Die vorliegende Arbeit versucht der Frage nach dem Wert und der Legitimation eines schulischen Unterrichts zum Thema Tod nachzugehen. Sie verfolgt dabei das Ziel, neuere Kinderliteratur als eine mögliche Erfahrungs- und Lernquelle auf ihre Herangehensweisen und ihren Umgang mit menschlichem Sterben zu untersuchen und auf denkbare Einsatzmöglichkeiten im Unterricht der Grundschule hin zu prüfen.
Die Ausführungen werden von einem theoretischen Teil eingeleitet, der sich dem Phänomen Tod im Lichte unserer heutigen postmodernen Gesellschaft widmet, entwicklungspsychologische Erkenntnisse zum Todesverständnis jüngerer Menschen erschließt sowie kindliche Trauer und deren positive Überwindung näher beleuchtet.
Im weiteren Verlauf sollen nach einem kurzen historischen Abriss zu jüngeren Entwicklungen in der realistischen Kinderliteratur zwei exemplarisch ausgewählte Bilderbücher zur Todesthematik hinsichtlich ihrer Verarbeitung dieses grundlegenden Elements jeglichen Lebens analysiert werden.
Ein die Arbeit abschließendes Kapitel beschäftigt sich mit der Planung einer Unterrichtseinheit für den Deutsch- und evangelischen Religionsunterricht der Grundschule auf der Grundlage der beiden untersuchten Kinderbücher, ohne jedoch dem Anspruch eines fertigen Unterrichtsentwurfs genügen zu wollen.
Der Anhang enthält Ausschnitte der vorgestellten literarischen Werke sowie Anregungen zur unterrichtlichen Umsetzung, auf welche jeweils im Text verwiesen wird.
INHALT
1 VORWORT
2 TOD UND TRAUER IN UNSERER GESELLSCHAFT
UND IM KINDLICHEN ERLEBEN
2.1 Tod und Sterben – ein Tabuthema in unserer Gesellschaft?
2.2 Wo und wie unseren Kindern der Tod begegnet
2.3 Die Entwicklung des Todeskonzeptes vom Säuglingsalter bis zur Pubertät
2.3.1 Erfahrungen im Säuglings- und Kleinkindalter
2.3.2 Das Vorschulkind
2.3.3 Das Grundschulkind bis 8/9 Jahre
2.3.4 Die Ruhe vor dem Sturm
2.3.5 Die Pubertät
2.4 Kindliche Trauer und Hilfen zu ihrer positiven Bewältigung
2.4.1 Zum Wesen der Trauer oder
Von der Ohnmacht zur persönlichen Bereicherung
2.4.2 Wie Kinder trauern
2.4.3 Hilfen zur Begleitung trauernder Kinder
2.4.4 Auseinandersetzung mit dem Tod
als Entwicklungshilfe im kindlichen Alltag
2.4.5 Die religiöse Dimension
3 STERBEN, TOD UND TRAUER
IN DER MODERNEN KINDERLITERATUR
3.1 (Kinder-)Literatur und ihre Möglichkeiten
hinsichtlich Begegnungen mit dem Tod
3.2 Neuere Entwicklungen in der realistischen Kinderliteratur oder
Vom problemorientierten zum komischen Kinderroman
3.3 „Leb wohl, lieber Dachs“ und „Hat Opa einen Anzug an?“ –
zwei Kinderbücher zum Thema Tod
3.3.1 Exkurs I: Das Tierbuch
3.3.2 Exkurs II: Das Bilderbuch
3.3.3 Das Bilderbuch „Leb wohl, lieber Dachs“ von Susan Varley
3.3.4 Das Kinderbuch „Hat Opa einen Anzug an?“
von Amelie Fried und Jacky Gleich
3.3.5 Vergleichende Betrachtungen
4 ZUM EINSATZ DER BEIDEN KINDERBÜCHER
IM UNTERRICHT DER GRUNDSCHULE
4.1 Allgemeine Zielstellungen der Fächer Deutsch und
Evangelische Religion im Lehrplan des Freistaates Sachsen
4.2 Der Tod – ein besonderes Thema im schulischen Unterricht
4.3 Lernziele einer Unterrichtseinheit zum Thema Tod
für die Fächer Deutsch und Evangelische Religion
4.4 Vorschläge zur unterrichtlichen Umsetzung
im Deutsch- und Religionsunterricht
4.4.1 Eine Ganzschrift im Unterricht
4.4.2 Zum Einstieg in die Thematik
4.4.3 Das Buch „Leb wohl, lieber Dachs“ im Unterricht
4.4.4 Das Buch „Hat Opa einen Anzug an?“ im Unterricht
4.4.5 Vorschläge für den Religionsunterricht
5 RÜCKBLICK UND AUSBLICK
6 LITERATURVERZEICHNIS
1 Vorwort
Die vorliegende Examensarbeit, welche im Rahmen des Studienganges Lehramt an Grundschulen an der Universität Leipzig entstanden ist, versucht der Frage nach dem Wert und der Legitimation eines schulischen Unterrichts zum Thema Tod nachzugehen. Sie verfolgt dabei das Ziel, neuere Kinderliteratur als eine mögliche Erfahrungs- und Lernquelle auf ihre Herangehensweisen und ihren Umgang mit menschlichem Sterben zu untersuchen und auf denkbare Einsatzmöglichkeiten im Unterricht der Grundschule hin zu prüfen.
Die Ausführungen werden von einem theoretischen Teil eingeleitet, der sich dem Phänomen Tod im Lichte unserer heutigen postmodernen Gesellschaft widmet, entwicklungspsychologische Erkenntnisse zum Todesverständnis jüngerer Menschen erschließt sowie kindliche Trauer und deren positive Überwindung näher beleuchtet.
Im weiteren Verlauf sollen nach einem kurzen historischen Abriss zu jüngeren Entwicklungen in der realistischen Kinderliteratur zwei exemplarisch ausgewählte Bilderbücher zur Todesthematik hinsichtlich ihrer Verarbeitung dieses grundlegenden Elements jeglichen Lebens analysiert werden.
