Entwicklungen und Veränderungen, die die Gesellschaft und das Zusammenleben betreffen, stellen allgemein für die Menschheit und speziell für jeden einzelnen Menschen Prozesse dar, die sich als notwendig erweisen, also als zwingend, gleichsam aus der Not geboren. Ungeachtet, ob Erfolge oder Misserfolge, Wachstum oder Stagnation, Fortschritt oder Chaos ihre Wahrnehmung dominieren, laden sie zur bewussten Auseinandersetzung und rückblickenden Reflektion ein. Eine intensivere Betrachtung vermag zu hinterfragen, welche Prinzipien und Maximen Strukturen sozialer Mobilität erlauben, wenn nicht erfordern.
Schlömerkemper stellt in der Entwicklung der Menschheit die Einsicht und die Erkenntnis von Differenzen als zentrale Motive von Entwicklungen und Veränderungswünschen dar. Damit verbunden sei die Erkenntnis, dass Differenzen naturgegeben, aber auch veränderlich sein können, die Erkenntnis also, dass Differenzen einerseits zwischen Menschen in der Summe zu Vielfalt führen, andererseits unweigerlich hierarchische Strukturen zur Folge haben können (Schlömerkemper 2000). Somit bewegt sich der Begriff der Differenz mehr oder weniger zwischen den Polen der Bereicherung und des Makels. Diese Differenz spiegelt sich in und auf allen gesellschaftlichen Ebenen wider. Denn es unterliegen Begriffe wie jener der Differenz stets einem instrumentellen Charakter und können sogar im Kontext von gesellschaftlichen Prozessen als Motive und Erklärungsmodelle erachtet werden (Elias 1991 zit. in Keiner 1998: 41). Somit ist der Befund von Differenz auch im schulischen Kontext eine nicht unerhebliche Herausforderung an das deutsche Bildungswesen (Trautmann & Wischer 2011). Baumert (2002) zog mit Blick auf die PISA-Ergebnisse (2000) folgendes Resümee:
In der Verbesserung des Umgang mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der Modernisierung des Systems (Baumert 2002 zit. in Trautmann & Wischer 2011).
Dass die Thematik der Differenz, die bewusst nicht als Problem bezeichnet wird, im schulischen Kontext kein Neuland darstellt, steht vermutlich nicht zur Debatte (Trautmann & Wischer 2011). Vielmehr überwiegen kritische Fragen und Anregungen die Diskussion, weshalb sich der Umgang mit der Differenz, die heute überwiegend dem Begriff der Heterogenität gleichgesetzt wird (ebd.), als immer noch recht schwierig gestaltet (ebd.).
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einführung
1.1 „Differenz“: Grund oder Lösung all unserer Probleme?
1.2 Gang der Darstellung
1.3 Aus der Geschichte der Bildungsungleichheit lernen?
2 Bildungsgerechtigkeit
2.1 Ideologieanfälligkeit der Begründungen von Gerechtigkeit und ihrer Negation
2.1.1 Anthropologische „Verwissenschaftlichung“ von Differenz
2.1.2 Ablösung anthropologisierender Apologie durch „blinde Mechanismen“
2.1.3 „Bildungsgerechtigkeit“ als „umkämpfter Begriff“ oder „fuzzy concept“
2.1.4 Zwischenfazit: Erfordernis multiperspektivischer Betrachtung
2.2 Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit
2.2.1 Chancengleichheit als Start- oder Zielchancengleichheit
2.2.2 Grundkompetenzen als Chancengleichheit
2.2.3 Ausdifferenzierung der Chancengleichheit
2.2.4 Leistungsprinzip im Kontext der Chancengleichheit
2.2.5 Familiäre Unabdingbarkeit im Kontext der Chancengleichheit
