In meiner Arbeit habe ich mich mit fiktionaler und nichtfiktionaler KZ-Literatur beschäftigt. Hier entsteht das Problem eine Grenze zu ziehen, da oft beides ineinander übergeht. These ist, dass die Berichte, die eigentlich die Realität vermitteln wollen, sich nicht allzu sehr von der fiktionalen Literatur unterscheiden. Unbegreifliches zu beschreiben, benötigt immer eine Sprache, die sich von der ‚normalen’ abhebt. Somit erheben sich die Berichtenden in die Welt der Literatur und bedienen sich literarischer Tropen.
Gegenstand der Arbeit ist eben diese Wendungen, die in den Berichten auftreten, aufzudecken und sie mit denen aus der rein fiktionalen Literatur zu vergleichen. Nach intensiver Lektüre der Werke habe ich Themen ausgesucht, die nahezu in allen Berichten, Romanen und Erzählungen auftreten. Ein sehr interessantes Thema ist „Idealisierung von Freundschaft und Liebe“ (II.2.2), das eigentlich nur in der fiktionalen Literatur, d.h. bei Feuchtwanger, Seghers und Weil, vorkommt. Dies bleibt in den autobiographischen Berichten aus, wohl weil es so etwas nicht gegeben hat.
Inhalt
I. Einleitung
II. ‚Mensch sein’
II.1. Verlust des Menschlichen
II.1.1. Zwischen Mensch und Tier
II.1.2. Verdinglichung
II.1.3. Hunger und primäre Bedürfnisse
II.1.4. Von Würde und Identität
II.2. Zwischen Solidarität und Verrat
II.2.1. Politische und jüdische Gefangene
II.2.2. Idealisierung von Freundschaft und Liebe
II.3. Zwischen Leben und Tod
II.4. Rationales Denken
II.4.1. Die Fragen ‚Warum’ und ‚Wozu’
II.4.2. Eine Frage des ‚Jetzt’
II.5. Zwischen Angst und Hoffnung
III. Ausbruch
III.1. Flucht
III.2. Suizid
III.3. Kunst
III.3.1. Musik
III.3.2. Literatur
III.4. Glaube
III.5. Lügen und Gerüchte
III.6. Zwischen Resignation und Widerstand
IV. Heimat
IV.1. Zwischen Land und Leuten
IV.2. Sprache im Lager
V. Das Leben außerhalb
V.1. Denunziation und Angst
V.2. Natur und Freiheit
VI. Spezies ‚Überlebender’
VI.1. Die Schuldfrage
VI.2. Rachsucht
VI.3. Die Darstellung der Täter
VII. Schlussfolgerung
VIII. Bibliographie
VIII.1. Primärliteratur
VIII.2. Sekundärliteratur
I. Einleitung
Sechzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist Auschwitz vielmehr ein Begriff als der Name eines Ortes. Auschwitz, genau wie Buchenwald und Bergen-Belsen, ist zu einer Metapher geworden, zu einem Symbol für ein menschenunwürdiges Verbrechen, das nicht wieder geschehen darf, eine Art Mahnmal für die kommenden Generationen.
KZ-Literatur, die nicht nur die im KZ verfasste Literatur umfasst, sondern auch die Memoiren, Berichte Überlebender, die Jahre nach den schrecklichen Ereignissen niedergeschrieben wurden, ist ein sehr weiter Begriff. Sascha Feuchert gibt hierzu eine einigermaßen vollständige Definition davon, was man als ‚literarisch’ bezeichnen kann:
Es bezeichnet [...] Texte, die das Geschehen vermitteln wollen, indem sie z. B. Tropen benutzen, auf Archetypen zurückgreifen und das Geschehen [...] anordnen, ohne dabei wissenschaftlichen Kriterien und Konventionen zu folgen. Die Texte sind indes jeweils – im weiteren Sinne – „subjektive“ Interpretationen des Holocaust und keine wissenschaftlichen „Metadokumente“. Zu diesen Texten können neben Tagebüchern und Chroniken, die zur Zeit des Geschehens entstanden, auch Memoiren und Erinnerungen, die nach den Ereignissen von Betroffenen verfasst wurden, wie auch fiktionale Bearbeitungen (Romane, Gedichte, Dramen), die den Holocaust zentral behandeln, gehören.[1]
Der Begriff „fiktional“ ist demnach auch noch zu definieren, wobei diejenigen Romane oder Erzählungen, die von ehemaligen KZ-Häftlingen verfasst wurden, nicht gänzlich der fiktionalen KZ-Literatur zuzuordnen sind, da bei diesen auch immer autobiographische Erfahrungen eine Rolle spielen.
Die Frage, die sich unweigerlich stellt, ist, ob man Fiktion mit Wahrheit gleichstellen
kann. Liegt es in meinem Ermessen zu entscheiden, was wahr oder erfunden ist? Dieser
Last möchte ich mich gleich zu Beginn entledigen; Ziel dieser Arbeit wird nicht sein,
die Wahrheit aufzudecken. Wer nach Wahrheit sucht, sollte dies in den
Geschichtsbüchern tun, nicht in der Literatur.
Fiktion ist das Verwenden von fiktiven Handlungen und Personen. Jedoch reicht diese Definition hier nicht aus. Die Protagonisten in Willi Bredels Roman Die Prüfung sind zwar fiktive Personen, er tut dies aber vielmehr zum Schutz seiner ehemaligen Mitgefangenen[2]. Somit ist dieser Roman von der Form her der fiktionalen Literatur zuzuordnen, behandelt im Grunde jedoch reale Erlebnisse Willi Bredels und schwebt somit irgendwo zwischen Bericht und Fiktion. Ebenso ist Fred Wanders Erzählung Der siebente Brunnen einzustufen.
Die Berichte, die eigentlich jedem Anspruch auf literarische Werke entsagen, da sie die Realität vermitteln und das Schweigen brechen wollen, unterscheiden sich meiner Meinung nach nicht allzu sehr von der fiktionalen Literatur. Unbegreifliches zu beschreiben benötigt immer eine Sprache, die sich von der normalen unterscheidet, abhebt. Da das Schweigen gebrochen werden soll, erheben die Berichtenden sich in die Welt der Literatur und bedienen sich Metaphern, Symbolen, Bildern, anhand derer die Beschreibung der Tatsachen möglich wird. Ein Bericht sollte eigentlich nur berichten und Fakten vermitteln, somit gehören Tropen eigentlich nicht in Berichte, weil sie die Wahrheit auf Umwegen beschreiben. Dass diese aber in den Berichten vorkommen, wird in dieser Arbeit gezeigt werden.