Ein die Arbeit abschließendes Kapitel beschäftigt sich mit der Planung einer Unterrichtseinheit für den Deutsch- und evangelischen Religionsunterricht der Grundschule auf der Grundlage der beiden untersuchten Kinderbücher, ohne jedoch dem Anspruch eines fertigen Unterrichtsentwurfs genügen zu wollen.
Der Anhang enthält Ausschnitte der vorgestellten literarischen Werke sowie Anregungen zur unterrichtlichen Umsetzung, auf welche jeweils im Text verwiesen wird.
2 Tod und Trauer in unserer Gesellschaft und im kindlichen Erleben
2.1 Tod und Sterben – ein Tabuthema in unserer Gesellschaft?
Es ist in unserer Gesellschaft schwer geworden über den Tod und das Sterben zu sprechen, scheinen diese Themen doch nicht so recht zum modernen Zeitgeist und dem weitverbreiteten Glauben an unserere Allmacht zu passen. Unangenehme Gefühle und Assoziationen tauchen auf, sollte sich die Vorstellung vom Tod eines geliebten Menschen oder gar vom eigenen Lebensende doch einmal in unsere Gedankenwelt verirren. Viel lieber glauben wir Statistikern, die uns belegen, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verdoppelt hat.[1] Wir sind stolz auf die gewaltigen Fortschritte der Medizin, welche vielleicht bald ein Menschenalter über einhundert Lebensjahre nicht mehr als Sensation gelten lassen werden. Über der Menschheit lange Zeit unaufhörlich schwebende Bedrohungen wie Epidemien, Hungersnöte und Kriege scheinen heute in der westlichen Welt besiegt, und große Anstrengungen werden dem Kampf gegen todbringende Krankheiten gewidmet – wer könnte es uns übel nehmen, dass wir uns in einer gewissen Lebenszeit unsterblich fühlen? Akzeptiert wird der Tod wohl nur im Einklang mit statistischer Lebenserwartung, ein „frühzeitiges“ Sterben in jüngeren Jahren hingegen wird zumeist als Unrecht, Schicksalsschlag oder unerwartete Katastrophe empfunden. Ob in Fernsehserien, auf Werbeplakaten, in Ratgeber-Gesundheits-Heftchen oder in Kinofilmen – in unserer von visuellen Medien durchdrungenen Welt ist der junge, ewig schöne, dynamische Körper omnipräsent. Möglichst langjährige Erfahrungen sowie jugendliche Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit sind Kriterien, welche sich auf dem heutigen Arbeitsmarkt nicht selbstverständlich ausschließen.
Und doch: Tag für Tag wartet das Fernsehen mit unzähligen Toten und Gewaltopfern, Unglücks- und Katastrophenberichten auf. Schon Vorschulkinder begeben sich in die spannenden Welten von Video- und Computerspielen, in denen die Identifikationsfigur Leben auslöscht oder selber stirbt, jedoch nur für ein paar Sekunden. Reale, direkte Erfahrungen mit Tod und Sterben aber zählen heute nicht mehr zum alltäglichen Erfahrungsschatz. Die höhere Lebenserwartung beispielsweise hat zur Folge, dass eine Familie nur noch alle 10-15 Jahre mit dem Tod eines nahen Verwandten konfrontiert wird.[2] Vor allem bedingt durch den familiären Strukturwandel (Kleinfamilie, berufstätige Frauen) finden sich Tod und Sterben in unserer Zeit nicht mehr in den gesellschaftlichen und familiären Alltag integriert, sondern vollziehen sich fernab der Öffentlichkeit in dafür vorgesehenen Institutionen.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch war der Tod eines Verwandten ein von der gesamten Familie geteiltes Ereignis – zur Stunde des Todes kamen nicht nur Familienmitglieder, sondern auch Freunde, Nachbarn und entfernte Bekannte zusammen.[3] Begleitung und Verabschiedung vom Sterbenden, Trauerriten und Beerdigungsbräuche waren üblich und vereinten alle Betroffenen, auch die Jüngsten. Heute übernehmen professionelle Institute Aufgaben wie das Herrichten der Leiche, das Schreiben von Totenbriefen, das Aufgeben einer Todesanzeige oder die Bestellung eines nichtkirchlichen Predigers. Und nicht wenige Menschen atmen wohl innerlich auf, wenn ihnen die Berührung mit dem Tod bzw. dem Toten auf diese Weise erspart bleibt, sind doch Ängste, Unsicherheit, Hilflosigkeit und Ekel die Folgen ausbleibender diesbezüglicher Erfahrungen. Und das fehlende Bewusstsein, dass Tod und Sterben einen natürlichen Bestandteil jeglichen Lebens darstellen, der in einem weiteren Sinne nicht erst an dessen Ende steht, sondern vielmehr jede menschliche Entwicklung charakterisiert, zu welcher immer auch Veränderung, Hinter-sich-Lassen und Abschiednehmen gehört.[4]
2.2 Wo und wie unseren Kindern der Tod begegnet
Die eben beschriebene relative Ausblendung des Todes im täglichen Leben und Erleben in unserer westlichen Welt betrifft Jung und Alt gleichermaßen und hat ihre Folgen für den Aufbau eines adäquaten Weltverständnisses unserer Kinder, welches auch das Thema Tod und Sterben als natürlichen Bestandteil des Lebens beinhaltet. Eine Wertschätzung gegenüber Anderen und sich selbst bzw. dem Leben im Allgemeinen kann sich jedoch nur aus dem Bewusstsein für dessen Begrenztheit und Verletzlichkeit nähren.[5] Die Äußerung eines fünfjährigen Mädchens, nach welcher dieses es „blöd finde[t], dass Katzen immer sterben“[6] und es sich deshalb zu Weihnachten ein Hündchen wünscht, untermauert den Mangel bei zahlreichen heutigen Kindern an grundlegenden Erfahrungen mit dem kontrastreichen Spektrum des Lebens, das sich nicht in Nehmen, Stärke, Gesundheit, Jugend und Freude erschöpft, sondern auch aus Geben, Schwäche, Krankheit, Alter und Trauer besteht.
Fehlen solche Erfahrungen, leben Kinder in einer Scheinwelt, in der sie ihre Wünsche stets erfüllt sehen, jegliche Hürden sofort beräumbar sind sowie für jeden Wegfall ein Ersatz gefunden werden kann. Bricht dann aber doch einmal eine dunklere Seite des Lebens heran, gerät die nur scheinbar stabile Persönlichkeit leicht ins Wanken und verfügt über wenig angemessene Bewältigungsstrategien.
