Obwohl der Wiener Expressionist und Aktivist Robert Müller (1887-1924) zu den bedeutendsten Autoren seiner Zeit zählt und die Aufmerksamkeit des Literaturhistorikers wie des literarischen Lesers verdient, ist er seltsamerweise heute kaum bekannt, seine Visionen fast vergessen.
Seine zahlreichen Essays sowie exotischen, utopistischen und zeitbezogenen Romane fanden unter Zeitgenossen wie Musil, Th. Mann, K. Kraus, Döblin und Flake weitreichende Beachtung. Zum einen zeichnen sie sich durch eine bemerkenswerte sprachliche Virtuosität aus – die erzähltechnischen Raffinessen, mit denen der Autor operiert, und die Passagenweise faszinierende Sprachgewalt waren nicht nur ihrer Zeit weit voraus, sondern entziehen sich literarischen Vergleichen weithin überhaupt. Zum anderen geben Müllers literarische Werke Aufschluss über eine Epoche, die, geprägt von Krieg und Krisen, Umbruch und Zweifel, viele Menschen in den im Zuge der Industrialisierung neu entstandenen grauen Großstädten in Depressionen stürzte und zahlreiche in den Selbstmord trieb. Auch Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften und in der Philosophie – man denke beispielsweise an Sigmund Freud oder Friedrich Nietzsche – trugen zur allgemeinen Verunsicherung bei, da sich mitunter die Frage stellte, ob man überhaupt noch irgend etwas mit Sicherheit feststellen könne.
Müllers Werke spiegeln die emotionale Zerrüttung, die Sinnkrise jener als "Expressionistisches Jahrzehnt" bekannten Zeit wider und versuchen gleichzeitig, philosophischen Fragen um das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zu der Welt, in der er lebt, auf den Grund zu gehen.
Sein bekanntester Roman „Tropen“, der zu den Hauptwerken des Expressionismus gezählt wird, lässt den tragischen Identitätsverlust erkennen, den viele Zeitgenossen empfanden, und vereint zugleich eindrucksvoll die beiden Hauptströmungen des literarischen Expressionismus: jene von Ich-Dissoziation, von der Entzweiung von Ich und Welt geprägten, die Selbstentfremdung des Individuums widerspiegelnde Strömung auf der einen Seite, und auf der anderen jene als „Messianischer Expressionismus“ bekannte Richtung, die prophetisch ein neues Zeitalter ankündigt, das sich aus der Asche des alten erheben wird – den Sturz ins Chaos und den Weg hinaus.
Inhaltsverzeichnis
I Vorwort
1. An der Oberfläche
2. Stil und Sprache
3. Authentizitätsansprüche – Fiktion und Wirklichkeit des Vorworts
II Rückschritte – Der Zerfall des Ich
1. Die Tropen als Tropus oder: Der Dschungel in uns
2. Ästhetik der Gewalt und der Wille zur Lust
3. Identitätsverlust – Ausgelöscht von der Landkarte
III Die Reise zum Neuen Menschen – Reisen, Rassen, Kulturkritik, die Pace und der neue Mensch
IV Das Wesen der Wirklichkeit
1. Paradoxa, Phantoplasma und die fünfte Dimension
2. Spiegelungen und Fiktionsebenen – Die doppelte Person und das doppelte Buch
3. Eine Detektivgeschichte – Der detektivische Leser und der schizoide Ich-Erzähler
V Zusammenfassung und Schlussgedanken
VI Literaturverzeichnis
Vorwort
Obwohl der Roman Tropen (1915)[1] „zu den erzählerischen Hauptwerken des expressionistischen Jahrzehnts gehört und von Musil gerühmt wurde“[2], ist bis heute nur wenig über ihn geschrieben worden. Ingrid Kreuzer spricht in ihrer Interpretation „Robert Müllers ‚Tropen’. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie“ vom „verschollenen Roman [...], der 1915 erschienen und vom 1. Weltkrieg überrollt worden war und den wohl nur wenige Zeitgenossen zur Kenntnis genommen hatten.“[3] Dabei verdient er, wie sich zeigen wird, unter verschiedenen Aspekten besondere Beachtung.
Der Autor des Werks, der Wiener Expressionist und Aktivist Robert Müller, der am 29. Oktober 1887 in Wien geboren wurde und nach einem gleichermaßen kurzen wie ereignisreichen Leben 1924 an den Folgen eines selbstzugefügten Lungenschusses verstarb[4], galt als „eine interessante Figur des literarischen Lebens in Wien zwischen 1912 und 1924, die sowohl als Essayist und Autor exotischer, utopistischer und zeitbezogener Romane als auch als Literaturmanager weitreichende Beachtung fand (u.a. bei Musil, Th. Mann, K. Kraus, Döblin, Flake).“[5]
Robert Müller, der von 1898 bis 1906 das Piaristengymnasium im 8. Bezirk besucht hatte, in der Abschlussklasse gescheitert war, die Maturitätsprüfung im folgenden Jahr am Gymnasium in der Gäblergasse abgelegt hatte, und der nach vier Semestern sein Studium der Fächer Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik (Wintersemester 1907/1908 bis Sommersemester 1909) an der Wiener Universität abgebrochen hatte, um erst einmal für zwei Jahre aus Wien (und von der Bildfläche) zu verschwinden[6], wird nach seiner Rückkehr Ende 1911 autodidaktischer Literaturtheoretiker und –kritiker, expressionistischer Autor, „Philosoph“[7], Verlagsgründer und politisch engagierter „Aktivist“.[8]
Sein Freitod im Jahr 1924 wird zum einen seinem finanziellen Ruin nach Scheitern seines letzten Verlagsprojektes, des „Atlantischen Verlages“, zugeschrieben.[9] Zum anderen mochte es die Erkenntnis sein, dass seine utopischen ideellen Bestrebungen ebenfalls zum Scheitern verurteilt waren, die ihn dazu trieb, aus dem Leben zu scheiden. Vielleicht wird diese Arbeit ein wenig Licht auf diese Fragen werfen, seinen Suizid vor dem Hintergrund seines Hauptwerks ‚Tropen’ als mehr ‚philosophisch’ motivierte Entscheidung erkennen lassen.