Gegenstand dieser Arbeit wird also vielmehr sein, genau diese literarischen Wendungen in den Berichten aufzudecken. Inwieweit sind die Berichte mit literarischen Formen vergleichbar und wie unterscheiden sie sich von den fiktionalen Romanen und Erzählungen?
Die Frage, die sich also stellt ist, wo Berichte aufhören nur Berichte zu sein, und in den Bereich der Literatur übergehen und demnach auch als Literatur behandelt werden können.
Die Arbeit wird sich hier vor allem auf Berichte von Überlebenden beziehen d.h. Memoiren, die erst Jahre nach den Erlebnissen geschrieben wurden. Hinzu kommen Romane und Erzählungen von Überlebenden, die, um einen gewissen Abstand zu gewinnen, ihre Erfahrungen in eine literarische Form gepackt haben. Exilliteratur, Literatur geschrieben von Autoren, die zur NS-Zeit im Exil lebten, wird dennoch abgegrenzt und als rein fiktive Literatur bezeichnet.
Überlebensberichte, wie zum Beispiel die von Primo Levi, Lina Haag, Anita Lasker-Wallfisch oder Ruth Klüger, beziehen sich vordergründig auf das Erlebte und sind in Form von Berichten verfasst. Sam Dresden beschreibt in seinem Essay Holocaust und Literatur[3] das Problem der Wirklichkeitsveränderung, jedoch wird dieses Problem in dieser Arbeit nicht behandelt werden, da es mir vielmehr um die Darstellungsform und –art geht, als um die Frage, ob das Berichtete nun den historischen Fakten entspricht. Berichte von Überlebenden haben sehr viel mit Fiktion gemeinsam, da „Schreiben immer bedeutet, eine Auswahl zu treffen.“[4] Daher werde ich in dieser Arbeit versuchen eben diese Schnittpunkte zu ermitteln, an denen die Berichte und Fiktion sich berühren. Wie werden die unterschiedlichen Themen behandelt und beschrieben? Welche Mittel werden hierzu von den Autoren herangezogen und wie wirken sich diese auf die Textform aus?
II. ‚Mensch sein’
Das Leben im Konzentrationslager ist ein Leben in einer anderen Welt. Wie sich diese Welten voneinander unterscheiden, wird im folgenden Kapitel gezeigt werden.
In dieser anderen Welt gelten andere Regeln. Moralisch richtig handeln, menschlich handeln, ist somit nicht mit Werten der ‚normalen’ Welt zu vergleichen. Inwieweit sich diese Welt von der ‚normalen’ unterscheidet, beschreibt Primo Levi in einer ironischen Aufzählung über Unrecht und Recht im KZ:
Alles in allem: Der Diebstahl in Buna wird von der zivilen Direktion geahndet, aber von der SS autorisiert und begünstigt; der Diebstahl im Lager wird von der SS strengstens bestraft, aber von den Zivilisten als gewöhnlicher Tauschakt betrachtet; das Bestehlen der Häftlinge untereinander wird im allgemeinen bestraft, aber die Strafe trifft den Dieb ebenso hart wie den Bestohlenen.
Nun möge der Leser darüber nachdenken, was für eine Bedeutung unsere Worte „gut“ und „böse“ oder „Recht“ und „Unrecht“ im Lager haben konnten; auf Grund des Bildes, das wir vermittelt, und auf Grund der Beispiele, die wir angeführt, ermesse nun ein jeder, was alles von der Moral unserer Welt diesseits des Stacheldrahts noch Bestand haben konnte.[5]
Durch die Beschreibung der verstrickten „Lagerordnung“ wird deutlich, inwieweit man das Lager als Welt für sich ansehen muss, wie Levi dies auch tut, indem er von einer anderen Welt spricht. Das „wir“ ist hier irreführend, da nur er allein diese Beispiele anführt, vielmehr will er hiermit die Gemeinschaft der Häftlinge vermitteln. Diese Erläuterung soll klar machen, wie sehr die Häftlinge sich einer Ordnung unterwerfen müssen, die aus Regeln und Verboten besteht, welche für Menschen, die sich nicht in dieser ‚Welt’ befinden, mehr als unverständlich erscheint. Somit liegt Ruth Klüger völlig richtig, als sie einem deutschen Doktoranden erklärt, dass man keine moralische Erziehung vom Leben in einem Konzentrationslager erwarten könne, als sich dieser über einen ehemaligen Auschwitz-Häftling aufregt, der die Araber als schlechte Menschen beschimpft hat:
Wie kann einer, der in Auschwitz war, so reden? fragte der Deutsche. Ich hake ein, bemerke, vielleicht härter als nötig, was erwarte man denn, Auschwitz sei keine Lehranstalt für irgendetwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz. Von den KZs kam nichts Gutes, und ausgerechnet sittliche Läuterung erwarte er?[6]
Hiermit bestätigt sie Levis Eindrücke, man müsse diese beiden Welten voneinander trennen und es stehe nun jemandem, der nicht dort war, nicht zu, über die Moral der KZ-Häftlinge zu urteilen. Sehr stark tritt dies durch den Ausdruck „Deutscher“ hervor, den Klüger hier wohl absichtlich wählt, um klarzustellen, dass gerade dieser nicht das Recht hat über jenen Mann zu urteilen.
Durch diese Klarstellung ruft sie betretenes Schweigen hervor und bringt das Bild des Stacheldrahtes mit ein, das bereits von Levi verwendet wurde:
Deutschlands hoffnungsvoller intellektueller Nachwuchs senkt die Köpfe und löffelt verlegen Suppe. Jetzt habe ich euch mundtot gemacht, das war nicht die Absicht. Eine Wand ist immer zwischen den Generationen, hier aber Stacheldraht, alter, rostiger Stacheldraht. (Klüger: Weiter leben. S. 72)
Nicht nur zwischen den beiden Generationen, sondern zwischen den beiden Welten steht Stacheldraht, der, obwohl er bereits alt und rostig ist, noch immer die beiden Welten voneinander trennt. ‚Mensch sein’ im und außerhalb des Konzentrationslagers sind zwei verschiedene Dinge.