Die von den gewaltigen Leistungen der Medizin suggerierte Allmacht gegenüber Tod und Krankheit bekommen auch schon unsere Jüngsten zu spüren. So sind sich viele Kinder sicher, es gäbe gegen jedwede Gesundheitsbeeinträchtigung hochwirksame Medikamente.[7] Wenn der Vater aus Sorge um den Arbeitsplatz seiner Gesundwerdung zu Hause lediglich zwei Tage widmet oder sie selbst mit einem Vorrat an Medizin den Kindergarten besuchen, erleben Kinder wie unerwünscht Krankheiten für das Funktionieren unserer Gesellschaft sind.
Von den früher ganz selbstverständlich gemachten kindlichen Erfahrungen mit der älteren Generation ist in unserer Zeit viel verloren gegangen. Nicht wenige Großeltern leben weiter entfernt oder in Alters- und Pflegeheimen, welche meist auch die Aufgaben im Falle einer Pflegebedürftigkeit übernehmen. Vielen Kindern mangelt es somit am Wahrnehmen kontinuierlicher Altersprozesse, am Aufbau eines Verständnisses für die Sorgen, Probleme, aber auch Freuden älterer Menschen sowie an der Einsicht, dass der Tod nach langer, schwerer Krankheit auch als herbeigesehnte Erlösung gesehen werden kann.
„Nach Meinung von Experten haben Kinder bis zu ihrem 18. Lebensjahr schätzungsweise 18.000 Tode in Cartoons, Filmen, Büchern, Comics, Videos, Videospielen und im Fernsehen gesehen.“[8] Dieser überwältigenden Masse an indirekten Medienerfahrungen steht nur eine geringe Anzahl an realen Berührungen mit dem Tod wie etwa das Sterben von Familienangehörigen, Freunden oder nahen Bekannten gegenüber. Eine schwedische Forschungsgruppe fand heraus, dass 40% der 6-10-Jährigen aufgrund ihres Medienkonsums an den Tod durch Mord und Totschlag als Regelfall glauben.[9] Und umso mehr das Thema Tod und Sterben in der Familie, im Kindergarten und in der Schule unter in den Bereich des Tabus fällt, desto stärker muss sich das Kind seine Vorstellungen anhand der Informationen der öffentlichen Medien aufbauen. Hinzu kommt, dass der reversible „Tod“ vieler Zeichentrick- und Computerspielfiguren sowie der beschwichtigende Filmkommentar der Erwachsenen „Das ist doch nur gespielt!“ einem Verständnis der Endlichkeit des Lebens entgegenwirkt. Eine andauernde Berieselung mit dem Leid unzähliger Menschen auf dem ganzen Erdball kann außerdem zu Orientierungsproblemen, Ängsten und einer gewissen Gefühlsabstumpfung führen.
„Unser Opa ist gestorben. Ich weiß nicht, wie ich es Micha beibringen soll. Micha hängt doch so am Opa! Als der Opa vor vier Wochen ins Krankenhaus musste, haben wir erzählt, der Opa sei verreist. Aber jetzt müssen wir Micha doch die Wahrheit sagen, oder?“[10] Das hier angeführte Beispiel steht für viele ähnliche Situationen, in denen Eltern ihre Kinder nicht unnötig belasten und sie vor seelischem Leid schützen wollen. In Wirklichkeit aber erreichen sie damit das Gegenteil, verbauen sie dem Kinde doch die Chancen, eigene Gefühle, Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um einer Begegnung mit dem Tod gewappnet zu sein. Dabei sind elterliche Reaktionen wie „Dafür bist du noch zu klein!“ meist aus eigener Unsicherheit und Ängsten geboren. Kinder spüren die Hilflosigkeit der Erwachsenen, akzeptieren das über der Thematik lastende Tabu und ziehen sich mit ihren Fragen, Sorgen und Fantasien in sich zurück – ohne Verarbeitungsmöglichkeiten. Im weiteren Verlaufe dieser Arbeit soll auf diesen falschen Weg der Trauerarbeit noch näher eingegangen werden.
Und noch ein Gesichtspunkt: Da Sterbebegleitung und Verrichtungen am Toten heutzutage oftmals in den Händen professioneller Institutionen wie Pflegeheimen und Beerdigungsunternehmen liegen, sowie familiäre Trauerrituale der Vergangenheit angehören, gehen Kindern viele Gelegenheiten und die notwendige Zeit verloren, den Tod zu realisieren und mit den anderen Betroffenen den Schmerz zu bewältigen.
Dennoch, in etwas anderer Gestalt begegnet der Tod Kindern öfter als zunächst vielleicht angenommen: Sie bemerken eine überfahrene Katze am Straßenrand, wühlen im Herbst gern im dürren, braunen Laub, finden eine tote Maus im Wald oder beobachten das Verwelken des Geburtstagsblumenstraußes. Solcherlei Erlebnisse machen die Kinder mit grundlegenden Naturgesetzen vertraut, welchen sie mit vielen neugierigen Fragen begegnen. Gerade Entdeckungen von Naturerscheinungen sind es, über die Kinder Begegnungen mit der Wirklichkeit des Sterbens und des Todes erfahren. Und so gewinnt in ihnen die leise und zugleich beunruhigende Ahnung Gestalt, dass alles Leben zerbrechlich, verletzlich und sterblich ist. Möglicherweise haben sie auch Gelegenheit, einen kleinen Ausschnitt des großen Kreislaufes im elterlichen Garten mitzuerleben – in einem überschaubaren Zeitraum vollzieht sich auf dem Beet die Entwicklung von der Aussaat über das Wachstum und Fruchtbringen bis hin zum Sterben. Dem Kind wird so bewusst, „dass das Leben aus fließenden Übergängen besteht [und] nichts bleiben kann, wie es ist.“[11]
Ein Menschenleben steckt aber auch voller Situationen, in denen es Abschiede fordert, ja in denen man etwas Geliebtes hinter sich lassen muss. Ereignisse wie der Eintritt in den Kindergarten, ein Umzug in eine andere Stadt oder etwa ein neues Geschwisterchen, das fortan sein Recht auf die Liebe von Eltern und Großeltern einfordert, gehören zu solchen Übergängen, für die Kinder all ihre Kräfte und die Unterstützung ihrer Bezugspersonen benötigen. Und so ist es, als müsste man ein bisschen sterben, geht doch, tief in einem verwurzelt, etwas Altes und Liebgewonnenes zu Ende, um von Neuem und Unbekanntem abgelöst zu werden.[12] Häufig fühlen sich Kinder zwischen Freude und Neugier auf das Zukünftige und einem dumpfen Gefühl von Traurigkeit hin- und hergerissen.