Ein anderes großes Geheimnis um Müller sind die beiden Jahre von 1909 bis 1911, die bis heute im Dunkeln liegen. Müllers eigenen Angaben zufolge, habe er während dieser Zeit in Amerika gelebt, als Reporter in New York gearbeitet, dann als Matrose auf einem Frachter, als Steward auf einem Passagierschiff Nord-, Mittel- und das nördliche Südamerika bereist und sich zwischendurch als Cowboy auf einer mexikanischen Ranch betätigt.[10] Dieser Bericht ist genauso wenig bestätigt wie Hinweise aus anderen Quellen, die besagen, er habe diese Zeit in einer Nervenheilanstalt verbracht. Wollte Müller, „der Zeitgenossen gerne das Bild eines ‚Hans Dampf in allen Gassen’ vermittelte, durch eine entsprechende Darstellung dieses Lebensabschnitts sich selbst zum Mythos stilisieren [...]?“[11] Auch diese Frage möchte ich im Rahmen der Analyse von ‚Tropen’ an späterer Stelle wieder aufgreifen.
Um ein adäquates Bild Müllers zu zeichnen, wären die Bereiche Expressionismus und Aktivismus sowie der Weg des Idealisten Müllers zwischen diesen beiden und vor dem Hintergrund jener von Krieg und Krisen zerrütteten Zeit genauer zu beleuchten, was im Rahmen dieses Vorworts jedoch nur in Umrissen geschehen kann. Expressionismus und Aktivismus werden in der Forschung zum Teil als „feindliche Brüder“[12] bezeichnet. Müller aber schreibt in seinem Essay „Die Geistrasse“ (1918), der „Aktivismus“ habe sich „für den Expressionismus geopfert.“[13]
Als sogenannter „Aktivist“ war Müller „Vertreter einer meist informellen Gruppe politisierender und politisch engagierter Intellektueller, die die Übernahme gesellschaftlicher und politischer Macht durch eine Elite propagierten und auch zu betreiben versuchten.“[14]
Neben zahlreichen anderen Unternehmungen gründete Müller 1918 die Geheimgesellschaft Katakombe, der auch Robert Musil zeitweilig angehörte.[15]
Wie bei Helmes nachzulesen ist, war Müller „im Urteil Kurt Hillers, des Herausgebers der Ziel-Jahrbücher und führenden Kopfes des reichsdeutschen Aktivismus, [...] der bedeutendste Vertreter des Aktivismus in Österreich und sein ,ungemein geschätzter österreichischer Zwilling’.“[16] Helmes weist im folgenden daraufhin, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen beiden gegeben habe, indem Hiller seine Elite als eine „Aristokratie des Geistes“ konzipierte, während Müller „rassistisch-biologisch argumentiert und definiert“[17]. In Kapitel IV dieser Arbeit, Die Reise zum neuen Menschen, wird sich allerdings zeigen, dass erstens diese Aussage relativiert werden muss, und zweitens die Rassenideologie Müllers nicht durchweg negativ beziehungsweise diskriminierend zu verstehen ist, wenngleich Müllers präfaschistisches Umfeld diese Auslegung nahe legt: Günter Helmes weist in Anlehnung an Jost Hermands „Germania germanicissima. Zum präfaschistischen Arierkult um 1900“ auf die fanatische Ausprägung der „ ‚gralshaft-imperialistische(n) Germanen-Mythologie’ im Wien vor 1914“ hin.[18]
Müller gehört, so Helmes weiter, „in eine ideologische Konstellation, die u.a. über eine Amalgierung der Denkansätze eines Nietzsche, eines Darwin, eines Gobineau, de Lagarde und eines H. St. Chamberlain zu einer rassistisch-nationalistischen, kriegerischen und imprialistischen Weltanschauung gelangt.“[19] Tatsächlich war Müller zunächst vom Krieg überzeugt, rief in der Zeitschrift Der Ruf sogar zum Krieg auf, bezeichnete diesen als die „Königsorganisation aller Organisationen“[20]. Er meldete sich auch freiwillig zum Einsatz an der Front, wurde am 5. September 1914 auf eigene Bitte hin gemustert aber wegen einiger deformierter Finger vorerst dem Ersatzbataillon zugeteilt. Aufgrund seines eigenen Bemühens kommt er kurz darauf doch in den aktiven Dienst, kommt 1915 als Pressegehilfe an den Kriegsschauplatz und nimmt im Juni an den Kämpfen teil.[21]
Im Herbst 1915 erleidet er aufgrund einer in unmittelbarer Nähe explodierenden Granate einen Nervenschock und wird in die Nervenabteilung des K.u.K.-Kriegsspitals III in Wien eingeliefert, wird danach zum Kriegspressequartier versetzt und übernimmt bis 1917 die Belgrader Nachrichten.[22]
Die Vorzeichen des 1. Weltkriegs
„schlagen sich in der expressionistischen Literatur ebenso nieder, wie sein Ausbruch und Verlauf zur Verschärfung der expressionistischen Zivilisationskritik beitrug. Er forderte auch unter den Künstlern seine Opfer. [...] unter den Toten befanden sich einige der stärksten dichterischen Begabungen des Expressionismus“[23],
unter anderem Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Ernst Stadler und Georg Trakl, August Stramm, Reinhard Johannes Sorge und Gustav Sack.[24]