Levi verbindet diese beiden Welten jedoch in einer Beschreibung von Henri, einem Mitgefangenen, dessen Verhalten er auf die Welt draußen extrapoliert:
„Heute weiß ich, daß Henri lebt. Mir wäre viel daran gelegen, sein Leben als freier Mensch zu kennen, aber wiedersehen möchte ich ihn nicht.“ (Levi: Ist das ein Mensch? S. 121) Er hat Henri unter den Umständen des Konzentrationslagers kennengelernt, und dieser hat sich dort der anderen bedient, um sein eigenes Überleben zu gewährleisten. Levi wertet nicht über dieses Verhalten, jedoch ist er nicht willens, diesen Henri noch einmal wieder zu sehen. Levi leitet Henris Verhalten in der Welt außerhalb des Konzentrationslagers nicht automatisch von seinem Verhalten innerhalb des Konzentrationslagers ab. Er ist nur daran interessiert, wie dieser Mensch in Freiheit ist. Jedoch hat das Verhalten Henris im KZ einen derart bitteren Nachgeschmack bei Levi hinterlassen, dass er diesem Menschen nicht noch einmal begegnen will.
Etty Hillesum bereitet sich in ihrem Tagebuch bereits auf die kommenden Umstände im KZ vor und schreibt: „Und ob ich ein wertvoller Mensch bin, wird sich daran zeigen, wie ich mich unter den veränderten Bedingungen verhalten werde.“[7] Somit vereint auch sie die beiden Welten, so dass nur derjenige wertvoll ist, der sich auch im KZ menschlich verhalten kann.
Ruth Klüger wie auch Primo Levi erwähnen jedoch auch, dass sie positive Veränderungen an sich selbst entdeckt haben. So schreibt Klüger: „Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt, und die neunzehn oder zwanzig Monate, die ich dort verbrachte, haben aus mir ein soziales Wesen gemacht [...] “ (Klüger: Weiter leben. S. 103). Und auch Levi beschreibt, wie er durch andere menschlich blieb:
Lorenzo aber war ein Mensch. Seine Menschlichkeit war rein und unangetastet, er stand außerhalb dieser Welt der Verneinung. Lorenzo zu Dank war es mir vergönnt, daß auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 147)
Levi beschreibt hier eine tiefe Freundschaft, der er, wie er schreibt, sein eigenes Überleben zu verdanken hat. Durch diesen Freund wird er nicht nur menschlicher, sondern weiß auch wieder, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das hat aber auch damit zu tun, dass er Lorenzo abgrenzt von der Welt innerhalb des Stacheldrahtes, da er sich irgendwie „außerhalb“ befindet. Er gehört nicht dorthin und ist auch eine der wenigen Ausnahmen, von denen Levi berichtet.
II.1. Verlust des Menschlichen
Die vielen Einschränkungen im Leben der Juden und anderen verfolgten Gruppen kann man als Verlust des Menschlichen bezeichnen. Spätestens mit dem Einzug ins KZ, aber auch bereits vorher, können sich die Betroffenen oft nicht mehr als Menschen bezeichnen. Grete Weil, die in ihrer Erzählung Ans Ende der Welt einen kurzen Einblick in das Leben der Familie Waterdrager gibt, die sich kurz vor der Deportation in einem Amsterdamer Sammellager befindet, beschreibt folgenden Dialog zwischen dem Vater und einer Mitarbeiterin des jüdischen Rats:
„Na ja, Jüdin sind sie ja auch, Fräulein“, meinte er einlenkend.
„Für die Dauer des Krieges“, antwortete die Frau, ganz ohne Spott.
„Und danach sind Sie es vielleicht nicht mehr?“
„Danach bin ich wieder ein Mensch.“[8]
Dieses Bild der Kategorisierung, das die Nationalsozialisten den Leuten eingetrichtert haben, versteht die Autorin, die selbst versteckt in Amsterdam lebte, gezielt einzusetzen. Es gibt keine Menschen mehr, sondern nur noch Kategorien, denen die Menschen zugeteilt werden. Und Juden gehören diesem System nach sicher nicht mehr in die Kategorie der Menschen.
Fred Wander geht gezielter auf den Zustand der Gefangenen im KZ ein, die sich im KZ nicht mehr als Menschen fühlen, und es dennoch einmal waren:
Weil er es hinausschreien muß: Ich bin ein Mensch! Ich wurde geachtet! möchte er rufen. Ich wurde geliebt, hatte ein Heim, eine Frau und Kinder, hatte Freunde. Ich habe Gutes getan und keinen Dank dafür gefordert.[9]
Auffallend ist hier, dass Wander überall das Präteritum oder das Perfekt verwendet, um das Vergangene zu bezeichnen. Jedoch steht der Satz „Ich bin ein Mensch“ im Präsens, womit er sagen will, dass man dies nicht ablegen kann oder will. Die Familie und das Heim kann man ihm nehmen, nicht aber die Tatsache, dass er ein Mensch ist.
Klüger dagegen schreibt, dass für sie Birkenau die logische Folge auf das war, was vorangegangen war, da ihr in Wien Stück für Stück das Leben aberkannt wurde (Klüger: Weiter leben. S. 113), angefangen mit den Nürnberger Gesetzen bis hin zum Tragen des Davidsterns.
Inwieweit diese Degradierung der Menschen weiter fortschreitet, bis zum Schluss nichts mehr übrig ist, wird in folgenden Unterkapiteln gezeigt werden.
II. 1. 1. Zwischen Mensch und Tier
Der Vergleich mit Tieren liegt immer sehr nah, wenn es um die Beschreibung der Zustände in den Konzentrationslagern geht. Auch die Autoren der Berichte greifen immer wieder auf Vergleiche mit Tieren zurück. So macht Levi gleich zu Anfang deutlich, dass man es nicht geschehen lassen darf, zum Tier zu werden, schon allein um später Zeugnis ablegen zu können (Levi: Ist das ein Mensch? S. 46). Es ist eher ein Aufruf zum Widerstand, ein Aufruf zum Überleben.
