem Dichter einzig und allein als „der Anfang und das Ende des Mitleids“.[9]
Er versteht das Gefühl des Schreckens als eine „plötzliche Überraschung des Mitleids“[10], sozusagen der unvermittelte Beginn dieser Gefühlsregung im Zuschauer und deshalb als Anfang allen Mitleids.
Die Bewunderung hingegen stellt für Lessing das „entbehrlich gewordene Mitleiden“[11] dar, der Teil der Handlung, in der der Zuschauer den Helden mehr bewundert oder gar beneidet als wirklich bemitleidet.
[...]
[1] Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Reclam Verlag, Stuttgart 2001
(Im Folgenden werden Zitate nur mit Seitenzahlen angegeben.)
[2] Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Erläuterungen und Dokumente. Hg. von Jan-Dirk Müller. Reclam
Verlag, Stuttgart 1993. (Erläuterungen)
[3] Barner, Wilfried: Gotthold Ephraim Lessing – Werke und Briefe in zwölf Bänden. Deutscher Klassiker Verlag,
Frankfurt am Main 1987. Band 11/1, S. 267 (Barner)
[4] Barner, S. 120
[5] Aristoteles: Poetik. Übersetzung von Olaf Gigon. Reclam Verlag, Stuttgart 1961. S. 30ff.
[6] Barner, S. 105
[7] Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Hanser Verlag, München 1970-1979 (Göpfert). Bd. 4, S. 578
[8] Ebd.
[9] Barner, S. 119
[10] Ebd.
[11] Ebd.
- Arbeit zitieren
- Jana Marquardt (Autor:in), 2005, Die Dramaturgie des Mitleids in Lessings 'Emilia Galotti', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57159
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