Durch seine persönlichen Erfahrungen im Krieg beeinflusst, und auch „durch den Ausgang des Krieges selbst (Oktoberrevolution, Zerfall der K.u.K.-Monarchie und Niederlage Reichsdeutschlands, die s.g. Novemberrevolution etc.)“[25] wird Müller schließlich, wie zahlreiche andere den Krieg zunächst befürwortende Expressionisten, zum Pazifisten – „die erste Kriegsbegeisterung [...] schlug alsbald [...] angesichts der grauenvollen Fronterlebnisse und der frühzeitig erkennbaren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung [...] bei den meisten in ihr Gegenteil um“[26] –, nimmt „nach 1916 verstärkt Vorstellungen linker politischer Bewegungen und Gruppierungen in sein Denken auf [...] (und) ist damit einer jener für die Sozialgeschichte der expressionistischen Intelligenz und der 20er Jahre nicht unbedeutenden ,linken Leute von Rechts’ oder auch ,rechten Leute von Links’.[27]
Es fällt schwer, den so komplex und individuell denkenden Müller in eine bestimmte Gruppe einzuordnen, Helmut Kreuzer spricht von einer „paradoxen politischen Kombinatorik“, die „ebenso an Attitüden der literarischen Boheme wie manche Züge seines Lebensstils oder wie das immer wieder durchbrechende Bekenntnis zu einem utopisch-anarchischen Individualismus, der das Außenseitertum der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialen Norm einer freien Welt erhebt“[28], erinnert. In „Die Politiker des Geistes“(1917) schreibt Müller:
„Ich vertrete alle Outcasts; die Antipolitischen; die Verwegenen und Vogelfreien; [...] alle Wahnsinnigen und Verstoßenen, [...] die noch außerhalb der Bestimmungsrechte stehen. Wir wollen die Gesellschaft bis zur vollständigen Desorganisation organisieren, bis sie nur eine wilde Musik von Individualitäten geworden ist.“[29]
So sind es auch durchweg ideelle Absichten, die Müllers Tätigkeiten als Literaturmanager, Verlagsgründer und Journalist zugrunde liegen. Seit 1912 publiziert er unter dem Pseudonym Ole Bert, von 1912 bis 1914 ist er literarischer Leiter einer Studentenverbindung und er organisiert den letzten öffentlichen Auftritt von Karl May am 30. März 1912, „mit dem ihn die Vorliebe für die Freiheitsideale Amerikas, die Faszination an fremden Völkern ferner Kontinente und die Abenteuerlust, zumindest literarisch, verbindet“[30] – beide schrieben über Abenteuer in fernen Ländern, die sie tatsächlich zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht bereist hatten.
Müller veröffentlicht Texte im Brenner und im Flugblatt Der Ruf. Er schreibt für den Saturn und für die Schaubühne, verfasst politische Essays und ist Schriftleiter des 5. Hefts des Ruf. 1912 plant er mit Heinrich Nowak eine Zeitschrift (‚Das Zeitalter’), die aber nicht erscheint. 1914 erscheinen erste größere Arbeiten. Seine Zeitschrift Torpedo mit politischen und kulturellen Themen erscheint nur ein einziges Mal. (Sie enthält ein Pamphlet Müllers gegen Karl Kraus, dessen Hass auf die Presse „der Hass des verhinderten Journalisten“[31] sei. Laut Helmes ist das Pamphlet sachlich an vielen Stellen nicht haltbar aber „von sprachlicher Virtuosität“[32].)
Am 21. August 1919 gründen Robert Müller und sein Bruder Erwin, ein Wirtschaftsfachmann, die „Literatia“, im Wiener Handelsgericht angemeldet als eine „Literarische Vertriebs- und Propaganda-Gesellschaft m.b.H.“[33], die sich das Ziel setzt, ähnlich wie die Geheimgesellschaft Katakombe, ein breites Kulturprogramm zu schaffen und eine aktivistische Ideologie zu verbreiten. Der Verlag ist äußerst erfolgreich, erreicht schnell die Dimension eines Konzerns[34], und Robert Musil schreibt: „Es ist ganz über Wien hinaus für die Literatur das weitaus interessanteste Unternehmen.“[35] Indessen bleibt „die Umsetzung der ideellen Zielsetzungen Robert Müllers [...] aus.“[36] Mit Wirkung vom 10. August 1923 scheidet dieser, vermutlich aufgrund dieses Umstands, aus dem Unternehmen aus. Er gründet den „Atlantischen Verlag“, mit dem er jedoch finanziell scheitert, laut Flake, der ihm nach eigener Aussage auch die immense Summe (200 Millionen Kronen) zur Verlagsgründung verschaffte[37], wegen einer ruinösen Überdimensionierung und weil ihm bei der Titelzusammenstellung keine glückliche Hand beschieden gewesen sei.[38]
Abgesehen von Müllers Verdiensten im Rahmen seiner Verlagstätigkeit sowie seinen aufschlussreichen Essays sind schließlich von besonderer Bedeutung die fiktiven Texte, die der expressionistische Autor hinterließ. Zu nennen sind vor allem Tropen (1915), Flibustier (1921), Camera Obscura (1921), Irmelin Rose (1914), Das Inselmädchen (1919), Manhattan Girl (1920) und Der Barbar (1920). An dieser Stelle sei zunächst ein Blick auf den Begriff des Expressionismus geworfen.