Lina Haag beschreibt weitaus ironischer eine Führung im Gefängnis. Sie vergleicht es mit einer „Exotenschau“[10]. Auch weiter in ihrem Bericht vergleicht sie die Gefangenen mit Tieren im Zoo, indem sie Begriffe wie „Löwenzwinger“ oder „Affenstall“ (Haag: Hand voll Staub. S. 143) verwendet.
Bei ihrer Verhaftung klingt jedoch weniger Ironie, als vielmehr Erschütterung durch darüber, wie die beiden (sie und ihr Ehemann) abgeführt werden: „Wie Tiere. Und wie ich aus bitteren Erfahrungen wusste, machten diese Männer mit den Revolvern in der Tasche keinen Unterschied zwischen Vieh und uns. Wie Tiere.“ (Haag: Hand voll Staub. S. 34) Durch die Wiederholung wird deutlich, wie erschüttert sie über diesen Zustand ist. Sie will auf keinen Fall, dass dieses Bild einfach nur abgeflacht wird, sondern der Leser soll sich dessen bewusst werden, dass sie zum Objekt degradiert wurden.
Auch Klüger wendet fast die ganze Zeit Tiervergleiche an. So beschreibt sie die Selektion für eine Arbeitergruppe folgendermaßen: „ ‚Die ist aber noch sehr klein’, bemerkte der Herr über Leben und Tod, nicht unfreundlich, eher wie man Kühe und Kälber besichtigt.“ (Klüger: Weiter leben. S. 134)
Den SS-Mann als Herr über Leben und Tod zu beschreiben ist eine sehr treffende, wenn auch grausame Metapher. Das Bild kann sogar wörtlich genommen werden, da er wirklich derjenige ist, der entscheidet, ob sie leben darf oder nicht.
Auch beschreibt sie sich selbst einmal als Kalb, als es um die Aufseherinnen geht, die sich um die Kinder kümmern: „Das Kalb, mit dem man spielt, bleibt trotzdem Schlachtvieh. So ein Kalb wollte ich nicht sein.“ (Klüger: Weiter leben. S. 147) Ein anderes Mal bezeichnet sie sich selbst als Hund, der bei der Ankunft in Birkenau vielmehr auf den Ton als auf die Worte des SS-Aufseher hört (Klüger: Weiter leben. S. 114). Diese Gleichstellung mit Tieren wird in dem Bericht von Klüger nicht so sehr als negativ beschrieben, sondern vielmehr als einzige Möglichkeit, die unmenschlichen Umstände zu beschreiben. Trotzdem fragt sie sich, oder vielmehr den Leser auch, ob an verschiedenen Stellen ein Tiervergleich angebracht ist: „Paßt hier ein Vergleich mit Tieren?“ (Klüger: Weiter leben. S. 151) Außerdem geht sie weiter in ihrer Erklärung zu den Tiermetaphern:
Noch jetzt, wenn ich Güterwagen sehe, überläuft es mich. Es ist üblich, Viehwaggons zu sagen, aber auch Tiere werden ja normalerweise nicht so befördert, und wenn, so sollte es nicht sein. Ist denn Tierquälerei die einzige Beziehung von Menschen und Tieren, die uns einfällt, wenn wir sagen, man hätte uns wie Tiere behandelt, also in Viehwaggons gesteckt? (Klüger: Weiter leben. S. 108)
Es handelt sich hier mehr um eine Reflexion über die Ereignisse, typisch da sie ihre Erfahrungen erst viele Jahre nach dem Geschehen niedergeschrieben hat. Die Frage wendet sich direkt an den Leser oder die Leserin, um ihn oder sie aufzurütteln. Er oder sie soll trotz der Abgestumpftheit den grausamen Aspekt dieses Vergleichs nicht übersehen. Und später schreibt sie, dass diese ewigen Vergleiche mit Schlachtvieh sie zur Vegetarierin gemacht hätten (Klüger: Weiter leben. S. 147-148).
Ganz anders bedient sich Fred Wander dieses Vergleichs, als er Kinder im KZ beschreibt. Ihm geht es hier um das Instinktive, das diese kleinen „Menschentiere“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 135) im Lager erlernt haben. Er beschreibt die Kleinen wie folgt:
Sie hockten um den Ofen, hüteten ihren Schatz, waren bereit, ihn mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. [...] Im Gesicht Joschkos spiegelte sich Verschlagenheit des Fuchses, Gleichmut der Katzen, wölfischer Ernst. Sein Anblick entzückte mich. (Wander: Der siebente Brunnen. S. 136, S. 138)
Er beschreibt die Kinder mit den tierischen Attributen, jedoch liegt nichts Negatives in diesem Vergleich, vielmehr ist es Begeisterung, dass diese kleinen Wesen es geschafft haben auf diese Art zu überleben. Nur durch dieses tierische, instinktive Verhalten konnten die Kinder es schaffen, die Hölle des Konzentrationslagers zu überstehen. Mit der Frage „[L]ag darin nicht alle Größe und Würde des Menschengeschlechts?“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 139) wendet er sich ebenfalls an den Leser, jedoch nicht um die Tiervergleiche in Frage zu stellen, sondern vielmehr, um die Frage aufzuwerfen: Wie kann man das als schlecht verurteilen, was einem die Freiheit schenkt? Er sieht diese ‚Vertierung’ als positiv, gezeigt am Bild der kleinsten und unschuldigsten Opfer des Nationalsozialismus, den Kindern. Dadurch, dass er dieses Bild durch Kinder darstellt, wird dem Leser unmittelbar klar, dass dieses Verhalten nicht schlecht sein kann, sondern eine notwendige Maßnahme für das Überleben ist.
Anders stellt es sich im Bild dar, das Wander von Erwachsenen gibt, als sie gezwungen werden, Wagen zu ziehen, die eigentlich dazu dienten, von Pferden gezogen zu werden.