2.2.6 Begabungsgerechtigkeit im Kontext der Chancengleichheit
2.2.7 Verteilungsgerechtigkeit im Kontext Chancengleichheit
2.2.8 Zwischenfazit
2.3 Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungstheorie
2.3.1 Anerkennungstheorie durch interpersonelle Wahrnehmung
2.3.2 Zwischenfazit
2.4 Bildungsgerechtigkeit als Chancengerechtigkeit
2.4.1 Primäre und sekundäre Herkunftseffekte nach Boudon
2.4.2 Der Matthäus- Effekt
2.4.3 Bedeutungsdifferenz zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit
2.4.4 Zwischenfazit
2.4.5 Gerechtigkeitsbegriffe im vorliegenden historischen Kontext
3 Schulentwicklung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland
3.1 Reorganisation des dreigliedrigen Schulsystems
3.1.1 Ideelles Erbe der alliierten Besatzungsmächte
3.1.2 Schule als Gegenstand des sozial-/christdemokratischen Dissens
3.1.3 Düsseldorfer Abkommen als Kompromiss der bundesdeutschen Länder
3.2 Die Dreigliedrigkeit: Struktur und Aufbau
3.3 Reforminitiativen Anfang der 1960er Jahre
3.4 Reforminitiativen Mitte der 1960er Jahre
3.4.1 Georg Picht: Die Bildungskatastrophe
3.4.2 Hamburger Abkommen als Reaktion
3.4.3 Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht
3.5 Impulse für Schulstrukturentwicklungen
4 Bildungspolitische und schulpädagogische Diskussion zur Einführung der Gesamtschule
4.1 Frühe Polarisierung der Gesamtschul-Kontroverse
4.2 Der Begriff der Gesamtschule
4.3 Chancengleichheit durch die Gesamtschule
4.3.1 Zielvorstellungen des deutschen Bildungsrates
4.3.2 Neuauflage des Begabungsdenkens vermittels der Gerechtigkeitsrhetoriken
4.3.3 Chancengleichheit vs. Chancengerechtigkeit
4.3.4 Ziele der Gesamtschule aus dem Blickwinkel der Chancengleichheit
4.3.5 Ablehnung und Zustimmung der Gesamtschule in Einzelaspekten
4.3.6 Einwände gegen die Gesamtschule im Einzelnen
4.3.7 Zwischenfazit
4.4 Empirische Befunde der Begleituntersuchungen
4.5 Diskussion
4.5.1 Ein langes Ende der Experimente, 1969–1982
4.5.2 Starke Korrelation von Gesamtschule und Chancengleichheit
5 Die LifE-Studie – Ein Exkurs
6 Ausblick
7 Literaturverzeichnis
Monographien
Sammelwerke
Zeitschriften
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der Innovationswürfel (entnommen aus Kurz & Weiß 2016: 31)
Abbildung 2: Chancenungleichheit nach sozialer Herkunft in unterschiedlichen Schulsystemen (entnommen aus Fend 1982: 140)
Abbildung 3: Bedingte Chancengleichheit im dreigliedrigen Schulsystem (entnommen aus Fend 2009: 48)
Abbildung 4: Bedingte Chancengleichheit in der Gesamtschule (entnommen aus Fend 1982: 153)
Abbildung 5: Vereinfachtes Ergebnismuster der Gesamtschuluntersuchungen (entnommen aus: Fend 1982: 491)
1 Einführung
Entwicklungen und Veränderungen, die die Gesellschaft und das Zusammenleben betreffen, stellen allgemein für die Menschheit und speziell für jeden einzelnen Menschen Prozesse dar, die sich als notwendig erweisen, also als zwingend, gleichsam aus der Not geboren. Ungeachtet, ob Erfolge oder Misserfolge, Wachstum oder Stagnation, Fortschritt oder Chaos ihre Wahrnehmung dominieren, laden sie zur bewussten Auseinandersetzung und rückblickenden Reflektion ein. Eine intensivere Betrachtung vermag zu hinterfragen, welche Prinzipien und Maximen Strukturen sozialer Mobilität erlauben, wenn nicht erfordern.
1.1 „Differenz“: Grund oder Lösung all unserer Probleme?
