Da die meisten Überlebenden des Holocaust heute, mehr als sechzig Jahre danach, bereits verstorben sind, treten nun diejenigen, die zur Zeit der Verfolgung noch Kinder waren, in den Mittelpunkt des literarischen und öffentlichen Interesses. Die damaligen Kinder haben in den letzten Jahren ihr jahrzehntelanges Schweigen gebrochen und beteiligen sich nun durch ihre eigenen Erinnerungen intensiv am aktuellen Holocaust- Diskurs.
Die vorliegende Arbeit widmet sich einer Auswahl dieser autobiographischen Texte, die alle von Autoren stammen, die als Kinder oder Jugendliche die Shoah überlebt und ihre Erfahrungen erst vor kurzem literarisch verarbeitet haben.
Da der Holocaust eine internationale Katastrophe war, die nach dem Krieg autobiographische Veröffentlichungen in vielen verschiedenen Sprachen nach sich zog, ist es bei einer Untersuchung dieser Texte nötig, über die deutschsprachige Literatur hinauszublicken. Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit nicht nur Texte untersucht, die in deutscher Sprache verfasst worden sind, wie Ruth Klügers weiter leben1 oder Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke2, sondern auch der holländische Text Kinderjahre von Jona Oberski3 sowie Cordelia Edvardsons Gebranntes Kind sucht das Feuer4, das auf Schwedisch veröffentlicht wurde.
Diese Texte stehen aufgrund ihrer Form als auch ihres Inhalts nicht nur in der Tradition der Zeugnisliteratur zum Holocaust, sondern ebenso in derjenigen der Autobiographien, insbesondere der Kindheitsautobiographien. Will man der besonderen literarischen Position der Texte gerecht werden, muss man sich daher zunächst den unterschiedlichen Genres im Einzelnen zuwenden, damit erst in einem zweiten Schritt die Kindheitsautobiographien zur Shoah anhand der gewonnenen Erkenntnisse näher analysiert werden können.
In dieser Arbeit soll vor allem den Fragen nachgegangen werden, inwieweit man die Kindheitsautobiographien überhaupt als Autobiographien bezeichnen kann, durch welche Kennzeichen sie sich von den allgemeinen Holocaust-Texten unterscheiden und was sie schließlich doch zu einem Bestandteil der Zeugnisliteratur macht. Dies kann nur gelingen, indem die Texte zwar einzeln untersucht werden, sie aber dennoch im Hinblick auf gemeinsame bzw. ganz individuelle Topoi oder stilistische Darstellungsweisen schon während der Textanalyse miteinander verglichen werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I. Literaturtheoretische Voraussetzungen
- 1. Das Genre der Zeugnisliteratur
- 1.1 Definition und Entwicklung
- 1.2 Die Zeugnisliteratur und ihre Merkmale
- 1.2.1 Die frühen Texte
- 1.2.2 Exkurs: Die Problematik einer Benennung der Judenvernichtung
- 1.2.3 Die ,postfaktische' Zeugnisliteratur
- 2. Die Autobiographie als literarisches Genre
- 2.1 Allgemeine Merkmale der Autobiographie
- 2.2 Der ,autobiographische Pakt' nach Philippe Lejeune
- 2.3 Die Autobiographie in der Zeugnisliteratur und ihre Probleme
- 2.4 Kindheitsautobiographien zur Shoah
- 3. Der Fall Wilkomirski
- 3.1 Vorbemerkungen
- 3.2 Perspektive des Kindes
- 3.3 Der autobiographische Pakt in Wilkomirskis ,Bruchstücke'
- 3.4 Verwendete Topoi der Holocaust-Literatur
- 3.4.1 ,Bruchstücke' der Erinnerung
- 3.4.2 Sprachlosigkeit
- 3.4.3 Traumatisierung
- 3.5 Konsequenzen für die Zeugnisliteratur
- 3.6 Abschließende Bemerkungen
- 1. Das Genre der Zeugnisliteratur
- II. Textanalyse ausgewählter Kindheitsautobiographien
- 1. Jona Oberski: Kinderjahre
- 1.1 Vorbemerkungen
- 1.2 Literarische Einordnung
- 1.3 Literarische Darstellung der Kinderperspektive
- 1.3.1 Erzählverfahren
- 1.3.2 Der ,Vergegenwärtigungseffekt' in Kindheitsautobiographien
- 1.3.3 Fehlende innere Rede
- 1.3.4 Körpererinnerungen
- 1.4 Funktion der Eltern
- 1.5 Traumatisierung und literarische Darstellung
- 1.5.1 Erste Sequenz: Verfolgungs- und Diskriminierungszeit
- 1.5.2 Zweite Sequenz: Direkte Verfolgung
- 1.5.3 Dritte Sequenz: Nachkriegszeit
- 1.6 Abschließende Bemerkungen