Noch schwerwiegendere Verlusterfahrungen wie eine Trennung bzw. Scheidung der Eltern erschüttern nicht nur das kindliche Seelenleben, doch gerade die dieser Situation völlig ausgelieferten Jüngsten können eine solche Veränderung im Familiengefüge als tiefen, inneren Tod erleben.
Schließlich bleiben da noch die Begegnungen mit dem „echten“ Tod geliebter Bezugspersonen und Lebensgefährten wie Großeltern, Eltern, Geschwister, Freunde, nahe Bekannte bzw. Haustiere als schwerste Verluste, welchen hinsichtlich der kindlichen Trauerreaktionen, deren Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien sowie angemessenen Hilfen in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden soll.
2.3 Die Entwicklung des Todeskonzeptes vom Säuglingsalter bis zur Pubertät
Um die altersunterschiedlichen Reaktionen eines Kindes auf einen einschneidenden Verlust wie den Tod einer ihm nahestehenden Person besser nachvollziehen zu können, sollen an dieser Stelle einige entwicklungspsychologische Erkenntnisse zum Aufbau des Todeskonzeptes im Kindesalter bis hin zur Pubertät vorgestellt werden.
Die bewussten und unbewussten Bedeutungen der Begriffe „Leben“ und „Tod“ werden dem Menschen nicht genetisch mit auf den Weg gegeben, sondern entwickeln sich in einem langen Lernprozess, der entscheidend vom Verhalten der Erwachsenen und der jeweiligen Qualität real erlebter Begegnungen mit dem Tod bestimmt wird. So ist es nur allzu verständlich, dass die Vorstellungen zu Sterben, Tod oder etwa einem Danach auch bei Kindern gleichen Alters sehr unterschiedlich sein können. Dennoch haben sich in der Psychologie bestimmte Entwicklungsstufen herauskristallisiert, deren Verallgemeinerungen noch vertretbar erscheinen.
2.3.1 Erfahrungen im Säuglings- und Kleinkindalter
Lange Zeit gestand man Menschen im ersten Lebensjahrzehnt keine Furcht vor dem Tod zu, da man annahm, dass diese über noch keine abstrakten Konzepte zu Begriffen wie Endlichkeit, Sein und Nichtsein, Zukunft oder Ewigkeit verfügten. Freud konstatierte, dass Kinder die Auswirkungen des Todes nicht begreifen – ein Irrtum, der möglicherweise zustande kam, da der Wissenschaftler nie mit jüngeren Kindern arbeitete.[13] Schwierig bleibt die Erforschung kindlicher Todesvorstellungen auch heute noch für den Zeitraum, in dem die Probanden zu sprachlich differenzierten Aussagen noch nicht fähig sind. Das Erblicken des Tageslichts bei der Geburt und die sich dabei vollziehende Ent-Bindung von der Mutter wird wohl das erste große Abschiedserlebnis eines jeden Menschen sein. Nun kommt es darauf an, welche neuen Ver-Bindungen entstehen können, damit sich der neue Erdenbürger sicher in Geborgenheit wiegen und ein Urvertrauen aufbauen kann. Doch da ein immerwährender Körperkontakt zur Mutter nicht vorgesehen ist, macht bereits der Säugling Erfahrungen mit zeitweiliger Trennung. In einer Untersuchung stellten Spitz und Bowlby fest, dass schon Kinder ab dem sechsten Monat einen länger anhaltenden Mutterverlust (z.T. durch Tod verursacht) mit Unwohlsein, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen oder Verweigerung der Nahrungsaufnahme betrauern.[14] Aber auch eine Veränderung der gewohnten Atmosphäre, etwa verursacht durch die Trauer ihrer Bezugspersonen, wird für Säuglinge schnell spürbar. Sie beobachten die Mimik der Erwachsenen und reagieren sensibel auf eine Änderung des vertrauten emotionalen Klimas.
Zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat lernt das Kind, dass Menschen und Objekte auch dann noch weiter existent sind, wenn sie aus ihrem Blickfeld verschwunden bzw. nicht mehr hörbar sind (Objektpermanenz). Erlernt wird dies nicht zuletzt im „Guckguck-Spiel“, bei dem die Mutter ihr Gesicht bzw. einen Gegenstand hinter einem Kissen verbirgt und nach einer kurzen Weile wieder auftauchen lässt. Dabei ist es gerade das Erleben des Verlustes, der den Kindern Spaß macht, weil er mit der Hoffnung verbunden ist, dass alles wieder gut wird. Nach Unverzagt könnte bereits hier der Grundstein für die sich später entwickelnde Gewissheit gelegt werden, dass trotz des Todes oder eines unwiderruflichen Verlusts ein Mensch bzw. eine Sache in unseren Erinnerungen weiterexistieren kann.[15]
Im Alter von 12-18 Monaten erfährt das Kind einen Entwicklungsschub insbesondere bezüglich seiner sprachlichen Fähigkeiten, wobei sich damit auch sein Unterscheidungsvermögen zwischen belebt und unbelebt verschärft: „Objekte“, welche ihm eine Resonanz in Form von Bewegung oder Geräuschen zukommen lassen, werden als lebendig eingestuft. Hierzu zählen neben Menschen und Tieren auch Gegenstände, die beweglich und geräuschvoll sind.