Schlömerkemper stellt in der Entwicklung der Menschheit die Einsicht und die Erkenntnis von Differenzen als zentrale Motive von Entwicklungen und Veränderungswünschen dar. Damit verbunden sei die Erkenntnis, dass Differenzen naturgegeben, aber auch veränderlich sein können, die Erkenntnis also, dass Differenzen einerseits zwischen Menschen in der Summe zu Vielfalt führen, andererseits unweigerlich hierarchische Strukturen zur Folge haben können (Schlömerkemper 2000: 3). Somit bewegt sich der Begriff der Differenz mehr oder weniger zwischen den Polen der Bereicherung und des Makels. Diese Differenz spiegelt sich in und auf allen gesellschaftlichen Ebenen wider. Denn es unterliegen Begriffe wie jener der Differenz stets einem instrumentellen Charakter und können sogar im Kontext von gesellschaftlichen Prozessen als Motive und Erklärungsmodelle erachtet werden (Elias 1991 zit. in Keiner 1998: 41).
Somit ist der Befund von Differenz auch im schulischen Kontext eine nicht unerhebliche Herausforderung an das deutsche Bildungswesen (Trautmann & Wischer 2011: 7). Baumert (2002) zog mit Blick auf die PISA-Ergebnisse (2000) folgendes Resümee:
In der Verbesserung des Umgang mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der Modernisierung des Systems (Baumert 2002 zit. in Trautmann & Wischer 2011: 7 f.)
Dass die Thematik der Differenz, die bewusst nicht als Problem bezeichnet wird, im schulischen Kontext kein Neuland darstellt, steht vermutlich nicht zur Debatte (Trautmann & Wischer 2011: 17). Vielmehr überwiegen kritische Fragen und Anregungen die Diskussion, weshalb sich der Umgang mit der Differenz, die heute überwiegend dem Begriff der Heterogenität gleichgesetzt wird (ebd.), als immer noch recht schwierig gestaltet (ebd.: 9). Eine Begründungstendenz liegt vermutlich in der Begrifflichkeit von „Differenz“ selbst, der zufolge differente oder auch heterogene Gegebenheiten als individueller Aufmerksamkeit bedürftig gelten. Ladwig schreibt dem Prinzip der Differenz und dem Gebot der Chancengleichheit eine zwingende Kausalität zu, sodass das Gebot der Chancengleichheit eine unabdingbare Folge und Forderung der Differenzbeobachtung darstelle (Ladwig 2011: 113). Schülerinnen und Schüler weisen untereinander diverse Merkmale der Differenz auf: Geschlecht, Interessen, Vorwissen, Lerntempo etc. (Trautmann & Wischer 2011: 23). Diese Tatsache bedarf einer entsprechenden Toleranz und Pflege. Aber es sollten auch allen Schülerinnen und Schülern, ohne dabei bestimmte Schülergruppen zu bevorzugen oder zu benachteiligen, die gleichen Chancen offeriert werden. Somit mag der Eindruck entstehen, dass die Chancengleichheit als Lösungskonzept für den Umgang mit der Differenz erachtet werden kann. Allerdings baut auch der Begriff der Chancengleichheit, der vermutlich selbst schon mehr oder weniger lediglich eine Ebene der Bildungsgerechtigkeit charakterisiert, auf einem durchaus kontroversen und gespaltenen Fundament auf, sodass ambivalente Ansichten eine klare Deutung erschweren.
1.2 Gang der Darstellung
Diese Tatsache soll möglichst detailliert im zweiten Kapitel „Bildungsgerechtigkeit“ skizziert werden. Nichtsdestoweniger kann die im Anschluss an den Begriff der Differenz geforderte Chancengleichheit mit all ihren Facetten und Dimensionen als Motiv für Schulstrukturentwicklungen verstanden werden. Zumal ausgehend von der Differenz keinesfalls Schülerinnen und Schüler als ungeeignet oder gar defizitär erachtet werden sollten, sondern vielmehr die Institution Schule und ihre strukturelle Ausrichtung selbst (ebd.: 17). Dementsprechend wird im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit die Schulstrukturentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik beleuchtet, um im Anschluss die in den 1960er Jahren einsetzende Gesamtschuldebatte auf bildungspolitischer und schulpädagogischer Ebene darstellen zu können. Dabei wird stets versucht, die Gesamtschuldebatte aus der Perspektive der Chancengleichheit zu illustrieren. Anschließend soll die Erörterung der LifE-Studie von Fend (2009) im fünften Kapitel Aufschluss über Langzeiteffekte der Gesamtschulen geben. Entspricht die Chancengleichheit immer noch der obersten Priorität von Gesamtschulen? Oder hat sich im Wandel vom Ist-Zustand der Bildungsungleichheiten zum Soll-Zustand der Chancengleichheit eine Wende ergeben?