- 2. Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer
- 2.1 Vorbemerkungen
- 2.2 Literarische Einordnung
- 2.3 Stilistische Mittel
- 2.4 Wichtige Topoi in Edvardsons Gebranntes Kind sucht das Feuer
- 2.4.1 Die Bedeutung der deutschen Sprache
- 2.4.1.1 Die mythische Sprache
- 2.4.1.2 Ein Vergleich mit dem schwedischen Original
- 2.4.2 Rolle der Mutter
- 2.4.2.1 Der gescheiterte Dialog zwischen Mutter und Tochter
- 2.4.2.2 Der unterlassene Muttermord
- 2.4.3 Feministische Perspektive
- 2.4.4 Verhältnis zum Judentum
- 2.4.5 Traumatisierung
- 2.4.1 Die Bedeutung der deutschen Sprache
- 2.5 Abschließende Bemerkungen
- 3. Ruth Klüger: weiter leben
- 3.1 Vorbemerkungen
- 3.2 Literarische Einordnung
- 3.3 Erzählverfahren
- 3.3.1 Formaler Aufbau des Textes
- 3.3.2 Stilistische Mittel
- 3.3.2.1 Unterschiedliche Perspektiven
- 3.3.2.2 „Narrative Pausen"
- 3.4 Wichtige Topoi in Klügers weiter leben
- 3.4.1 Verhältnis zu Deutschland und der deutschen Sprache
- 3.4.2 Verhältnis zur Mutter
- 3.4.3 Kindheit
- 3.4.4 Verhältnis zum Judentum
- 3.4.5 Feministische Perspektive
- 3.4.6 Traumatisierung
- 3.5 Abschließende Bemerkungen
- 1. Jona Oberski: Kinderjahre
- 4. Schlussbetrachtung
- 5. Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Kindheitsautobiographien zur Shoah, die in den letzten Jahren vermehrt publiziert wurden. Die Arbeit analysiert ausgewählte Texte, um die Besonderheiten dieser literarischen Form im Kontext der Zeugnisliteratur und der modernen Autobiographik zu beleuchten.
- Die Entwicklung des Genres der Zeugnisliteratur
- Die Rolle der Autobiographie in der Zeugnisliteratur
- Die spezifischen Herausforderungen der Kindheitsautobiographie im Kontext des Holocaust
- Die literarische Darstellung von Traumatisierung
- Die Bedeutung von Geschlechterdifferenz und feministischen Perspektiven im Holocaust-Diskurs
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung führt in die Thematik der Kindheitsautobiographien zur Shoah ein und stellt die Relevanz des Themas im Kontext des aktuellen Holocaust-Diskurses dar. Die Arbeit widmet sich der Analyse von ausgewählten Texten, um die Besonderheiten dieser literarischen Form zu beleuchten.
- I. Literaturtheoretische Voraussetzungen: Dieser Teil der Arbeit widmet sich den literaturtheoretischen Grundlagen, die für die Analyse der Kindheitsautobiographien notwendig sind. Es werden die Definitionen und Merkmale der Zeugnisliteratur, der Autobiographie und der Kindheitsautobiographie beleuchtet. Der Fall Wilkomirski wird als Beispiel für die Problematik der Authentizität und Fiktionalität in der Zeugnisliteratur herangezogen.
- II. Textanalyse ausgewählter Kindheitsautobiographien: Dieser Teil der Arbeit analysiert drei ausgewählte Kindheitsautobiographien: Jona Oberskis Kinderjahre, Cordelia Edvardsons Gebranntes Kind sucht das Feuer und Ruth Klügers weiter leben. Die Analysen konzentrieren sich auf die literarische Darstellung der Kinderperspektive, die Funktion der Eltern, die Traumatisierung und die Verarbeitung der Erlebnisse sowie auf die literarischen Besonderheiten jedes Textes.
- 4. Schlussbetrachtung: Die Schlussbetrachtung fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammen und stellt die Besonderheiten des Genres der Kindheitsautobiographien zur Shoah heraus. Die Arbeit zeigt, dass sich diese Texte durch innovative Neuerungen und ein gezieltes Überschreiten der geltenden Normen definieren.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Kindheitsautobiographien, Shoah, Zeugnisliteratur, Traumatisierung, Holocaust-Diskurs, Geschlechterdifferenz, feministische Perspektive, Erinnerungskultur, Identität, Mutter-Tochter-Beziehung, deutsche Sprache, Judentum, Überlebensschuld.
- Citation du texte
- Jana Marquardt (Auteur), 2006, KINDER IM HOLOCAUST - Kindheitsautobiographien als Form der Zeugnisliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56171
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