2.3.2 Das Vorschulkind
Bis in sein sechstes Lebensjahr hinein erlebt sich das Kind als Mittelpunkt der Welt, da es noch nicht zwischen eigenen Vorstellungen und der es umgebenden Realität zu trennen vermag. Alle Lebewesen denken und fühlen dem Kinde gleich, ein Sich-Hineinversetzen in Andere ist ihm noch nicht möglich. Dieser von Piaget konstatierte Egozentrismus, der das Kind an seine Allmacht glauben lässt, ist wohl eine wichtige Ausrüstung der Natur, damit der kleine und schwache Mensch nicht allzu schnell vor dem sich ihm entgegenstellenden gewaltigen Anforderungsberg aufgibt.[16]
Als Animismus wird das Denken bezeichnet, nach welchem das Kind Gegenständen eine Seele beigibt und damit die gleichen menschlichen Eigenschaften zuordnet, die es von sich selbst kennt. So ist es verständlich wenn das Kind einen Stock oder ein Stück Stoff tröstet, da diese wegen einer Verletzung unter starken Schmerzen leiden. In diesem Zusammenhang sind auch sogenannte „Übergangsobjekte“[17] zu nennen, über die nahezu jedes Vorschulkind in einer mehr oder weniger langen Phase verfügt. Ein Kuscheltier, ein Kissenbezug oder ein Spielzeug übernimmt die Rolle des Trösters und Beistehers, wenn die Nähe und Wärme der Mutter bzw. der Bezugspersonen nicht verfügbar sind. Im Falle des Verlustes eines solches Begleiters kann das Kind in eine tiefe Trauer verfallen.
Ein weiteres Merkmal dieser Entwicklungsphase ist das magische Denken. Das Kind erlebt sich als Beeinflusser der Welt, da es mit seinen Gedanken auf die Wirklichkeit einwirken kann. Oft führt es eine gewünschte Wirkung auf sein Tun zurück, obwohl zwischen beidem tatsächlich kein Zusammenhang besteht (magische Kausalität). Hier liegen auch die häufig beobachteten Schuldgefühle von Kindern begründet, welche den Tod einer ihnen nahestehenden Person aufgrund eines einmaligen launenhaften Herbeiwünschens nun in ihrer Verantwortung sehen.
Die Irreversibilität (Endgültigkeit) und Inevitabilität (Unvermeidlichkeit) des Todes sind Kindern unter fünf Jahren noch nicht bewusst. Sie assoziieren vielmehr einen schlafähnlichen Zustand oder eine Reise, aus/von denen man wieder zurückkehren kann. Ein Lebewesen ist tot, wenn es sich nicht mehr bewegt, doch wie man sich morgens aus dem Bett erhebt ist auch der Tod nur vorübergehend. Im Spielen von Krankenhaus- oder Kriegsszenen vollziehen sie ihre Form des Todseins und ahmen oft Ausschnitte aus gesehenen Filmen nach.
Dass der Tod Menschen in allen Altersgruppen und Lebenslagen treffen kann, passt weiterhin nicht so recht in die Denkweise des Vorschulkindes. Als Todesursache werden das Alter und damit verbundenen Krankheiten sowie Gewaltverbrechen wie im Fernsehen akzeptiert. Einige Kinder hegen deshalb den Wunsch, nicht älter werden zu wollen, um das Sterben zu vermeiden. Die Universalität des Todes rückt jedoch unweigerlich an das Kind heran, falls in dessen Umfeld doch ein junger Erwachsener oder ein gleichaltriger Freund sterben sollte.
2.3.3 Das Grundschulkind bis 8/9 Jahre
Mit dem Eintritt in die Schule reift das Verständnis für die Endgültigkeit und Unabänderlichkeit des Todes. Erstklässler verfügen meist schon über die dafür notwendigen Voraussetzungen, insbesondere über einen ausgebildeten linearen Zeitbegriff (Trennung Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) und die Kenntnis des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs (kausales Denken). Sie brennen auf Neuentdeckungen, stellen unaufhörlich Fragen und machen auch vor dem Thema Tod und Sterben keinen Halt, gerade wenn ein solcher Fall in ihrem Umfeld auftreten sollte. Mit großem Vergnügen wird das Todsein im Spiel erprobt. Ihr Wissen und ihre Sorgen beziehen die Kinder jedoch weniger auf sich als vielmehr auf ihnen nahestehende Menschen und Tiere, da sie den eigenen Tod noch stark verleugnen. Als schwarzen Mann, Skelett, Totenkopf oder auch als Engel geben sie ihm eine Gestalt, was als Strategie ihrer Angstbewältigung interpretiert wird, erlaubt doch eine solche Personifizierung ein menschenähnliches Gegenüber, das zu eigenen Gunsten beeinflusst werden kann, ist man nur brav, geschickt oder schnell genug.
Um uns jedoch einmal mehr vor Augen zu halten, wie unterschiedlich, weil von ihren individuellen Lebenswegen und –umständen abhängig, die Vorstellungen von Grundschulkindern zum Tod sind, sollen im Folgenden einige Zitate von acht- und neunjährigen Kindern angeführt werden. Diese wurden im Rahmen des Religionsunterrichtes zu ihren Gedanken zum Tod befragt und fertigten zudem eine Zeichnung an. Der Autor kommentiert in seinem hier zu Grunde gelegten Artikel beides und stellt Vermutungen zur Entstehung der Konzepte an:[18]
- Martina, 9 Jahre: „Wenn ich auch mal sterbe, aber mein Herz stirbt dann nicht. Weil immer
im Herzen alles gut ist. Und im Himmel ist auch alles gut.“
Dazu malt sie eine Spirale, in der sich verschiedenen Figuren bewegen. Am Rand der Spirale sind Menschen mit Gehstöcken zu sehen. Ganz am Ende steht ein Sarg. Neben der Spiral-Linie verläuft noch eine weitere Linie, auf der kleine Herzen aufgefädelt sind. Diese endet jedoch auch am Sarg.
Martina benutzt zur Verdeutlichung des Lebens das Bild einer Spirale, als ob sie wüsste, dass man auf seinem Lebensweg immer wieder ähnliche Positionen streift, ohne dass diese sich ganz gleichen. Woher hat sie wohl die Vorstellung, dass im Herzen immer alles gut ist? Vielleicht lauschte sie einem Gespräch von Erwachsenen über den Tod, konnte die Äußerungen aber nicht gänzlich mit ihren eigenen Gedanken in Einklang bringen, denn warum sonst verläuft die „Herzlinie“ auch zum Tode hin?