1.3 Aus der Geschichte der Bildungsungleichheit lernen?
Die Historie der hier zu referierenden Sachverhalte soll überwiegend dazu dienen, den Rahmen der Zukunft möglichst aus vergangenen Fehlern, aber auch Erkenntnissen zusammenzusetzen, um nach Möglichkeit gleiche Fehler zu vermeiden oder gar präventiv angehen zu können. Mit dieser Option hat sich schon vor 120 Jahren der Pädagoge Friedrich Paulsen mit der Frage, „ob es möglich sei, aus der Geschichte zu lernen, nicht bloß was war, sondern auch was kommen wird“ beschäftigt (Paulsen 1885: Vorwort zit. in Herrlitz et al. 2009: 11). Paulsen selbst konnte diese Frage entschlossen bejahen, sodass er sich erst aus einem „Interesse für die Zukunft“ intensiv mit der Vergangenheit beschäftigte. (ebd.)
Bildungsgerechtigkeit und die ihr vorausgehende Differenz bzw. Heterogenität erleben in der Gegenwart ihre stärkste Blütezeit und einen ‚Clou‘, den es in der Geschichte des deutschen Schulwesens noch nicht gegeben hat (vgl. Pechar 2017: 78). Damit erscheinen Veränderungen im schulischen Kontext, womöglich auf struktureller Ebene, notwendig. Insofern könnte ein historischer Rückblick dazu ermahnen, Zirkularitäten zu vermeiden.
Fend schreibt der Historie einen hohen Wert zu, sollen die gegenwärtigen Elemente, Strukturen und Umstände der Institution Schule greifbar werden. (Fend 2008: 15) Damals wie heute zieht der Begriff der Bildungsgerechtigkeit unbestritten alle Blicke auf bildungspolitischer wie schulpädagogischer Natur auf sich, soweit die Interessen an Bildung nicht auf rein ökonomischem Nutzenkalkül beruhen. Unter diesen Vorüberlegungen wird der Nutzen einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Differenz auf dem Gebiet der Bildung jedenfalls dazu beitragen können, einer Bagatellisierung ungelöster oder verschleierter Ungerechtigkeit entgegenzuwirken.
2 Bildungsgerechtigkeit
Die Vermutung, der Mensch unterliege seiner „kulturellen Osmose“, ohne diese jedoch zu kennen, vielleicht zu verändern oder gar wechseln zu wollen, entspricht einer primitiven Theorie von Schule und stellt aus heutiger Perspektive keine Selbstverständlichkeit mehr dar. Entsprechend dieser Theorie wurden Menschen schon von Geburt an klassifiziert und ihrer entsprechenden „Osmose“ überlassen (Fend 2008: 19 ff.).
2.1 Ideologieanfälligkeit der Begründungen von Gerechtigkeit und ihrer Negation
2.1.1 Anthropologische „Verwissenschaftlichung“ von Differenz
In einer zugespitzten Form einer derartigen Anthropologie versuchte z. B. Lombroso, „geborene Verbrecher“ und „geborene Verbrecherinnen“ zu beschreiben:
Im Allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit, – kurz ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden (Lombroso 1894: 230f., zit. n. Fend 2008: 21).
Derartige Klassifizierungen wurden weiter abgestuft, sodass beispielsweise auch das Geschlecht oder die sogenannte Rasse dazugezählt wurden. Ziel war es, die Reproduktion dieser Minderheiten zu verhindern und zugleich die Reproduktion der Hochwertigen zu fördern (ebd.). Im anthropologisierenden Paradigma stellen die Hoch- das Gegenteil der Minderwertigen dar, ohne dabei eine differenzierte Beschreibung vorzunehmen. Diese Strategie der bewussten, bilateralen Reproduktion lässt sich unter das Konzept der „Eugenik“ fassen (ebd.).