Und Rabbi Schimon schüttelte den Kopf: Men wird doch nicht annemmen, doß wir... Aber wir zogen die Wagen. Tausend Häftlinge. Wir zogen sie die weißen Berge hinauf, als hätten wir nie etwas anderes getan. [...] Der SS-Oberscharführer Wenzel, ein schöner Mann, hatte noch einen Gaul erwischt, mit dem sprengte er aufgeregt vor und zurück, um Ordnung in die Karawane zu bringen. Welch ein Anblick, dieses starke Tier, gespannt wie eine Stahlfeder und unsicher tänzelnd auf dem Eis, mit angezogenem Kopf und blutunterlaufenen Augen. (Wander: Der siebente Brunnen. S. 34)
Durch die detaillierte Beschreibung des Pferdes wird ein sehr offensichtlicher Kontrast zwischen den Häftlingen und dem Tier erstellt, dennoch müssen sie die Arbeit verrichten, die eigentlich dem Tier zugedacht ist und tun dies auch. Das Tier wird wertvoller und ansehnlicher beschrieben als die Häftlinge, die somit zu weniger degradiert werden als ein Tier.
Der Pfarrer Jean Bernard, der sich in Dachau befand, schreibt, weniger mit Bildern bestückt, aber offensichtlich, wie sich die Tiere im Lager von den Häftlingen abheben. So erzählt er, dass er wegen eines Verstoßes zum Lagerkommandanten bestellt wird, der gerade dabei ist, Kapos zu testen, da er einen Pfleger für seinen Hund braucht. Einer, der sich wohl ungeschickt benommen hat, fliegt mit einem Fußtritt hinaus: „ ‚Schade’, sagt er im Vorbeigehen, ‚das Vieh kriegt feines Essen...’“[11] Diese Aussage macht den Unterschied zwischen Häftling und Tier klar: Die Tiere bekommen sogar besseres Essen.
Als er dann beim Kommandanten ist, und sich dieser die Strafe für ihn überlegt, schreibt er: „Er liebkost den Hund. Vielleicht bringt ihn das auf menschliche Gedanken.“ (Bernard: Pfarrerblock. S. 77) Obwohl Bernard hier nichts anderes als einen Bericht schreiben will, gelingt ihm dieses Oxymoron, den Hund in Verbindung mit Menschlichkeit zu bringen. Dies stellt nur noch einmal deutlich dar, inwieweit die menschlichen und tierischen Attribute/Werte im KZ verschoben sind und auch, wie die Berichtschreiber sich vielleicht unbewusst literarischer Tropen bedienen.
Bei anderen Autoren, so zum Beispiel bei Anita Lasker-Wallfisch, wird diese Verwandlung in Tiere erst zum Schluss, d. h. nach der Befreiung angesprochen: „[Und] so verwandeln sie sich langsam vom Tier zum Menschen.“[12] Eben genau diese Metamorphose beschreibt auch Primo Levi kurz vor der Befreiung, als die Wachen bereits das Lager verlassen haben:
Es war die erste menschliche Geste, die unter uns geschah. Ich glaube, daß man auf diesen Augenblick den Beginn jenes Vorgangs festsetzen könnte, der uns, die wir nicht starben, von Häftlingen nach und nach zu Menschen verwandelte. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 191)
Levi geht hier nicht vom Tier aus, sondern vom Häftling. Da er diesen aber, wie wir später sehen werden, sogar als niedriger einschätzt als ein Tier, ist dies nicht von belang. Viel wichtiger ist die Tatsache dieser Verwandlung und dass sie stattfindet. Dennoch beschreibt er sieben Tage später (sein Bericht ist zum Schluss wie ein Tagebuch mit Eintrag des Datums geführt), wie sehr diese Verwandlung zum Tier trotzdem weitergeht, als die Befreiung immer noch auf sich warten lässt:
Wir lagen in einer Welt der Toten und der Larven. Um uns und in uns war die letzte Spur von Zivilisation geschwunden. Das Werk der Vertierung, von den triumphierenden Deutschen begonnen, war von den geschlagenen Deutschen vollbracht worden. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 205-206)
Der Begriff „Larven“ deutet ein Zwischenstadium in der Entwicklung verschiedener Tierarten an, aber er geht vor allem auf diese „Vertierung“ ein, die er für gewollt hält.
Somit ist auch klar, warum er im ersten Zitat von den beiden letzten nicht den Begriff „überleben“, oder „die, die lebten“ verwendet, sondern, weil es eine solche Ausnahme ist, schreibt er die, „die nicht starben“. Anita Lasker-Wallfisch bedient sich auch vor der Befreiung nur einmal des Tiervergleichs, nämlich in Bezug auf das Sterben: „Die Menschen starben wie die Fliegen.“ (Lasker-Wallfisch: Wahrheit erben. S. 150) Außerdem schreibt Levi, dass die geschlagenen Deutschen noch längst nicht die Macht über die Gefangenen verloren haben. Durch ihren Abzug aus dem KZ wird die „Vertierung“ erst richtig „vollbracht“.
Viel dezenter, vielleicht unsicherer, geht Anna Seghers mit dem Tiervergleich um. Um genau zu sagen, findet sich nur ein einziger in ihrem Roman Das siebte Kreuz. Und auch dieser ist sehr nuanciert angedeutet. Sie beschreibt hier den Anfang der Flucht der sieben Häftlinge, die von SS-Männern mit Hunden verfolgt werden:
Von der Außenbaracke laufen die Hunde gegen den Weidendamm, ein dünner Knall und dann noch einer, ein Aufklatschen, und das harte Gebell der Hunde schlägt über einem anderen dünnen Gebell zusammen, das gar nicht dagegen aufkam und gar kein Hund sein kann, aber auch keine menschliche Stimme, und wahrscheinlich hat der Mensch, den sie jetzt abschleppen, auch nichts Menschliches mehr an sich.[13]
Sie deutet nur an, wie dieser Häftling, der wieder gefangen genommen wird, zum Tier wird, durch den Ausdruck des Bellens, und dann zu noch weniger, da sogar die Hunde ihn übertönen. Er hat nichts mehr von einem Menschen, nicht nur, weil er körperlich gefoltert wird, sondern vielmehr, weil man ihm die Freiheit wieder genommen hat.
II. 1. 2. Verdinglichung
Wie bereits angedeutet, ist die „Vertierung“ nicht die letzte Station in der Degradierung der Menschen im KZ. Um weiter auf den Zustand der Abstumpfung von Gefühlen einzugehen, bedienen sich viele Autoren dem Bild der Maschine oder einer Sache.