- Ulli, 9 Jahre: „Wenn ich ins Grab falle, denke ich, dass ich in tausend Fetzen zerfalle.“
Der Junge zeichnete vier Knochen, die unverbunden in einem Grab liegen.
Hier haben wir es vermutlich mit einem hauptsächlich von Medienerfahrungen geprägtem Konzept zu tun. Es zeigt sich, dass Kinder diesen Alters Worte und Bilder „wörtlich“ nehmen.
- Katrin, 9 Jahre: „Ich stelle mir vor, dass ich, wenn ich im Grab bin, so lange drin bleibe,
bis die Welt von der Sonne verbrannt worden ist. Dann fängt die ganze
Welt wieder an. Wenn ich dann von meiner Mutter geboren werde,
tue ich immer wieder das Gleiche und das geht immer so weiter.“
Bei diesem Mädchen spielt der Gedanke der Wiedergeburt eine Rolle, jedoch ohne Zukunftsperspektive. Das neue Leben verlängert hier die Vergangenheit, es geht alles so weiter wie es bisher schon war.
- Claudia, 9 Jahre: „Ich möchte nicht sterben, weil der Tod nicht schön ist. Aber weil
alle Menschen sterben , stelle ich mir ein Paradies vor.“
Auf ihrem Bild ist ein Sarg zu sehen, umgeben von einer Sonne, weißen Wölkchen und schönen Spielsachen.
Das Mädchen scheint Angst vor dem Tod zu haben und tröstet sich mit einer heilen Paradiesvorstellung. Möglicherweise wurde sie von ihrem Umfeld im Unklaren über das Sterben gelassen und ihre Fragen wurden mit Floskeln wie „Im Himmel ist es schön“ abgetan.
2.3.4 Die Ruhe vor dem Sturm
Die Zeit zwischen neun und zwölf Jahren (bzw. dem Beginn der Pubertät) wird auch als „die goldenen Jahre der Kindheit“[19] bezeichnet. Ähnlich den sexuellen Regungen hüllt sich auch der emotionale Zustand der Kinder in relative Ruhe und Stabilität. Einer amerikanischen Studie zufolge reagierten Kinder diesen Alters auf Wörter mit Todesbezug weniger emotional als jüngere bzw. ältere, sich bereits in der Pubertät befindliche Probanden.[20] Es zeigte sich, dass in dieser Latenzzeit Verdrängungsstrategien greifen und die Bewusstheit des Todes ins Unterbewusste verlagert wird. Die Furcht vor dem Tod lässt nach.
2.3.5 Die Pubertät
Die Pubertät bedeutet einen gewaltigen Umbruch im körperlichen, seelischen und emotionalen Bereich des Heranwachsenden. Er distanziert sich von seiner Umwelt und wendet seinen Blick nach innen. Auch bezüglich des Todes muss er nun eine neue Identität finden, denn kindliche Verleugnungsmechanismen sind nicht mehr wirksam. Wachsende seelische Ressourcen werden ihm aber ermöglichen, sich der Unausweichlichkeit des Todes neu zu stellen und die Angst zu ertragen.
2.4 Kindliche Trauer und Hilfen zu ihrer positiven Bewältigung
2.4.1 Zum Wesen der Trauer oder Von der Ohnmacht zur persönlichen Bereicherung
„Wie ein Edelstein ohne Reibung nicht geschliffen wird,
kann ein Mensch ohne Prüfungen nicht vollkommen werden“
Chinesisches Sprichwort
Nach Bojanovsky versteht man unter Trauer alle „Reaktionen auf einen schmerzhaften Verlust einer Bindung, die deutliche, wenn auch meistens vorübergehende Störungen des biologischen, psychischen und sozialen Gleichgewichts des Menschen darstellen.“[21] Diese leiblich-seelische Antwort ist eine angeborene menschliche Reaktion auf alle Arten von Trennung und Abschied, nicht nur den Tod einer geliebten Person. Das Leben hält immer wieder solcherlei Veränderungen bereit, sei es das Verlassen einer Stadt, des Arbeitsplatzes, den Abschied von einem Freund, von bester Gesundheit, Hoffnungen, Illusionen oder das Loslassen der erwachsenen Kinder, welche das Haus verlassen. Gemein haben all diese Situationen, dass sich der Betroffene der Entgültigkeit des Verlustes bewusst ist. Immer sind es mehr oder weniger schmerzliche Erfahrungen, auf die jeder Mensch jedoch individuell unterschiedlich reagiert. Sie sind aber auch, und dies gelangt bei angemessener Trauerbewältigung meist im Nachhinein zu Bewusstsein, Impulse zur persönlichen Weiterentwicklung, die uns den Weg zu neuen Erfahrungen, neuen Welten und Ideen eröffnen.
Im Falle des Todes eines nahestehenden Menschen empfindet es der Trauernde als besonders schmerzhaft, dass die dem Verstorbenen entgegengebrachten Gefühle und Gefühlsbezeugungen nun ins Leere zielen und nicht mehr erwidert werden. Das Geben und Nehmen in einer menschlichen Beziehung ist unterbrochen, der Betroffene vermisst das Dasein der geliebten Person und all das, was man mit ihr erleben könnte bzw. konnte. Wie bereits erwähnt werden sich in jedem Menschen unterschiedliche Gefühlsszenarien abspielen. Diese sind zumeist sehr komplex und gehen weit über die allseits bekannte depressiv-melancholische Verstimmung hinaus. Weinen, Schreien, Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Anlehnungsbedürfnis, aber auch Wut, Empörung und Trotz stellen dabei nur einige mögliche Reaktionen dar. Einige können ihre Trauer unterdrücken und aus ihren Bewusstsein verbannen – sie wird jedoch solange im Verborgenen schwelen, bis sie angenommen und durchlebt wird. Denn nur die Bewältigung der Trauer kann zur Integration des schmerzlichen Verlusts in das Leben des Betroffenen und zu dessen Neuorientierung führen.