Auch wenn die (rassen-) biologische, auf eugenische „Zuchtwahl“ hinauslaufende Zurichtung der Schule sowie anderer Einrichtungen der Daseinsvorsorge mehr als 70 Jahre zurückliegt, haben Strategien radikaler Auswahl und, wenn auch nicht mehr offen rassistischer, so doch stark essentialisierender Zuschreibungen ihren Platz in der Schule behalten. Allerdings haben sich sowohl die Rahmung als auch die Perspektive gewandelt, sodass die Strategien einer nach sozialen Klassen oder ethnischen Merkmalen, statt nach meritokratischen Prinzipien erfolgenden Zuteilung von öffentlichen Gütern nun nicht mehr bewusst praktiziert wird, sondern sich vielmehr zumeist unbewusst vollzieht. In diesem Sinne spricht Vester von „blinden Mechanismen“, die Ungleichheiten begünstigten und sich hinter dem Rücken guter Absichten entwickeln würden (Vester 2013: 91).
2.1.2 Ablösung anthropologisierender Apologie durch „blinde Mechanismen“
Diese „blinden Mechanismen“ unterteilt Vester (2013) einerseits in „harte“ organisatorische, andererseits in „weiche“ kulturelle Mechanismen. Mit „harten“ organisatorischen Mechanismen verbindet Vester institutionelle Gegebenheiten wie die frühe Selektion der Kinder nach bestimmten Schularten. „Weiche“ Mechanismen wiederum stehen für die Sortierung und Aufteilung der Kinder nach ihren Herkunftskulturen (ebd.).
Diese „blinden Mechanismen“, so harmlos sie auch klingen mögen, umschreiben kurz und knapp das deutsche Bildungssystem selbst wie auch seine aktuell bestehenden Probleme (ebd.). Namentlich haben die PISA-Erhebungen Schwierigkeiten des deutschen Bildungssystems konstatiert: Demzufolge hängen der Bildungserfolg sowie spätere Berufschancen der Schülerinnen und Schüler stark von ihren sozialen Herkünften ab, während Fähigkeiten und Begabungen ausgeblendet bleiben (Kramer 2013: 116; Giesinger 2007: 362; Stojanov 2011: 27).
Vorschnell werden derartige Phänomene von Ungleichheiten und fehlender Gerechtigkeit jeglicher Art im deutschen Bildungssystem unter der Rubrik der „Bildungsgerechtigkeit“ gesammelt und dementsprechend gehandhabt. Allerdings fehlt oftmals der Bildungsgerechtigkeit als „Schirmherrschaft“ selbst die notwendige reflektierte Bedeutungsgestalt, um von ihr ausgehend weitere Begründungen treffen zu können.
2.1.3 „Bildungsgerechtigkeit“ als „umkämpfter Begriff“ oder „fuzzy concept“
Göhler, Iser & Kerner haben zentrale Begriffe aufgegriffen, deren Diskussion und eindeutige Beschreibung schwierig bis unmöglich erscheint, und diese als „umkämpfte Begriffe“ kategorisiert (Göhler, Iser & Kerner 2011: 7 ff.) Umkämpfte Begriffe, so Göhler et al., unterliegen stets einer Perspektivenvielfalt und stehen vermehrt im Spannungsfeld von Kontroversen, die wiederum lediglich die politische und gesellschaftliche Situation darstellen (ebd.). Außerdem, so Stojanov, bleiben umkämpfte Begriffe selten wertneutral und besitzen die Eigenschaft, bestimmte Gegebenheiten auf- oder abzuwerten (Stojanov 2011: 18). Insofern zählt nicht nur der Begriff der Gerechtigkeit zu den umkämpften Begriffen (Ladwig 2011: 109), sondern im Speziellen auch der Begriff der Bildungsgerechtigkeit (Stojanov 2011: 18). Daher lässt sich vermuten, dass Bildungsgerechtigkeit im Kontext des deutschen Bildungssystems weniger neutral als vielmehr wertend agiert.