Der Begriff ‚Expressionismus’ tauchte zunächst als Sammelbegriff zur Bezeichnung bestimmter Stilrichtungen innerhalb der Malerei auf, bereits 1850 in Amerika, 1901 in Frankreich und 1911 in Berlin, mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung[39]. Im Bereich der Literatur verwendete den Begriff im Juli des Jahres 1911 erstmalig Kurt Hiller[40] und gab damit einer Phase innerhalb der Literatur- und Kulturrevolution Anfang des 20. Jahrhunderts einen Namen: „Wir sind Expressionisten. Es kommt wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an.“[41] In das Bewusstsein der Autoren, die wir heute unter dem Begriff ‚Expressionismus’ zusammenfassen, gelangte dieser allerdings erst im Verlauf von Jahren, geschweige denn, dass unter ihnen Einigkeit über seine Bedeutung geherrscht hätte.[42] Jene Phase (etwa 1910 – 1920), die auch das ‚expressionistische Jahrzehnt’ genannt wird, zeichnet sich aus durch eine Betonung des Gefühlshaften und Irrationalen und stellt eine Gegenbewegung zum Naturalismus und den Stilrichtungen des Symbolismus dar. Der Expressionismus – „eine relativ kurzlebige ‚Ausdrucksart’, die alsbald vom ‚Aktivismus’ als einer ‚Gesinnung’ abgelöst wurde“[43] – war „Ausdruck einer ‚expressiven’ Aufbruchsstimmung“ und „Bezeichnung einer zwar losen und in der Mitgliederzahl fluktuierenden, aber doch an ein bestimmtes Programm gebundenen Autorengruppe“[44], eine Gruppe, die nach Kurt Pinthus nicht wie frühere literarische Gruppen (z.B. Sturm und Drang, Romantik, Junges Deutschland) aus einigen Dutzend Autoren bestand, sondern aus „Hunderten(n), die sich kannten, erkannten, anerkannten.“[45] und denen „eine relativ große Anzahl von Zeitschriften, Anthologien und Buchreihen zur Verfügung“[46] stand – die zahlreichen diesbezüglichen Bemühungen Robert Müllers wurden bereits erwähnt.
Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung einheitlicher Merkmale expressionistischer Literatur ergeben sich, wie Vietta zusammenfasst, aus
„eine(r) Vielzahl sich widersprechender theoretischer Ansichten und divergierender Stile. [...] Trotz dieser Disparatheit der Bewegung schälen sich zwei Grundtendenzen deutlich heraus: eine kultur- und zivilisationskritische und eine von messianischem Verkündungspathos getragene Richtung. Beide Tendenzen lassen sich vom Beginn der Epoche an nachweisen und durchziehen, in einer in ihrem Wechselbezug noch genau zu bestimmenden Form, das ganze expressionistische Jahrzehnt.“[47]
Die beiden Grundtendenzen, von denen hier die Rede ist, die kultur- und zivilisationskritische, von Identitätsproblemen und Ich-Dissoziation geprägte Seite und ihr Gegenstück, der zum Aufbruch in eine neue Welt aufrufende sogenannte messianische Expressionismus sind beide auch in Robert Müllers Tropen nachweisbar; so wie sie das expressionistische Jahrzehnt durchziehen, durchziehen sie auch jenen Roman, der zum Spiegel der zerrissenen, suchenden Seele wird. Dies zu zeigen ist unter anderem Anliegen dieser Arbeit. Darüber hinaus sollen vor allem die besonderen Leistungen hinsichtlich der Erzählstruktur eines Romans thematisiert werden, der „seine Gedankengänge hinter Bildern verbirgt, und welche(r) dann die Form dieses Denkens selbst wieder zum Thema macht, sodass eine Geschichte entsteht, die man fast emblematisch nennen könnte“[48], sowie die interessanten, scheinbar an Wahnsinn grenzenden, philosophischen Überlegungen eines expressionistischen Autors.
Wie zu Beginn bereits angedeutet, verdient der „eines der Hauptwerke des expressionistischen Jahrzehnts“[49] darstellende Roman ‚Tropen’ besondere Aufmerksamkeit, und zwar, noch einmal mit den Worten Ingrid Kreuzers,
„die Aufmerksamkeit des Literaturhistorikers wie des literarischen Lesers unter verschiedenen Aspekten. Einmal – vom Thema her – als ein eminentes Beispiel exotischer Reiseliteratur und zugleich als theoretisierend-reflektierendes Werk über den Exotismus und seine anthropologischen, kulturhistorischen und zivilisationskritisch utopischen Implikationen aus dem Blickwinkel eines expressionistischen Autors. Zum anderen als dessen erweiterte Selbstdarstellung [...] durch ein verbreitertes Erkenntnisspektrum in allen Stadien des ‚aufgerissenen’ Bewusstseins zwischen Vision, Erlebnis und Traum. Zum dritten operiert der Autor mit ironischen und strukturalen Tricks experimentiert mit Zeit-Dimensionen und potenzierten Fiktionsebenen, erzähltechnischen Raffinessen, die zum Teil ihrer Zeit voraus sind [...]. Nicht zuletzt bietet der Roman ein ästhetisch relevantes Leseerlebnis durch eine passagenweise faszinierende Sprachgewalt, komprimiert und exzessiv zugleich, wie sie in der gleichzeitigen Prosa so nicht auftritt, ja, sich literarischen Vergleichen überhaupt weithin entzieht.“[50]
1. An der Oberfläche
An der Oberfläche präsentiert sich der Roman ‚Tropen’ als Abenteuerroman, etwa im Karl-May-Stil[51], und zwar zunächst „in der vertrauten Form der Rahmenerzählung [...], die auf nichts Ungewöhnliches hindeutet.“[52]
Der Roman beginnt mit einem Vorwort, in dem ein Verleger namens Robert Müller als Ich-Erzähler auftritt und schildert, wie er vor einiger Zeit als Lektor der Zeitschrift „Three Worlds“ ein Manuskript erhalten habe von einem unscheinbaren jungen Mann, einem Ingenieur namens Hans Brandlberger, der ihm dieses persönlich übergeben hatte. Das Manuskript war damals abgelehnt worden, da es als für die Zwecke des Verlags unbrauchbar eingestuft wurde. Der Ich-Erzähler Robert Müller erinnert sich an diese Begebenheit und an das Manuskript Brandlbergers, als er einen Zeitungsbericht liest, in dem von einem Ingenieur namens Brandlberger berichtet wird, welcher auf einer Expedition nach Südamerika mit dem Ziel der Errichtung einer sogenannten Freelandkolonie in einem Indianeraufstand ums Leben kommt. Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Brandlberger die Pläne zu diesem Projekt, bei dem es um die Erschließung von Urwald und der Verwaltung des kultivierten Gebietes auf kommunistischer Grundlage ging, selbst entworfen und war mit einer Gruppe von sieben Nordamerikanern und drei Deutschen zur „Grenze zwischen Brasilien und Venezuela (ins) [...] Quellgebiet des Rio Taquado“ (S. 7) aufgebrochen. In eben diesem Gebiet ereignet sich „im Jahre 1907“ (S. 7) ein von der Priesterin Zoana angeführter Indianeraufstand und tötet sämtliche Mitglieder der Expedition.
