Der Leib als Ausgangspunkt aller Erfahrungen ist das Zentrum aller Sinneswahrnehmungen und Tätigkeiten. Er beherbergt die Sinnesorgane und dient als Ganzes der Eigen- und Weltwahrnehmung. Die ersten Erfahrungen mit seiner individuellen Leiblichkeit macht das Kind durch Gefühle wie hungrig und satt sein, lustvolles und schmerzhaftes Erleben, Geborgenheit und Angst fühlen und im spielerischen Spüren und Entdecken seines Körpers.
Sich in Einklang befinden mit seiner Leiblichkeit, sich in seinem Körper wohl – zu Hause – zu fühlen, sind zentrale Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes. Sind diese Voraussetzungen beeinträchtigt, ist auch eine erschwerte Selbstwahrnehmung zu erwarten.
Diese Arbeit zeigt auf, wie das Phänomen der Leiblichkeit die Basis bildet für die Anerkennung eines Menschen in seinem einzigartigen und unverkennbaren Person-Sein. Es wird eine Form heilpädagogischer Arbeit skizziert, die immer auch an der Beziehung interessiert und dialogisch orientiert ist.
So fühlt sich die betreffende Person Ernst genommen und akzeptiert, so, wie sie ist, und mit allen ihren (für andere oft unverständlichen) Eigenschaften. Der Ausspruch Sokrates’ – ich weiss, dass ich nichts weiss – ist in einem solchen Setting wegleitend, um – vielleicht – mit der Zeit in die Lage zu kommen, etwas von dem verstehen zu können, was der Partner oder die Partnerin selber durch leibliches Verhalten mitteilt.
Eine Vertiefung in dieses grundlegenden Konzepte lohnt sich für alle, die auf der Basis einer leiborientierten Pädagogik partnerschaftliches Lehren und Lernen von und mit Menschen mit schweren Behinderungen praktizieren wollen!
Inhaltsverzeichnis
1. Begründung der Themenwahl
2. Hinwendung zum Thema: Leiblichkeit als Konstante mensch- lichen Seins
3. Konsequenzen – Gedanken zur heilpädagogischen Praxis
4. Schlussbetrachtungen
Literatur
Auch ohne Vokabeln ein Sprachbegabter?
KOERPER (Müller-Bosshard, 2006, S. 50)
1. Begründung der Themenwahl
Das vorgegebene Oberthema „Leiblichkeit/Leibsein“ hat mich anfangs ziemlich ratlos gelassen; vorerst brachte ich die Stichworte nicht in einen heilpädagogischen, sondern eher in einen religiösen Zusammenhang. Ich versuchte dann, über Reflexion meiner bisherigen praktischen Erfahrungen sowie theoretischen Auseinandersetzungen und in Verbindung mit Literaturstudium einen persönlichen Zugang zu finden. Es mag nicht der direkteste Zugang sein, hat mir aber sehr geholfen, mich ins Thema zu vertiefen, und ich hoffe nun, dass es mir gelingt, meine Gedankengänge und die daraus entwickelte Hinwendung zum Thema auch nachvollziehbar darstellen zu können.
Mein erster Kontakt mit heilpädagogischen Fragestellungen erfolgte vor über 20 Jahren, als ich in einem Heim für Menschen mit geistiger Behinderung zu arbeiten begann. Ich arbeitete auf einer Gruppe, die von neun jungen Männern bewohnt war. Nur einer von ihnen konnte sich verbalsprachlich artikulieren (und auch dies nur sehr rudimentär). Bald aber stellte ich fest, dass sich alle von ihnen sehr wohl ausdrücken konnten, mit ihren je eigenen Mitteln, und es galt für mich, ihre individuellen Sprachbegabungen auch ohne Vokabeln zu entdecken. In einem Aufsatz, den ich in jener Zeit schrieb, hielt ich fest: „Je besser ich die Behinderten kennenlerne, desto wichtiger wird es mir, meinen Teil zu ihrem Wohlbefinden beizutragen, indem ich ihre Eigenschaften akzeptiere und ihre Wünsche und Bedürfnisse ernst nehme“ (Hemmann, 1988, S. 3). Und diese Bedürfnisse drückten sie mit den Mitteln ihres Körpers – durch ihre Leiblichkeit – direkt und unmittelbar aus.
Hier aber beginnen für viele Menschen die Schwierigkeiten:
Ein ‚gesunder Geist in einem gesunden Körper’ wird als normal angesehen, jegliches Anderssein wird dagegen sofort als Einschränkung, als Abweichung deklariert. Die Art und Weise wie die Person spricht, bzw. wie sie sich ihrer (Um-)Welt mitteilt, wird als normal oder eben nicht normal definiert. Die Lebensäusserungen eines behinderten Menschen werden oft negativ bewertet und oft als bedrohlich erlebt:
„Die ‚behinderte’ Person stellt eine Bedrohung der Norm dar“ (Egger, 1999 [Internet]).
'Behinderung' erscheint unter diesem Aspekt als etwas, das im Grunde gar nicht sein dürfte. Ein 'behinderter' Mensch stellt durch seine blosse Existenz allgemein anerkannte Regeln und Normen in Frage, durch sein So-Sein rüttelt er kräftig an deren Grundfesten. Wer die nötigen Bedingungen nicht erfüllt, um sich den gesellschaftlich vorherrschenden Strukturen zumindest anzugleichen, dessen Eingliederung ins System ist in hohem Masse gefährdet.