Aus einer ähnlichen Perspektive versuchen auch Dietrich, Heinrich & Thieme (2013) den Begriff der Bildungsgerechtigkeit greifbar zu machen. Sie verstehen mit Rückbezug auf Markusen (2003) Bildungsgerechtigkeit als ein „fuzzy concept“:
A fuzzy concept is one which posits an entity, phenomenon or process which possesses two or more alternative meanings and thus cannot be reliably identified or applied by different readers or scholars. In literature framed by fuzzy concepts, researchers may believe they are addressing the same phenomena but may actually be targeting quite different ones (Markusen 2003: 702, zit. in Dietrich, Heinrich & Thieme 2013: 12).
Phänomene, Aspekte oder auch Entitäten mit zwei oder mehr Bedeutungen lassen sich laut Markusen (2003) als ein „fuzzy concept“ bezeichnen. Bildungsgerechtigkeit setzt sich aus den Begriffen der Bildung und der Gerechtigkeit zusammen. Im Wesentlichen lassen sich schon Bildung und Gerechtigkeit jeweils selbst als „fuzzy concepts“ verstehen, sodass sich für „Bildungsgerechtigkeit“ erst recht unzählige Deutungsmöglichkeiten ergeben und eine klare Schärfe der Deutung unmöglich scheint (ebd.: 13).
2.1.4 Zwischenfazit: Erfordernis multiperspektivischer Betrachtung
Diese Unschärfe erkennt auch Schönig (2009) und schreibt dem Begriff der Bildungsgerechtigkeit eine hohe Komplexität zu. Es sei eine Komplexität, die sich vor allem durch die Ursprungsbegriffe der Bildung und der Gerechtigkeit ergebe. Insofern, so Schönig, zählten diese beiden Begriffe zu Schlüsselbegriffen, die mit unterschiedlichen Inhalten geladen und dementsprechend nur schwer zu definieren seien (Schönig 2009: 43).
Die unter 2.1.1 bis 2.1.3 notierten, sich doch überwiegend überschneidenden Ansichten verdeutlichen, dass es zu kurz gegriffen wäre, Bildungsgerechtigkeit nur aus einer Perspektive zu beleuchten. Die Schaffung einer multiperspektiven Grundlage entspricht auch der Forderung Gosepaths, Bildungsgerechtigkeit nicht monistisch zu fassen. Demzufolge müsste Bildungsgerechtigkeit mehrere Bereiche einbeziehen wie auch mehrere Kriterien vertreten, sodass beispielsweise Bildungsgerechtigkeit nicht nur als Gerechtigkeit in der Schule zu verstehen sei, sondern auch familiäre Umstände im Kontext der Bildungsgerechtigkeit Berücksichtigung finden müssen (Gosepath 2017: 44 f.).
Dies gelte, zumal das Verständnis von Bildungsgerechtigkeit von äußeren politischen und gesellschaftlichen, Gegebenheiten getragen werde und sich dementsprechend wandle. Während in den 1960er Jahren Bildungsgerechtigkeit unter anderem mit dem phrasenhaften Beispiel der „katholischen Arbeitertochter vom Lande“ eingefordert wurde (Fend 2008: 39), stehen heute Schülerinnen und Schüler von zugewanderten Familien im Spannungsfeld von Bildungsgerechtigkeit (Heimbach-Steins 2009: 13 f.). Es lässt sich erkennen, dass zwar auch die Bildungsgerechtigkeit dem Wandel der Zeit unterliegt, nichtsdestoweniger ihre effizienten Auswirkungen weiterhin Echos erzeugen.