Anlässlich dieser Ereignisse studiert der Ich-Erzähler Robert Müller das Manuskript Brandlbergers erneut und beschließt, es als Buch zu veröffentlichen. Als Verleger dieses Buches – er betitelt es: „Tropen – Der Mythos der Reise – Urkunden eines deutschen Ingenieurs“ – schreibt er das besagte Vorwort, in welchem er ein Charakterbild Brandlbergers entwirft sowie geschichtliche Hintergründe der Ereignisse erläutert. Darauf folgt der Binnenroman Brandlbergers, der als Reisebericht beginnt, dann aber zur philosophischen Abhandlung gerät und überdies eine verwirrende Kriminalgeschichte enthält, in welcher sich der Leser selbst als Detektiv betätigen soll. Der aufgrund des Vorworts „detektivisch programmierte Leser“ ertrinkt jedoch zunächst „im Dschungel eines expressiven Sprachdickichts und Reflexionsrausches, der jeden konkreten Handlungsfaden überwuchert.“[53]
Der Binnenroman beginnt mit einer technischen Mission für die Vereinigten Staaten, die den Ich-Erzähler Brandlberger nach Curacao verschlägt – über die genaue Zeit macht er bewusst keine Angaben: „Das Jahr 19 ... fand mich in Curacao, [...].“ (S. 17) Er lernt dort den Holländer Van den Dusen kennen, „ursprünglich Offizier der Kolonialtruppe auf Java, dann Kaufmann von Beruf, mit jener gar nicht unmodernen Beimischung von Lanzknechttum, das in fremdem Dienste seine Energie und Erfindungsgabe an die verwegensten Aufgaben wagt“ (S. 17 f.). Durch ihn lernt Brandlberger Jack Slim kennen, einen Abenteurer mit finsterem Blick, „eine pittoreske Erscheinung [...], entweder ein Spitzbube oder ein lebenstüchtiger, durchaus eindeutiger Mann, der wusste, was er wollte, und in aller Preisgabe seiner selbst noch ein einsamer Tuer blieb.“ (S. 19)
Die Figur Jack Slim, obwohl in Tropen zuletzt Mordopfer, begegnet, nebenbei bemerkt, später wieder in Müllers Erzählung Camera Obscura (1921). Es handelt sich dabei nicht um die gleiche fiktive Person, sondern vielmehr um einen Typus, einen aktiven, auf die Zukunft gerichteten, voller neuer Theorien und Ideen steckenden und gleichzeitig körperlich großen, kräftigen und mit überlegenen Instinkten ausgestatteten Menschen. Zeitgenossen wie Musil sahen, wie Wolfgang Reif bemerkt, in Jack Slim mitunter ein Selbstporträt Robert Müllers:
„Sehen wir von Ähnlichkeiten mit Zeitgenossen wie etwa Houston Steward Chamberlain und von Mythisierungen ab, die die Gestalt vergrößern und ins Exotische verfremden, so mag die Annahme richtig sein, dass es sich hier um ein Selbstporträt Robert Müllers handelt. Musil fühlt sich jedenfalls durch Slim, dessen Anblick nach Müller ‚einen sachlichen, lebhaften und waghalsigen Blutmenschen enthüllte’, stark an die Erscheinung seines Freundes erinnert.“[54]
Jack Slim behauptet, das Versteck eines Schatzes zu kennen, Gold von unschätzbarem Wert, das seit unbestimmter Zeit im Dschungel in einer Grotte liege – ein geläufiges Motiv des Abenteuerromans. Das Problem bestehe darin, einen bestimmten Eingeborenenstamm ausfindig zu machen, dessen Medizinmänner das Geheimnis um das Versteck des Schatzes hüteten. Zweimal habe Slim bereits vergeblich versucht, die geheimnisvolle Grotte zu finden. Slim kann den zunächst zweifelnden Brandlberger schließlich überzeugen; Brandlberger berichtet von dessen Pathos, der ihn fortreißt (vgl. S. 20), und einen Monat später sind Hans Brandlberger, Jack Slim und Van den Dusen zusammen mit vier Eingeborenen unterwegs durch den Dschungel. In zwei Booten lassen sich die drei Schatzsucher von den Indianern den Rio Taquado hinunter rudern.
Als es „unheimlich stille“ wird – „der Urwald schlug über uns zusammen und die Welt der Maschinen und der Konversation da hinten blieb ein Traum unserer hartnäckig arbeitenden Phantasie“ (S. 21) – und der Dschungel sie mit seiner feuchten Hitze, seinen „morastigen Untiefen“ und „wurmartigen Ästen“ (S. 22), seinen Insekten und Schlangen bedrohlich und zugleich monoton umgibt, fällt Brandlberger in eine Art Lethargie. Er gerät ins Grübeln und Philosophieren, erste ‚Einsichten’ in die Beschaffenheit des Lebens formen sich, die später die Handlung wesentlich beeinflussen sollen.