Allen voran Primo Levi, der in dieser Metapher ein viel treffenderes Bild zu finden scheint, als das von Tieren. So beschreibt er den Marsch aus dem Lager, begleitet von Musik, wie folgt:
Tot sind ihre Seelen, und die Musik treibt sie dahin wie der Wind das welke Laub und ersetzt ihren Willen. Denn ein Wille ist nicht mehr da, und jeder Pulsschlag wird zu einem Schritt, zu einer reflexbedingten Kontraktion verbrauchter Muskeln; das haben die Deutschen zuwege gebracht. Zehntausend sind sie, und doch nur eine einzige, graue Maschine, willfährig bis zum Äußersten; sie denken nicht und sie wollen nicht, sie marschieren. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 58)
Er beschreibt die Häftlinge, als ob sie Maschinen wären, die nicht mehr denken. Und das Schlimmste daran ist, nicht dass sie es nicht könnten, sondern dass sie es nicht wollen. Durch die Musik werden sie getrieben, kein innerer Wille ist mehr da, kein Gefühl, nur eine Abfolge von Muskelkontraktionen.
Häftlinge beschreibt er sogar als weniger wert, als er die Gegend Buna beschreibt: „Nichts lebt hier, nur Maschinen und Sklaven: und jene mehr als diese.“ (Levi: Ist das ein Mensch? S. 85) Er spricht den Maschinen mehr Leben zu als den Häftlingen. Noch deutlicher wird dieses Bild, als er eine Maschine personalisiert in seinem Bericht:
Abseits der Straße ist ein Bagger am Werk. Der an Seilen schwebende Greifer reißt seine zahnbewehrten Kiefer auf, wägt einen Augenblick wie unschlüssig über seine Wahl, stürzt sich in die lehmige, weiche Erde und packt gierig zu, während von der Bedienungskabine mit zufriedenem Schnauben dicker, weißer Dampf emporsteigt. Dann fährt er wieder hoch, macht eine halbe Drehung, erbricht hinter sich den Bissen, den er trug, und alles beginnt von neuem. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 87-88)
Durch diese Personalisierung einer Maschine macht er noch einmal deutlich, inwieweit mehr Leben in diesen Maschinen war, als in den Häftlingen selbst. Er spricht dem Bagger mehrere menschliche oder auch tierische Attribute zu, die auf jeden Fall auf etwas Lebendiges schließen lassen. Diese Personalisierung, der er sich bedient, verdeutlicht die Unmöglichkeit die Zustände mit normaler Sprache zu vermitteln. Er begibt sich in literarische Gefilde um deutlich zu machen, wie sehr die hungernden Häftlinge diesen Bagger beneiden:
Auf unsere Spaten gestützt sehen wir gebannt zu. Bei jedem Biß des Greifers bewegen sich die Münder, und die Adamsäpfel gleiten hinauf und hinab, erbärmlich anzusehen unter der schlaffen Haut. Wir können uns nicht losreißen vom Schauspiel des fressenden Baggers. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 88)
Andrea Reiter geht auf diese verdrehte Wahrnehmung der Umwelt ein:
Obwohl Essensmetaphorik auch in normalen Sprechsituationen durchaus gebräuchlich ist, gewinnt man dennoch den Eindruck, daß die mangelhafte und einseitige Ernährung die Phantasie der Häftlinge so überwältigend beschäftigte, daß Metaphorik im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme die Perzeption der Umwelt wesentlich bestimmte.[14]
Sie führt Primo Levis Beschreibung unter ihren Beispielen nicht an, obwohl ich denke, dass diese Beschreibung wohl am ehesten auf diese Metaphorik zutrifft.
Der Gebrauch Primo Levis des „fressenden Baggers“ benutzt, schließt nicht notgedrungen auf ein tierisches Element, wie er später in seinem Bericht erklärt, als ein SS-Mann fragt, wer noch zu fressen habe:
Das sagt er nicht aus Spott und Hohn, sondern weil das, was wir da in größter Hast stehend tun, wobei wir uns Mund und Kehle verbrennen und nicht einmal Zeit haben, Atem zu holen, ein „Fressen“ von Tieren und wahrlich kein „Essen“ von Menschen ist, die mit Sammlung bei Tisch sitzen. „Fressen“ ist der angebrachte und von uns allgemein verwendete Ausdruck. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 90)
Andere Autoren finden nicht solche Bilder um diese Verdinglichung der Menschen zu vermitteln. So setzt Bernard das Wort „Material“ lediglich unter Anführungszeichen, mit dem die Leichen auf dem Weg ins Krematorium gemeint sind (Bernard: Pfarrerblock. S. 164). Seine Beschreibung erhält dadurch einen bitteren Unterton, der wohl auch gewollt ist. Auf die gleiche Art und Weise tut es Levi, als es um das Abzählen nach der Ankunft geht, hier stellt er auch das Wort „Stück“ unter Anführungszeichen, dadurch ergibt sich jedoch eher ein ironischer Unterton.
Auch Fred Wander wählt bei der Beschreibung von Leichen eine sehr schlichte. Er beschreibt Eisenbahnschienen, die am Rand der Straße aufgeschichtet sind. Dann fügt er in einem nüchtern anmutenden Satz hinzu: „Aber es waren Leichen.“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 66)
Durch diese eher nüchternen Beschreibungen Wanders und Bernards wird diese Verdinglichung der Menschen nicht beschönigt, aber auch nicht untergraben. Sie soll dem Leser deutlich machen, inwieweit die Lagersprache bereits in die Häftlinge übergegangen ist, oder inwieweit sich die Häftlinge bereits mit dem allgegenwärtigen Tod oder den Leichen abgefunden haben.
Im Gegensatz dazu hat Grete Weil in ihrer Erzählung das Bedürfnis, diese Verdinglichung weiter zu erklären:
Und dabei blieb es. 285 gingen auf Transport.
Doch es waren gar keine Zahlen. Es waren Männer, Frauen und Kinder mit dunklen, großen, schwermütigen Augen, Pelzarbeiter und Bankiers, Lumpenverkäufer und Gelehrte, Diamantenschleifer und Fabrikanten. Es waren Menschen, die haßten, und Menschen, die liebten. (Weil: Ans Ende der Welt. S. 74)
Sie fährt noch fort mit ihrer Beschreibung, um dem Leser ein menschliches Bild dieser „Zahlen“ zu liefern. Ganz im Gegensatz zu den Überlebenden der Lager, glaubt sie genau beschreiben zu müssen, wer sich eigentlich hinter den anonymen Zahlen verbirgt.