Daher werden im Weiteren unterschiedliche, teils sich widersprechende Konzepte der Bildungsgerechtigkeit aufgegriffen, um ein umfassendes Verständnis von Bildungsgerechtigkeit zu formulieren. Aus diesem Fundus an Verständnissen und Theorien wird für den weiteren Verlauf der Arbeit versucht, ein durchgängiges und einheitliches Verständnis von Bildungsgerechtigkeit zu nutzen. Auch wenn sich die Konzepte in ihren Argumenten und Richtlinien in einigen Punkten widersprechen, ist es doch äußerst schwierig, sie gänzlich zu trennen. Bezugspunkte und Überschneidungen scheinen unvermeidlich zu sein. Aus diesem Grund werden einerseits Konzepte und Modelle, anderseits sich darauf beziehend Gegenthesen eingebracht. Insofern wird unter 2.2 die Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit verstanden, indem der Chancengleichheit untergeordnete Konzepte und Modelle bezüglich ihrer Umsetzbarkeit diskutiert werden. Anschließend sollen weitere Perspektivzugänge beleuchtet werden, die alternative Möglichkeiten zur Umsetzung der Bildungsgerechtigkeit darstellen.
2.2 Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit
Ziel der öffentlichen Bildungspolitik muss es sein, allen Schülerinnen und Schülern gleiche Chancen zu bieten, um ihr Potenzial voll zu entwickeln (OECD 2001: S. 184, zit. in Giesinger 2007: 362).
Diese, im Zusammenhang mit den PISA-Erhebungen oft zitierte Forderung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD) enthält folgende Postulate: Zum einen wird konstatiert, dass bis dato Schülerinnen und Schülern gleiche Chancen in der Bildung verwehrt blieben, sodass sich aus diesem Defizit das Ziel ableitet, gleiche Chancen für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen (Thieme 2013: 162). Zum anderen lässt sich aus dieser Formulierung, die indirekt fehlende Gerechtigkeit anspricht, die heute weit verbreitete Definition und Erläuterung der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit ableiten (Giesinger 2007: 362).
Insofern wird Bildungsgerechtigkeit im Kontext der Chancengleichheit einerseits als Ausgleich von herkunftsbedingten und sozialisationsabhängigen Ungleichheiten und andererseits als gleiche Behandlung aller Schülerinnen und Schüler verstanden (Stojanov 2011: 28).
2.2.1 Chancengleichheit als Start- oder Zielchancengleichheit
Die gleiche Behandlung oder auch die Gleichheit aller Schülerinnen und Schüler kann wiederum unterschiedlich gewährleistet werden: Die Startchancengleichheit intendiert, bestehende ungleiche Startchancen der Schülerinnen und Schüler zu kompensieren und auszugleichen (Brunsch 2012: 4 f.). Die Zielchancengleichheit beabsichtigt wiederum die Gleichheit der Bildungsergebnisse (ebd.). Allerdings kann die Zielchancengleichheit die Philosophie der Chancengleichheit in der Hinsicht verfehlen, dass auf diese Weise den Talenten, Fähigkeiten und Begabungen der Schülerinnen und Schüler, ganz egal welcher Herkunft und Sozialisation, nicht die entsprechende Achtung und notwendige Weiterbildung gewährleistet wird und somit der Versuch, Gleichheit zu schaffen, in Ungleichheit mündet. Eine gewünschte Zielchancengleichheit ähnelt vielmehr dem Bett des Prokrustes (Pechar 2017: 80). Prokustes war ein mythologischer Riese, der Reisenden sein Bett anbot. Aber Prokrustes hat zu große Reisende den Maßen des Bettes entsprechend „verkleinert“, zu kleine Reisende wiederum den Maßen des Bettes entsprechend „gestreckt“ und „auseinandergezogen“ (ebd.). Daher mag ein Bestreben der Zielchancengleichheit versucht sein, einigen Schülerinnen und Schülern Talente und Begabungen „abzuhacken“ und andere wiederum über ihre Grenzen hinaus zu fördern und in der Folge zu überfordern.
