Neorealismus ist keine spezifische Theorie, sondern ein facettenreiches Paradigma: Im Rahmen einer gemeinsamen Weltsicht und Auffassung über den Gegenstandsbereich des Faches Internationale Politik haben sich unterschiedliche neorealistische Theorien entwickelt, die unterschiedliche Analysebegriffe und -methoden verwenden. Oft wird Neorealismus sofort mit dem Ansatz von Waltz gleichgesetzt, was aber völlig falsch ist; denn weder der Theorie noch der Methode nach entspricht dieser unserem heutigen Wissensstand. Seinen theoretischen und methodologischen Fortschritt verdankt der Neorealismus heute anderen Beiträgen. Allerdings ist der Waltz′sche Neorealismus eine wichtige Reibungsfläche, auf die sowohl die anderen neorealistischen Theorien als auch Ansätze aus ganz anderen Paradigmen Bezug nehmen, um ihre Positionen abzustecken und zu verdeutlichen. Deshalb ist seine Kenntnis auch heute noch unverzichtbar.
Der Neorealismus von Waltz - oft bezeichnet als struktureller Realismus, weil er direkt von der Struktur des internationalen Systems auf das Verhalten der Staaten schließt - ist zum guten Teil aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem klassischen Realismus von Hans J. Morgenthau hervorgegangen. Diese Auseinandersetzung fand in erster Linie auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene statt (weiterführend: Waltz 1975, 1990). Der damals innovative Ansatz von Waltz, der in den 1970er-Jahren entstanden ist, lag in dem Versuch, eine in ihrer Einfachheit und Kompaktheit radikale Theorie der internationalen Politik zu entfalten, die mit einem Minimum an Variablen auskommt. Der absolut bestimmende Faktor für die Erklärung internationaler Politik - und internationale Politik bedeutet für Waltz die relative "Position" von Staaten zueinander und die Wahrung dieser Position - ist die Struktur des internationalen Systems. Diese Struktur definiert sich durch das "Ordnungsprinzip" Anarchie (dem Fehlen einer internationalen Instanz, die verbindlich Recht setzen und durchsetzen kann) und durch die Verteilung von Machtressourcen auf die Staaten. Waltz geht davon aus, dass die Struktur des internationalen Systems unmittelbar die immer wiederkehrenden Grundmuster und Folgen des Verhaltens der Staaten untereinander erklärt.[...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Hauptkomponenten des strukturellen Realismus von Kenneth N. Waltz
- Wissenschaftstheoretische Grundannahmen
- Struktureller Dreisatz von Waltz: "ordering principle", "qualities", "capabilities"
- Positionale "Sicherheit" als Motivationsfaktor und die Rolle des Machtgleichgewichts
- Ergänzungen nach dem Ende des Kalten Kriegs
- Interne Kritik und andere neorealistische Theorien
- Von strukturalistischen zu dynamischen Analysekonzepten
- Ökonomischer Realismus (Robert L. Gilpin)
- Neorealistische Kooperationstheorie (Joseph M. Grieco)
- Konfiguratorischer Realismus (Werner Link)
- Synoptischer Realismus und Konstellationsanalyse
- Der Neorealismus in der Debatte: Rezeption und externe Kritik
- Die Neorealismus-Globalismus-Debatte
- Die Neorealismus-Neoliberalismus-Debatte
- Die Rationalismus-Reflektivismus-Debatte
- Die Relevanz von Neorealismus
- Literaturverzeichnis
- Verwendete Literatur
- Zur Vertiefung besonders empfohlene Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieses Skript bietet eine umfassende Analyse des Neorealismus in der Theorie internationaler Politik. Es beleuchtet die Kernaussagen und die methodischen Grundlagen des strukturellen Realismus von Kenneth N. Waltz und setzt sie in Beziehung zu anderen neorealistischen Ansätzen. Darüber hinaus wird die Rezeption und externe Kritik des Neorealismus im Kontext der wichtigsten Fachdebatten diskutiert.
- Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Neorealismus und die methodischen Prinzipien des strukturellen Realismus
- Die zentralen Elemente des strukturellen Dreisatzes von Waltz: "ordering principle", "qualities", "capabilities"
- Die Rolle des Machtgleichgewichts und die Bedeutung von "Sicherheit" als Motivationsfaktor im Neorealismus
- Die Weiterentwicklung und Modifizierung des Neorealismus in Reaktion auf die Kritik und die Herausforderungen der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs
- Die wichtigsten neorealistischen Ansätze und ihre spezifischen Beiträge zur Theorie internationaler Politik
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt den Neorealismus als ein facettenreiches Paradigma dar und erläutert die Bedeutung des Ansatzes von Waltz als Ausgangspunkt für die Entwicklung anderer neorealistischer Theorien. Sie beleuchtet den historischen und wissenschaftlichen Kontext, in dem der strukturelle Realismus entstanden ist.
Das erste Kapitel behandelt die Hauptkomponenten des strukturellen Realismus von Kenneth N. Waltz. Es analysiert die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen, den strukturellen Dreisatz von Waltz und die Rolle des Machtgleichgewichts in der internationalen Politik. Darüber hinaus werden die Ergänzungen des Ansatzes nach dem Ende des Kalten Kriegs diskutiert.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der internen Kritik und den Weiterentwicklungen des Neorealismus. Es stellt verschiedene neorealistische Ansätze vor, die sich von Waltz' strukturellem Realismus abgrenzen und eigene Schwerpunkte setzen. Darunter fallen der ökonomische Realismus von Robert L. Gilpin, die neorealistische Kooperationstheorie von Joseph M. Grieco, der konfiguratorische Realismus von Werner Link und der synoptische Realismus.
Das dritte Kapitel widmet sich der Rezeption und externen Kritik des Neorealismus. Es analysiert die wichtigsten Fachdebatten, in denen sich der Neorealismus mit anderen Paradigmen der Internationalen Politik auseinandersetzt, wie der Neorealismus-Globalismus-Debatte, der Neorealismus-Neoliberalismus-Debatte und der Rationalismus-Reflektivismus-Debatte.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Neorealismus, struktureller Realismus, Kenneth N. Waltz, internationales System, Anarchie, Macht, Sicherheit, Machtgleichgewicht, Kooperation, Institutionen, Globalismus, Neoliberalismus, Rationalismus, Reflektivismus, Weltpolitik.
- Arbeit zitieren
- Alexander Siedschlag (Autor:in), 2002, Neorealismus in der Theorie internationaler Politik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5525
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