Ein ganz anderes Beispiel zeigt sich bei Anna Seghers. Der sich auf der Flucht befindende Georg versteckt sich in einem kleinen Wald, starr vor Angst entdeckt zu werden: „Jetzt nur kein Mensch sein, jetzt Wurzeln schlagen, ein Weidenstamm unter Weidenstämmen, jetzt Rinde bekommen und Zweige statt Arme.“ (Seghers: Das siebte Kreuz. S. 25) Sie beschreibt den Wunsch Georgs zum Baum zu werden, sich der Natur anzupassen, um nicht entdeckt zu werden. Obwohl diese Verwandlung in ein nichtmenschliches Wesen durchaus positiv ist, kann sie dennoch diesem Kapitel zugeordnet werden. Seghers geht ganz anders mit diesem Bild um, als dies ehemalige KZ-Häftlinge tun. Hinzu muss gesagt sein, dass es sich bei hier nicht um eine Maschine oder Sache handelt, sondern um ein Element der Natur - und die Natur wird auch in den Berichten eher mit Leben und Freiheit in Verbindung gebracht, als mit Tod und Qualen. Die Verwandlung in einen Baum würde hier auch die Freiheit für Georg bedeuten, somit ist dies bereits ein Ausblick auf das Kapitel V.2.
II. 1. 3. Hunger und primäre Bedürfnisse
Da der Hunger im Lager eine sehr wichtige Rolle spielte, wird diesem auch ein ganzes Kapitel gewidmet. Eben weil er so wichtig war, wird er auch auf verschiedenste Weisen thematisiert. Das Beispiel von Primo Levis „fressendem Bagger“ ist da nur eines. Die Häftlinge bekamen nicht genug zu essen und zu wenig nahrhaftes Essen. Es entsprach auf keinen Fall den Anstrengungen der täglichen Sklavenarbeit.
So schreibt Anita Lasker-Wallfisch von der Wichtigkeit des Umrührens des Suppenkessels. Dies entschied, ob man mehr oder weniger Wasser zu essen bekam (Lasker-Wallfisch: Wahrheit erben. S. 83).
Bernard beschreibt einige Begebenheiten, die sich im Zusammenhang mit Essen und Hunger zugetragen haben. Er tut dies recht nüchtern, da es wohl zum Alltag im Lager gehörte. So erzählt er von einer Hautcreme, die Couteline hieß, und sehr wirksam gegen alles Mögliche half:
Am Abend sah ich, wie jemand sich von der Schmiere aufs Brot strich.
„Es ist Fett drin“, sagte er. [...]
Bis Befehl vom Blockältesten kam: Es ist verboten, Couteline zu fressen! (Bernard: Pfarrerblock. 133-134)
Ein weiterer Vorfall wird von ihm ebenso nüchtern erzählt. Ein Kapo, der eben einen Korb voll Porree auf den Komposthaufen gebracht hat, pinkelt darauf, um die Häftlinge abzuhalten, davon zu essen. „Doch er hatte sich getäuscht. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß es Kameraden gab, die noch hungriger waren als ich...“ (Bernard: Pfarrerblock. 165), schreibt Bernard hierzu. Man erkennt in seinen Schilderungen die reine Beobachtung, gepaart mit Sarkasmus. Dadurch enthalten seine Beschreibungen weniger Bildhaftes. Er will sich auf Beobachtungen beschränken, obwohl ihm das nicht immer gelingt.
Seinen Beschreibungen bleiben Empörung und Wut fern. Er beschreibt es mit der alltäglichen Gelassenheit, die eben im Lager herrschte.
Alvin Rosenfeld schreibt hierzu:
Indignation is absent from this fiction for it implies distance or detachment, an attitude of moral separation. Shock, wonderment, revulsion, or compassion, likewise all absent, do the same. To keep these civilized responses alive would be to portray the savagery of the concentration camp as a thing apart [...].[15]
Obwohl er sich hier auf Fiktion bezieht, kann ich das auch auf diesen Text von Bernard ableiten. Bernard könnte in seinem Bericht noch einmal auf die unmenschlichen Zustände mit Empörung hinweisen, tut dies aber nicht. Vielleicht um eben diese Distanz zum Geschehenen, die Rosenfeld beschreibt, nicht entstehen zu lassen.
Anders tun dies Fred Wander und Primo Levi. Wander ist sogar bereit ein ganzes Kapitel in seiner Erzählung dem Brot zu widmen. In dem Kapitel mit dem Titel „Brot“ beschreibt er die Zeremonie der Essensausgabe und wie man sich darauf vorbereitet. Es hat wahrlich etwas Religiöses in seiner Beschreibung, so schreibt er von der „heiligen Prozedur des Verteilens“ oder von einem „Ritual“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 32-33). Er zählt die verschiedenen Methoden des Teilens und des Verzehrens auf, und man erkennt, dass nur jemand, der selbst einmal Hunger gelitten hat, sich mit solcher Hingabe in diese Beschreibungen hineinversetzen kann – Levi spricht hier vom „chronischen Hunger, den die freien Menschen nicht kennen.“ (Levi: Ist das ein Mensch? S. 40)
Brot ist Leben, daher ist Wanders folgende bildhafte, symbolträchtige Sprache auch nicht fehl am Platz: „Brot. Schmecke das Korn darin, den Regen, den Sturm. Laß den Geschmack der Sonne auf der Zunge zergehen.“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 33) Vor allem verwendet er hier Naturmetaphern, und da Natur mit Freiheit zu tun hat, kann man ein Stück Brot als ein Stück Freiheit ansehen.