Nach dieser mehrere Tage dauernden Bootsfahrt, die ebenso reich an inneren Monologen Brandlbergers wie arm an äußeren Ereignissen ist, erreichen sie die Stelle, von der aus sie zu Fuß weiter müssen. Ein Marsch durch den Dschungel beginnt, der die gelangweilten Lebensgeister weckt. Der Tatendrang der Männer wächst, während ihre Macheten den Weg durch den Urwald frei schlagen. (vgl. S. 58f.) Nach vier Tagen erblicken sie erstmals seit Beginn ihrer Reise ein „Menschenweib“ (S. 63); es handelt sich um Zana, die Priesterin des gesuchten Eingeborenendorfes. Die Männer verbringen eine längere Zeit in dem Dorf und lernen das ursprüngliche, unverfälschte Leben der Indianer kennen, in das sie sich nicht ganz integrieren können. Sie werden Zeuge eines sportlichen Wettbewerbs sowie eines daran anschließenden wilden Tanzes der Eingeborenen, beteiligen sich an einer Pumajagd und sind Gast während einer eindrucksvollen tänzerischen Darbietung der Priesterin Zana. Aufgrund der Unterschiede zwischen den beiden Kulturen kommt es im Laufe der Zeit jedoch zunehmend zu Spannungen. Dazu trägt sowohl Brandlbergers europäisch-imperialistisches Denken als auch das Interesse Slims an der Priesterin Zana bei, die er zu entführen beabsichtigt. Da auch Brandlberger und Van den Dusen ein Interesse an Zana entwickeln, entsteht auch zwischen den drei Weißen ein gespanntes Verhältnis. Neben diesen Ereignissen stehen zahlreiche Reflexionen Brandlbergers über unterschiedlichste Themen im Mittelpunkt der Erzählung, insbesondere Überlegungen zur Beschaffenheit der menschlichen ‚Wirklichkeit’ innerhalb der Welt. Es stellt sich heraus, dass Slim ein gleichfalls stark reflektierender, philosophischer Mensch ist wie Brandlberger, so dass sich lange Diskussionen zwischen den beiden entspinnen.
Eines Nachts, nach dem Genuss von zu viel ‚Mandioka’, kommt es zu verwirrenden Ereignissen von Sex und Gewalt zwischen Weißen und Indianern außerhalb des Dorfes, infolge derer die drei Weißen mit ihren vier Ruderern und Zana im Schlepptau frühmorgens die Flucht aus dem Dorf ergreifen (vgl. S. 250). Sie finden die Leiche der Indianerfrau Rulc als Folge der nächtlichen Ereignisse, was ihnen, wie auch dem Leser, ein Rätsel aufgibt.
Schließlich erreichen sie das „praktische Ziel“ ihrer Reise, die unter einem Wasserfall verborgene Grotte, in welcher sich der Schatz befinden soll (S. 273). Aber es gibt keinen Schatz, und die drei Weißen verfallen desillusioniert in Lethargie. Der „Niedergang“ (S. 279) beginnt. Eine große Langeweile macht sich breit, die Brandlberger als Krankheit, als eine Art Vergiftung beschreibt. Langeweile, Hunger und Willenlosigkeit bringen eine Neigung zur Grausamkeit hervor, die in der Ermordung Jack Slims, Van den Dusens und des jungen Indianers Cecho gipfelt. Die verschwommenen Ausführungen Brandlbergers, der sich während dieser Zeit im Fieberwahn befindet, machen eine Entschlüsselung der Ereignisse für den Leser, wie sich zeigen wird, schwierig, wenn nicht unmöglich.
Zuletzt nimmt Brandlberger Zana mit in die Zivilisation, beschäftigt sich, wie der Verleger Müller im Vorwort berichtet, mit der Planung von Freelandkolonien, bis er 1907 im selben Gebiet, in dem die von ihm berichteten Ereignisse spielen, den Tod findet – bezeichnenderweise, wie gesagt, durch jenen Indianeraufstand, der von der Priesterin namens Zoana – ähnlich klingend wie Zana – angeführt wird. An der Oberfläche ein Abenteuerroman lässt die Erzählung doch merkwürdig viele Fragen offen, und je weiter der Leser in dessen ‚Wirklichkeit’ einzudringen versucht, desto tiefer gerät er in die verwirrende Struktur eines scheinbar unauflösbaren Knotens, den dieses komplexe expressionistische Werk darzustellen scheint.
2. Stil und Sprache
Robert Müllers Roman ‚Tropen’ ist ein sprachliches Meisterwerk; Döblin lobte den „Explosionsstil“:
„Auf einer Seite passiert so viel, wie früher in ganzen Büchern. Es besteht eine unglaubliche Fähigkeit Dinge zu bezeichnen, [...]; Robert Müller [...] ist ein blendender Sager. [...], was hier gekonnt wird: große sprachliche Eroberungen und Siege.“[55]
Laut Ingrid Kreuzer stellt das Werk „unter erzähltheoretischem und erzählmethodischem Gesichtspunkt [...] eines der kompliziertesten Gebilde der ‚Moderne’ dar [...].“[56] Müllers Stil erstrecke sich „vom hohen Kunststil des Expressionismus bis zum Trivialstil des Abenteuerromans.“[57] Letzterer sei an Karl May angelehnt, „von Slims deutsch-englischem Mischstil in den Dialogen bis zum Blick auf die ‚gehobbelten Knöchel’ Zanas [...]; er dient [...] zur Darstellung konkreter Handlungselemente.“[58]
Um den Roman zu entschlüsseln, ist ein genauer Blick auf die Romanstruktur notwendig, denn Inhalt und Struktur bilden, wechselseitig voneinander abhängig, eine komplexe Einheit. Dass die Struktur des Romans Aufschluss darüber gibt, wie der Inhalt zu deuten ist, kann im weiteren Rahmen bereits als Merkmal expressionistischer Literatur gesehen werden, deshalb sei an dieser Stelle zunächst ein Blick auf die stilistischen und sprachlichen Aspekte geworfen, die ‚Tropen’ als expressionistischen Roman kennzeichnen.