Um die Reaktionen eines Trauernden besser einordnen zu können sowie diesem eine angemessene Unterstützung entgegenkommen zu lassen erscheint es dienlich, sich die Ursachen für individuelle Unterschiede in der Bewältigung schwerer Trennungserfahrungen vor Augen zu halten. Entscheidend ist hierbei nämlich zunächst, wie schwer der Verlust für den Betroffenen wiegt. Sein Schmerz wird desto größer sein, je näher und bedeutungsvoller die Beziehung zum Verstorbenen war bzw. je mehr Liebe diesem entgegengebracht wurde. Auch die Folgen des Verlustes spielen eine Rolle: Droht dem Hinterblieben Vereinsamung und Isolierung oder kann er auf ein stabiles soziales Gefüge zählen? Gerät er nun in finanzielle Schwierigkeiten bzw. fällt eine wichtige Unterstützung weg oder kann er sein Leben ohne fremde Hilfe bestreiten? Darüber hinaus ist der Ansatzpunkt der Trauer gewichtig, kann der Betroffene sich doch entweder darauf konzentrieren, dass er allein zurückbleibt, oder aber bedauern, dass der Verstorbene nicht mehr da ist.
Die Verarbeitung eines schweren Verlustes ist weiterhin von einer Reihe von Faktoren abhängig, die beim Trauernden selbst, jedoch auch bei der verstorbenen Person liegen. Sie werden in der Trauerarbeit förderliche bzw. diese schädigende (Risikofaktoren) unterschieden.[22] An dieser Stelle werden einige einen positiven Trauerverlauf begünstigende Merkmale aufgelistet.[23]
Günstige Faktoren auf Seiten des Trauernden:
- Selbstvertrauen, positives Selbstbild, emotionale Stabilität, körperliche Fitness, soziale Kompetenz, geringe Depressivität und Ängste.
- Erfahrungen in der hilfreichen Bewältigung von Verlusten und Belastungen, gute Belastbarkeit, bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod.
- Gesunder Lebensstil (keine Abhängigkeiten).
- Vorhandensein seelischer Kraftquellen wie innige menschliche Beziehungen, Fähigkeit zu positiven Erfahrungen mit Menschen, Musik, Tieren bzw. in der Natur, religiöser Glaube.
- Vorhandensein äußerer Kraftquellen wie Familie, Freunde, Kollegen.
- Fehlen anderer Belastungen.
Förderliche Faktoren auf Seiten des Verstorbenen:
- Hinreichende Zeit für Sterbebegleitung, Abschiednehmen, auch vom toten Körper (plötzlicher und unerwarteter Tod ist ein Risikofaktor).
- Der Sterbende akzeptiert seinen Tod, tröstet die Angehörigen, gibt ihnen Zuversicht.
- Entspannte, befriedigende, unbeschwerte Beziehung zwischen Sterbendem und Angehörigen (Ungeklärtes, Spannungen, Versäumnisse, Schuldgefühle sind Risikofaktoren).
- Einsicht, dass der Tod für den Sterbenden Erlösung und Befreiung bedeutet (etwa nach langem (qualvollem) Leiden).
- Sanftes Sterben, geringe Schmerzen, Sterben zu Hause, hilfreich empfundene Beziehungen zu Ärzten und Pflegepersonal.
- Hilfreiches soziales Umfeld, unterstützende Angehörige.
- Erfülltes Leben, hohes Alter des Verstorbenen.
- Begräbnis nach Wünschen des Verstorbenen oder der Angehörigen.
Obwohl immer wieder Psychotherapeuten behaupten, die gesunde und richtige „Trauerform“ zu kennen, ist man sich in der heutigen Forschung weitestgehend einig, dass es keinen einzig richtigen Weg in der Art der Bewältigung gibt.[24] Für eine hilfreiche Unterstützung des Trauernden ist es vielmehr wichtig, dessen individuelle Gegebenheiten in den Blick zu nehmen.
In unserer leistungsorientierten Gesellschaft wird Trauer eher als Hindernis betrachtet. Ein oder zwei Tage ist man wohl für die Erledigung der Beerdigung und seines Gefühlslebens vom Arbeitsplatz abkömmlich, doch dann wird wieder volle Einsatzbereitschaft gefordert. Ein Mensch, der in der Öffentlichkeit Verhaltensweisen und Gefühlsregungen zeigt, welche über die eng gesteckten Spielregeln hinausgehen, gilt als befremdlich und unnormal. So haben wir das Trauern, eigentlich eine natürliche Fähigkeit, heute etwas verlernt. Noch vor 100 Jahren regelten Trauerbräuche die Zeit nach dem Tod einer nahestehenden Person und verstanden sich dabei nicht als starre Vorgabe, sondern sie steckten den Rahmen für größtmögliche Ausdrucksfreiheit fest, in welchem sich die Betroffenen nach ihrer Manier bewegen konnten. Die Hymnen der „Klageweiber“ beispielsweise sorgten für ein „kontinuierliches Fließen der Trauer“[25], auf das sich jeder so intensiv einlassen konnte wie er wollte. Uns mögen solche Trauerriten heute befremdlich erscheinen, da wir gewohnt sind, leise, tapfer und mit unerschütterlicher Mine über den Schmerz hinwegzutäuschen. Forschungen zeigen jedoch, dass die Einbettung in eine Trauergemeinschaft sich positiv auf den körperlichen und seelischen Zustand eines Menschen auswirkt und dieser in der Bewältigung des Verlustes Menschen, welche in einer trauerunfähigen Umgebung in ihrem Gefühlsleben gehemmt werden, einige Schritte voraus hat.[26] Wer sich mit all seinen Empfindungen fallen lassen kann und sich von seinem sozialen Umfeld angenommen fühlt, hat die besten Voraussetzungen, seinen Trennungsschmerz einmal zu überwinden und neue Lebensperspektiven aufzubauen.
Wie entscheidend beim Trauernden selbst die Annahme der eigenen Gefühle ist, vermag das Bild der Perle auf eindrucksvolle Weise zu verdeutlichen: Eine Muschel nämlich reagiert auf das Eindringen eines Sandkorns mit der Ausschüttung bestimmter Stoffe – Perlmutt – , die sich um den Fremdkörper legen. Durch die Bildung immer wieder neuer Perlmuttschichten und die sanften Bewegungen im Wasser entsteht im Laufe der Jahre eine schöne, runde Perle. Die ursprüngliche Bedrohung ist ein kostbarer Teil der Muschel geworden und hat ihren Wert unschätzbar vergrößert. Ereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen treffen wie das Sandkorn als Fremdkörper auf uns und bedrohen unsere Existenz. Nichts wünschen wir uns sehnlicher als uns davon zu befreien. Doch die Natur stattete uns mit Rüstzeug aus, denn sie gab uns unsere Trauergefühle, das „Perlmutt der Seele“[27]. Mit diesen können wir den Trauerschmerz einhüllen und ihn wie die Muschel durch stürmische (Gefühls-)Wogen hindurch zu etwas wachsen lassen, was uns bereichert und persönlich reifen lässt. Und so ist es wichtig, dass Trauer in unserer Gesellschaft wieder „fließen“ kann, damit sie nicht in unseren Tiefen vergraben bleibt.