Auch Levi legt viel Aufmerksamkeit in die Beschreibung des Brotes:
Brot-Broit-chleb-pane-pain-lechem-kenyér, dieser heilige, graue Würfel, der dir in der Hand deines Nächsten so riesig vorkommt und in deiner eigenen so klein, daß du weinen könntest. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 43)
Die Tatsache, dass er das Wort Brot in verschiedenen Sprachen des Lagers aufzählt, zeigt die absolute Wichtigkeit dieses Guts. Brot durchschreitet das Durcheinander der Sprachen im Lager, das Wort Brot kennt jeder. Der Hunger und das Verlangen nach Brot sind immer da: „Wenn nur der Hunger nicht wäre!... Aber wer könnte wähnen einmal keinen Hunger zu haben? Das Lager ist der Hunger. Wir selber sind der Hunger, der lebende Hunger.“ (Levi: Ist das ein Mensch? S. 87)
Das Bild des Hungers wird hier verstärkt: Die Masse der Häftlinge hat nicht nur Hunger, sie ist der Hunger; der Hunger bleibt nicht nur ein Gefühl, er wird zu einem Zustand.
Klüger gibt in ihrem Bericht eine Art Rechtfertigung dafür an, warum sie nicht über den Hunger schreiben will, indem sie sagt, „er ist immer da, und was immer da ist, wird langweilig im Erzählen.“ (Klüger: Weiter leben. S. 88) Im Erzählen vielleicht, jedoch nicht im Beschreiben, wie Levi und Wander zeigen. Dennoch schreibt Klüger über den Hunger. Sie beschreibt, wie sie den Weg zur Arbeit mit ständig auf den Boden gerichteten Augen geht, auf der Suche nach etwas Essbarem (Klüger: Weiter leben. S. 153).
Doch nicht nur Hunger wird als zentrales Problem thematisiert, sondern auch Durst und Kälte. So gibt Levi ein ziemlich überzeugendes Bild der Hölle, das deutlicher die Absurdität der Zustände bezeugt:
Dies ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muß die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum, und müde stehen wir darin, und ein tropfender Wasserhahn ist da, und man kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartet etwas gewiß Schreckliches, und es geschieht nichts und noch immer geschieht nichts. Wie soll man da Gedanken fassen? Man kann keine Gedanken mehr fassen; es ist, als seien wir bereits gestorben. Einige setzen sich auf den Fußboden. Tropfen um Tropfen verrinnt die Zeit. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 22)
Die nicht enden wollende Aufzählung, immer mit der Konjunktion „und“ aneinander gereiht, deutet dieses Tropfen des Wasserhahns bereits an. Es ist nicht nur ein Warten, es ist ein schreckliches Warten auf etwas, was „gewiss schrecklich“ ist. Hinzu kommt der Durst, dessen Qual noch verstärkt wird, durch den tropfenden Wasserhahn, an dem ein Schild „Wassertrinken verboten“ angebracht ist. Er entwirft hier ein sehr deutliches Bild der Hölle, die von Durst, Warten, Ungewissheit und Resignation geprägt ist. Seine Beschreibung hat in dem Sinn auch etwas von Lyrik, da die Form der Aneinanderreihung bereits auf etwas nicht enden wollendes schließen lässt.
Lion Feuchtwanger versucht sich ebenfalls an der Thematisierung des Durstes:
Erst quälte Gustav der Durst. Das Stroh stach und kratzte, der Gestank wurde immer schlimmer. Doch der Durst ließ ihn den Gestank vergessen, die schmerzhafte Müdigkeit ließ ihn Durst und Gestank vergessen. [...] Gustav lag auf der Seite, malmte leicht mit den Zähnen. Schlief ein. Schlief tief. Nicht Scheinwerfer, noch Lärm, noch Durst, noch Gestank störten ihn, bis ihn am frühen Morgen ein grelles Trompetensignal wachriß.[16]
Es ist in dieser Beschreibung auch ein Rhythmus zu erkennen, wie ein Übel immer vom nächsten Übel abgelöst wird, bis er endlich einschläft. Hier klingt es fast wie ein Schlaflied. Außerdem thematisiert er Probleme, die im Lager anzutreffen sind, beschränkt sich nicht nur auf den Durst. Levi, vom Durst ausgehend, kommt auf den tropfenden Wasserhahn zu sprechen und baut anhand von diesen beiden sein Bild der Hölle aus. Vielmehr versucht Feuchtwanger alle möglichen Leiden so kurz und präzise wie möglich in einen Abschnitt zu bekommen.
[...]
[1] Feuchert, Sascha (Hrsg.): Arbeitstexte für den Unterricht. Holocaust-Literatur Auschwitz. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2000. S. 23.
[2] Vgl. Bredel, Willi: Die Prüfung. Roman. [1934] Berlin: Aufbau Verlag, 1957. S. 6.
[3] Vgl. Dresden, Sam Holocaust und Literatur. Essay. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1997. S. 45.
[4] Dresden, Sam Holocaust und Literatur. Essay. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1997. S. 49.
[5] Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. [1958] 13. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004. S. 103.
[6] Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend. [1994] 9. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999. S. 72.
[7] Hillesum, Etty: Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. [1983] Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1985. S. 148.
[8] Weil, Grete: Ans Ende der Welt. Erzählung. [1949] Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1987. S. 13.
[9] Wander, Fred: Der siebente Brunnen. Erzählung. [1971] 4. Auflage. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1984. S. 17.
[10] Haag, Lina, Eine Hand voll Staub. Widerstand einer Frau 1933-1945. [1947] Tübingen: Silberburg Verlag, 2004. S. 20.
[11] Bernard, Jean: Pfarrerblock 25487. Dachau 1941-42. [1945] 4. Auflage. Luxemburg: Editions St. Paul, 2004. S. 76.
[12] Lasker-Wallfisch, Anita: Ihr sollt die Wahrheit erben: Breslau - Auschwitz - Bergen-Belsen. [1996] 4. Auflage, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002. S. 178.
[13] Seghers, Anna: Das siebte Kreuz. Roman. [1942] 21. Auflage. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2003. S. 23-24.
[14] Reiter, Andrea: „Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit.“ Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien: Löcker Verlag, 1995. S. 134.
[15] Rosenfeld, Alvin H.: A Double Dying. Reflections on Holocaust Literature. Bloomington and London: Indiana University Press, 1980. S. 72-73.
[16] Feuchtwanger, Lion: Die Gebrüder Oppermann. Roman. [1933] 2. Auflage. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2002. S. 357.
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- Stéphanie Pissinger (Autor), 2006, ' ...bis eines Tags es keinen Sinn mehr haben wird zu sagen: morgen." , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56868
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