Menschen mit einer Behinderung, und insbesondere solche mit einer (schweren) geistigen Behinderung, die derart von den Normen abweichen, laufen immer wieder Gefahr, dass ihre Menschlichkeit in Frage gestellt wird, dass ihr schlichtes Dasein – im Widerspruch zur Auffassung des Menschen von sich selbst - Ablehnung und Aggression auslöst. Sie wurden und werden deshalb immer wieder ausgegrenzt, abgeschoben oder gar ausgemerzt. Dieses Denken und Handeln gründet in der Meinung, dass das Mensch-Sein über das rationale Bewusstsein und den freien Willen zu definieren sei, und aus diesem Grund behinderten Menschen das Menschsein abzusprechen, hat eine lange Tradition.
Zu verweisen ist etwa auf die Selektionspraxis der Spartaner im alten Griechenland, welche schwächliche, kranke oder missgebildete Neugeborene töteten, indem sie sie in eine Schlucht warfen, an grausame mittelalterliche Praktiken, welche u.a. auch von Luther gebilligt wurden, der sogenannte „Wechselbälge“ für durch den Teufel ausgetauschte Kinder hielt und deshalb deren Tötung legitimierte, an die Massenmorde im 3. Reich unter den Zeichen von 'Euthanasie' und 'Rassenhygiene' - diese und weitere Beispiele finden sich u.a. bei Kobi (2004, S. 255-260) - oder an die vom australischen Philosophen Peter Singer vor rund 15 Jahren ausgelöste neue Euthanasie-Debatte. Er trat offen für die Tötung von behinderten Säuglingen ein und meinte, „dass die Zugehörigkeit eines menschlichen Wesens zur Spezies Homo Sapiens allein keine Bedeutung hat, ob es verwerflich ist, es zu töten; entscheidend sind vielmehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein. Missgebildete Säuglinge haben diese Eigenschaften nicht. Sie zu töten kann deshalb nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler menschlicher Wesen“ (Singer, 1994, S. 179).
Die Schwächen von solchen Definition, die das Mensch-Sein an Eigenschaften wie die von Singer genannten knüpfen, sind zwar offensichtlich: Demgemäss wäre nämlich kein Neugeborenes bereits ein Mensch, und einem sogenannt 'normalen' Erwachsenen müsste bei Gedächtnisverlust oder Hirnschädigung nach einem schweren Unfall oder im Alter das Mensch-Sein wieder abgesprochen werden.
Trotzdem: Solche Definitionen sind fest in den Köpfen vieler Menschen verankert, und zeigen sich im Alltag (auf getarnte Weise) z.B. darin, wenn die 'grosse Geduld' bewundert wird, die es wohl brauche, um mit 'solchen Menschen' zu arbeiten. Bewusst oder unbewusst steckt hinter diesen Aeusserungen der Gedanke, wie schrecklich es wäre, selber 'so' – eben kein 'richtiger' Mensch mehr – zu sein, oft genug auch mit heimlichen Tötungswünschen verknüpft: "Wir stellen (...) fest, es gibt ein nicht zu unterschätzendes Potential an unbewussten und bewussten Tötungswünschen gegenüber Behinderten von Seiten Nichtbehinderter. Es ist das Bestreben Nichtbehinderter, vermeintlichen Behinderungen und ihre Träger verdrängen, d.h. töten zu wollen. Diese Tatsache ist für unser eigenes emotionales Empfinden, das auf der Basis christlich abendländischer Kultur geprägt ist, ungeheuerlich und im eigenen Bewusstsein nicht auszuhalten. Wir müssen uns deshalb gewisser Mechanismen bedienen, um diesen Tötungswunsch gesellschaftlich legitimieren zu können" (Bonfranchi, 1992, S. 627).
Singer (1994) liefert eine solche Legitimation, indem er in radikal-utilitaristischer Manier schreibt: "Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme auf eine glückliches Leben grösser, wenn der behinderte Säugling getötet wird" (S. 183).
Menschen mit einer geistigen Behinderung sind solchen Definitionen ausgeliefert: „Der Geistig-Schwerstbehinderte kann sich selbst gegen falsche Zuordnungen und Definitionen nicht wehren – wohl aber seine Mitmenschen, die eine erzieherische Zuwendung bewusst gestalten“ (Siegenthaler, 1983, S. 121).
Das Spannungsfeld dieser diametral entgegengesetzten Haltungen wird durch diese beiden Aussagen abgesteckt: Einerseits der fatal an das Dritte Reich erinnernde Vorschlag, Menschen mit Behinderungen am besten gleich zu töten, andererseits die unbedingte Hinwendung zum Leben. Mit den Worten von Albert Schweitzer: „Wo das Bewusstsein schwindet, dass jeder Mensch uns als Mensch etwas angeht, kommen Kultur und Ethik ins Wanken. Das Fortschreiten zur entwickelten Inhumanität ist dann nur noch eine Frage der Zeit“ (Schweitzer, 1960, S. 28).
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