Typisch für expressionistisches Schreiben sind Wortneuschöpfungen, wie beispielsweise. „erfahrtet“ (S. 56), ein Wort, das – im Zusammenhang mit an späterer Stelle zu erläuternden charakteristischen Empfindungen der Zeit – ein Gefühl von passivem Ausgeliefertsein an die äußere Welt bei gleichzeitigem Wunsch nach aktiver Kontrolle zum Ausdruck bringt. Das eigentlich passivische Wort erhält hier einen aktivischen Charakter; es lässt sich so deuten, dass nicht nur eine bewusste Erfahrung gemacht wird, sondern dass das Bewusstsein diese Erfahrung erst herbeiführt, also die Wirklichkeit beeinflusst oder erst erschafft. Es drückt insofern auch Erhabenheit des Geistes über die äußere Welt und ihre Realität aus, ein Thema, das für Tropen, wie sich noch zeigen wird, von größter Relevanz ist.
Ein anderer Aspekt ist der Ausdruck von Empfindungen mittels des Sprachstils. Beispielsweise sind Zeiten der Langeweile durch einen schweren, schleppenden Sprachstil gekennzeichnet:
„Die Breite des Wassers, das saumselig gegen unseren stromaufwärts gekehrten Kiel spülte, war nirgends bestimmt festzustellen. Lagunen fielen ins Land und fingen im braunglasigen Spiegel die träge dampfende Ruhe eines schweigenden Urwalds, den kilometerlange Systeme von Schlinggewächsen zu einem einzigen quirligen Laubfilz zusammenspannen.“ (S. 21)
Passagen der Hochstimmung und des Tatendrangs hingegen, beispielsweise der Kampf der Macheten in den Fäusten der Abenteurer gegen den widerspenstigen Dschungel, durch eine beschwingte, lebendige Sprache:
„Heda, get on, adelante, mach’ ran, da, dort, hier, links, nein, rechts, zum Teufel rechts – nun kommt der Elan. Aufgepasst! Was wühlt sich dort durch den Wald, was hackt, flitzt, spreizt, dehnt diese unregelmäßige Röhre [...] durch das Dickicht [...]? Nun haben wir es, wir haben es, [...] wir rasen vor Begeisterung [...], der Rhythmus prasselt wie Trommelwirbel auf uns ein.“ (S. 59f.)
Typisch ist auch eine besondere Bildhaftigkeit der Sprache, wofür gerade Müllers ‚Tropen’ beachtliche Beispiele liefert; um nicht den größten Teil des Buches zu zitieren, seien hier nur „die Kelche des Lebens blass und leer von Honig“ (S. 183) angeführt. „Den Leser fasziniert“, wie Kreuzer formuliert,
„Müllers singuläre Sprachkraft, ihr nie ermüdender Elan, [...] ihre dynamische und expressive Bildphantasie; doch zugleich bedrängt ihn seine Unersättlichkeit, seine besessene, fast selbstzerstörerische Hingabe an das Wort, dessen raubtierhafte Gewalt.“[59]
Ein auffälliges, im Expressionismus wie in ‚Tropen’ immer wiederkehrendes Element ist eine ‚Ästhetik des Hässlichen’[60] Andere Stilmittel sind Satzellipsen, Sprachverknappung und Tempuswechsel.[61] Auffällig sind sehr genaue Naturbeschreibungen, die einen Eindruck von Wirklichkeit vermitteln, zum Teil bedrohlich wirken und bis an die Grenzen des Horrors gesteigert werden.[62]
Im Zusammenhang mit der ‚Ich-Dissoziation’, auf die ich an späterer Stelle genauer eingehen werde, stehen Personifizierung von Dingen – Blumen und Blätter werden zu „lebende(n) Leiber(n) [...] mit Spuren von Menschenähnlichkeit und Zügen, die nach Entwicklung drängten. [...] Sie drehten sich, hundert Augen sahen uns gespenstisch nach“ (S. 26f.) – und Verdinglichung von Personen – „[...] lasse ich allmählich mein Bewusstsein fallen, so gelange ich zu dieser einen Tatsache: Ich bin ein naschhaftes Zellenbündel und liege im Wasser.“ (S. 29)
Insgesamt geht Müller allerdings über die sprachlich-stilistischen Tendenzen und die Motive seiner Zeit hinaus, denn es
„lassen sich Elemente aus fast allen Literaturepochen vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart aufspüren. Seine formalen Strukturen enthüllen eine Fixierung an klassizistische Formzwänge, eine Manie zur Symmetrie, Zentrumsbezogenheit, zur Antithetik, zur Spiegelung, zum Kreis. [...] Seinen Sehnsuchtsbegriff bezieht er nicht nur allgemein von der Romantik, sondern in seiner spezifischen introvertierten Prägung von Novalis’ Lehrlingen zu Sais. [...] andere Verknüpfungspunkte, vor allem mit der unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Literatur (von Nietzsche, Freud und Karl May bis zu Musil und Brecht) sind so zahlreich, dass ihnen eine eigene Studie gewidmet werden könnte.“[63]
3. Authentizitätsansprüche – Fiktion und Wirklichkeit des Vorworts
Es gehört zur besonderen Leistung des Werkes Tropen, dass sich die Ereignisse auf mehreren Fiktionsebenen abspielen, die der Leser aktiv zu interpretieren genötigt ist. Die Voraussetzungen hierfür werden bereits im Vorwort geschaffen, das auf mehreren Ebenen zu interpretieren ist und schon den Schlüssel zum Gesamtroman enthält. Das Spiel mit der Wirklichkeit beginnt mit dem Auftreten des Verlegers Robert Müller, der nicht identisch ist mit dem Autor Robert Müller. Der volle Titel: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller. Anno 1915. lässt zunächst darauf schließen, dass Robert Müller lediglich den Reisebericht eines deutschen Ingenieurs ediert[64] Doch lässt der historische Autor Müller hier einen Verleger Müller erscheinen, der wiederum das Vorwort zu einem Reisebericht schreibt, welcher von einem vorgeblich historischen Ingenieur namens Brandlberger handelt – der Zeitungsbericht über seinen Tod bezeugt dessen Identität – , sowie von einem vorgeblich historischen Jack Slim: „Man weiß ja, wer Jack Slim war [...].“ (S. 12) Jack Slim war „nächst Palgrave der größte Arabienreisende [...]. Er war Katholik und wusste sogar auf den deutschen Kaiser eine Zeitlang einen starken Einfluß in dieser Richtung geltend zu machen; Katholizismus und Weltmannstum schienen ihm identisch.“ (S. 13 ) Außerdem habe Jack Slim eine „Broschüre über die Zukunft des österreichischen Staates“ (S. 13) geschrieben – wie übrigens auch Robert Müller eine solche verfasste, in welcher „sich höchst merkwürdige und ähnlich versponnenen Projekte wiederfinden.“[65] Slim ist bekannt als Staatsmann und Abenteurer, und „immer wieder hat es Männer, die dieses interessante Leben verfolgten, beschäftigt, warum trotz alledem Slims Pläne, die eine Welt hätten neu aufbauen können, scheiterten.“( S. 14)
[...]