2.4.2 Wie Kinder trauern
Im Wesentlichen ähnelt das kindliche Trauerverhalten dem der Erwachsenen. Auf die kleinen Unterschiede, welche sich aus dem spezifischen alterstypischen Denken (vgl. 2.3) ergeben, gilt es dennoch Acht zu geben, will man dem Kinde nicht Unrecht tun oder ihm gar seine Trauer absprechen. Da Kinder bis in die ersten Schuljahre hinein die Zeit noch nicht wie wir überblicken und sehr gegenwartsbezogen leben, stellt sich ihre Trauer oft weniger durchgängig und sprunghaft dar, ja häufig scheinen sie diese zu vergessen und geben sich vergnüglichen Dingen hin. Hatte die Familie eben noch gemeinsam über die traurige Beerdigung von Opa geredet, rennt die kleine Lina jetzt vergnügt durch die Wohnung und spielt mit ihrer Lieblingspuppe. Auch wenn uns gerade anders zumute ist sollten wir ein solches kindliches Verhalten nicht fälschlicherweise als Unverschämtheit werten oder dem Kind fehlenden Trauerschmerz unterstellen. Wiederum wird von Erwachsenen oftmals die tiefe Trauer eines Kindes über den Verlust seines Kuscheltieres oder Lieblingsspielzeuges als unverständlich abgetan. Solche für uns unerhebliche Dinge können für das Kind aber etwas Einmaliges und damit Unersetzliches bedeuten, dessen Wegfall einen großen seelischen Schmerz auslösen kann.
Ob zurückgezogen und bekümmert oder ausgelassen und fröhlich – ein Kind wird unterschiedliche und teilweise sogar sehr gegensätzliche Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen zeigen und auf seine individuelle Weise die Trauer durchleben. Während Erwachsene sich in ihren unterschiedlichen Lebensbereichen Trost und emotionale Unterstützung suchen können (bei Ehegatten, Freunden, Kollegen, bei der Arbeit oder in Hobbys), sind Kinder wesentlich mehr auf den verständnisvollen und liebevollen Beistand ihrer unmittelbaren Bezugspersonen angewiesen.[28] Sie erleiden nicht selten einen „doppelten Verlust“[29], wenn ihr nächstes soziales Umfeld aufgrund eigener Bewältigungsprozesse nicht in der Lage ist, ihnen eine emotionale Stütze zu sein. Da sich Kinder stark am Verhalten ihrer Bezugspersonen orientieren, sollten diese ihre Trauer offen äußern und in enger kommunikativer Verbindung mit ihren Schützlingen durch diese Zeit gehen.
Obwohl sich der Trauerprozess eines Kindes (bzw. eines Menschen) nicht in ein bestimmtes Schema pressen lässt, ist er dennoch einer Entwicklung unterworfen, da sich mit dem Fortschreiten der Trauer das Denken, Fühlen und Erleben ändert und neue Herausforderungen auf den Trauernden zukommen. In diesem Zusammenhang entwickelte der Psychologe James William Worden vier „Aufgaben des Trauerns“[30], mit deren Hilfe er versucht, allen Beteiligten des Trauerprozesses Handlungsmöglichkeiten für eine positive Bewältigung an die Hand zu geben. Denn neben den Kindern selbst, die ihren Schmerz aktiv verarbeiten müssen, spielt das soziale Umfeld (Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer, Erzieher) eine tragende Rolle im Hinblick auf die Gestaltung „heilungs- und entwicklungsfördernder Beziehung[en]“[31]. Eine nähere Betrachtung dieser Traueraufgaben nun soll den Entwicklungscharakter eines positiv verlaufenden Trauerprozesses verdeutlichen und das breite Spektrum an kindlichen Reaktionen auf einen schweren Verlust aufzeigen.
[...]
[1] Vgl. Freese, Umgang mit Tod und Sterben als pädagogische Herausforderung, 3.
[2] Vgl. a.a.O., 9.
[3] Vgl. Iskenius-Emmler, Psychologische Aspekte von Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen, 47.
[4] Vgl. Student, Im Himmel welken keine Blumen, 21.
[5] Vgl. Franz, Tabuthema Trauerarbeit, 44.
[6] Ebd.
[7] Vgl. a.a.O., 46.
[8] A.a.O., 48.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] A.a.O., 109.
[12] Vgl. a.a.O., 110.
[13] Vgl. Unverzagt, Erzähl mir was vom Sterben!, 69.
[14] Vgl. Franz, Tabuthema Trauerarbeit, 63.
[15] Vgl. Unverzagt, Erzähl mir was vom Sterben!, 70.
[16] Vgl. Franz, Tabuthema Trauerarbeit, 68.
[17] Vgl. a.a.O., 69.
[18] Vgl. Student, Im Himmel welken keine Blumen, 26ff.
[19] Unverzagt, Erzähl mir was vom Sterben, 74.
[20] Vgl. ebd.
[21] Iskenius-Emmler, Psychologische Aspekte von Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen, 10.
[22] Vgl. Student, Im Himmel welken keine Blumen, 122.
[23] Vgl. a.a.O., 122f.
[24] Vgl. a.a.O., 123.
[25] A.a.O., 186.
[26] Vgl. a.a.O., 186f.
[27] A.a.O., 184.
[28] Vgl. Iskenius-Emmler, Psychologische Aspekte von Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen, 132.
[29] Franz, Tabuthema Trauerarbeit, 86.
[30] A.a.O., 89.
[31] Ebd.
- Quote paper
- Anonymous,, 2006, Zum Thema Tod in der Kinderliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56663
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