[1] Robert Müller: Tropen; Philipp Reclam Junior Verlag, Stuttgart, 1993.
[2] Ingrid Kreuzer: Robert Müllers „Tropen“. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie, (1978). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981, S. 101
[3] Ebd. S. 101
[4] Vgl. Günter Helmes: Nachwort zu Tropen. In: Robert Müller: Tropen; Philipp Reclam Junior Verlag, Stuttgart, 1993.
[5] Günter Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen seiner publizistischen Schriften. In: Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. Helmut Kreuzer und Karl Riha; Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, 1986. S. 1
[6] Vgl. Helmes: Nachwort zu Tropen, S. 409 und Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 5
[7] Wenngleich seine Theorien über das Wesen des menschlichen Seins, wie sie gerade in Tropen entwickelt werden, nicht allgemein als philosophisches System anerkannt sind. Vgl. hierzu auch: Wolfgang Reif: Robert Müllers „Tropen“, (1975). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 48
[8] Vgl. auch: Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen, S. 1
[9] Vgl. ebd. S. 19
[10] Vgl. ebd. S. 5
[11] Ebd. S. 5
[12] Ebd. S. 3
[13] Zitiert nach Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 3
[14] Ebd. S. 3
[15] Vgl. Ernst Fischer: Ein doppelt versuchtes Leben. Der Verlagsdirektor Robert Müller (und der Roman „Flibustier“), (1980). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 18
[16] Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 3
[17] Ebd. S. 3
[18] Ebd. S. 1
[19] Ebd. S. 1
[20] Ebd. S. 6
[21] Vgl. ebd. S. 8
[22] Vgl. ebd. S. 14
[23] Silvio Vietta / Hans-Georg Kemper: Expressionismus. 6. Auflage; Wilhelm Fink Verlag München, 1997. (Die Ausgabe folgt dem Erstdruck von 1975), S. 14
[24] Vgl. ebd. S. 14
[25] Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen, S. 2
[26] Vietta/Kemper, S. 14
[27] Helmes: Robert Müller: Themen und Tendenzen, S. 2
[28] Helmut Kreuzer: Einleitung. Zur Rezeption Robert Müllers. In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 17
[29] Ebd. S. 17
[30] Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 50
[31] Ebd. S. 6
[32] Ebd. S. 6f.
[33] Ebd. S. 18
[34] Ebd. S. 19
[35] Zitiert nach Günter Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 19
[36] Ebd. S. 19
[37] Vgl. Otto Flake: Zuschrift, (1927). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 319ff.
[38] Vgl. auch Günter Helmes: Robert Müller. Themen und Tendenzen. S. 20
[39] Vgl. Metzler Literatur Lexikon. Herausgegeben von Günther und Irmgard Schweikle. Zweite, überarbeitete Auflage. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, 1990. S. 145
[40] Vgl ebd. S. 145 und Vietta/Kemper S. 13
[41] Zitiert nach Metzler, S. 145
[42] Vgl. Vietta/Kemper S. 13
[43] Ebd. S. 14 (Vietta bezieht sich hier auf Hiller.)
[44] Ebd. S. 14
[45] Kurt Pinthus, zitiert nach Vietta/Kemper, S. 15
[46] Vietta/Kemper, S. 15
[47] Ebd. S. 14
[48] J. J. Oversteegen: Spekulative Psychologie. Zu Robert Müllers „Tropen“, (1980). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 146
[49] Kreuzer, S. 101
[50] Kreuzer, S. 102
[51] Vgl. auch Kreuzer S. 134
[52] Ebd. S. 102
[53] Ebd. S. 110
[54] Reif, S. 44
[55] Linke Poot (d. i. Alfred Döblin): Der Knabe bläst ins Wunderhorn, (1920). In: Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887 – 1924); Hg. Helmut Kreuzer und Günter Helmes, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag in Göttingen, 1981. S. 289
[56] Kreuzer, S. 102
[57] Kreuzer, S. 133
[58] Ebd. S. 134
[59] Kreuzer, S. 135
[60] Vgl. Kapitel II 2 dieser Arbeit.
[61] Vgl. auch die Ausführungen Viettas und Kempers a.a.O. zur Sprache des Expressionismus.
[62] Beispiele finden sich in Kapitel II dieser Arbeit
[63] Kreuzer S. 133
[64] Vgl. auch Kreuzer, S. 102
[65] Reif, S. 44
- Citation du texte
- Marcel Schaefer (Auteur), 2006, Das Wesen der Wirklichkeit und die Reise zum Menschen - Zur Fiktionsstruktur und zur Entwicklung einer Philosophie in Robert Müllers Roman "Tropen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55129
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