Insofern kann auch aus ökonomischer Sicht fortgeführt werden, dass die Idee der Zielchancengleichheit wertvolle und praktikable menschliche Talente, Fähigkeiten und Begabungen, die sich aus marktwirtschaftlicher Perspektive für die Zukunft der Gesellschaft als nützlich erweisen können, von Beginn an nivelliert und ihrer Entwicklung und Entfaltung keinerlei Möglichkeiten bietet (vgl. Gosepath 2017: 47 f.). Folgendes Beispiel kann die verfehlte Ausrichtung der Zielchancengleichheit verdeutlichen:
Ein Hundertmeterlauf hat ja auch nur einen Sinn, wenn alle die gleiche Chance haben zu gewinnen und [...] [nicht] wenn alle gleichzeitig ankommen (Heid 1988: 5, zit. in Brunsch 2012: 5).
Daher verweist die Schaffung gleicher Chancen womöglich eher auf eine mögliche Startchancengleichheit (Dietrich, Heinrich & Thieme 2013: 17).
2.2.2 Grundkompetenzen als Chancengleichheit
Allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit gleiche Chancen für alle Schülerinnen und Schüler gewährleistet werden können. Gosepath schreibt der Schule im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit drei zentrale Ziele zu: die allgemeine Erziehung für alle, die Kultivierung von individuellen Talenten und die Auswahl geeigneter Kandidaten für die höhere Bildung. (Gosepath 2017: 46) Das Ziel der allgemeinen Erziehung für alle Schülerinnen und Schüler besteht in der Vermittlung und Entwicklung von grundlegendem Wissen und grundlegenden Fähigkeiten, damit die Schülerinnen und Schüler jeweils ihre eigene Persönlichkeit entwickeln können, zumal diese Ausstattung mit basaler Bildung, wie sie Gosepath (2017) bezeichnet, den Schlüssel für ein besseres und ‚höheres‘ Leben darstellt. Damit folgt ein solcher Ansatz einer menschenrechtlichen Perspektive, nach der Bildung ein universales Grundrecht darstellt. Aus diesem Grund spricht Gosepath in diesem Kontext auch von einer Gleichheit, womöglich einer Startchancengleichheit, die allen Schülerinnen und Schülern den gleichen Zugang zu dieser basalen Ebene der Bildung ermöglichen soll (ebd.: 47). Allerdings lässt Gosepath diesen Vorschlag lediglich als Hypothese stehen, da das zu setzende Niveau dieser basalen Bildung mehr als eindeutig zu sein scheint (ebd.).
Pechar formuliert ebenfalls einen derartigen Vorschlag im Sinne der Bildungsgerechtigkeit, indem er von einem Basissockel an Grundkompetenzen spricht. (Pechar 2017: 82) Das Problem eines derartigen Basissockels beruhe auf den vielseitigen Zielen der Institution Schule. Insofern die Institution Schule sowohl Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien als auch aus bildungsnahen Familien fördern muss, geraten diese beiden Ziele in einen Konflikt. Wie anspruchsvoll soll sich dieser Basissockel gestalten, damit beide Ziele umgesetzt werden können? (ebd.: 82 f.)
Die Forderung nach einer basalen Grundbildung für alle Schülerinnen und Schüler deckt sich überwiegend mit dem Konzept des „capability approachs“ der Teilhabegerechtigkeit von Martha Nussbaum (2006). Nussbaum vertritt die Ansicht, dass aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive jedes Individuum in der Gesellschaft ein Minimum an Fähig- und Fertigkeiten besitzen muss, damit ein menschwürdiges Leben geführt werden kann (Stojanov 2011: 38). Hierzu führt Nussbaum zehn Punkte auf, die eine Grundlage für ein derartiges menschwürdiges Leben schaffen sollen. Allerdings, so Stojanov (2011), könnten derartige Grundlagen keinesfalls eine Richtung angeben, da diese Grundlagen keine Universalität beanspruchen könnten (ebd.: 39).
Einen ähnlichen Weg verfolgt auch Giesinger (2007) mit seinem Schwellen-Konzept. (Giesinger 2007: 376 f.). Dem Konzept liegt die Idee zugrunde, allen Schülerinnen und Schülern Fähig- und Fertigkeiten zu vermitteln, entsprechend einer gesetzten Schwelle, um auf diese Weise den Schülerinnen und Schülern ein gutes Leben ermöglichen zu können. Diese Schwelle wird mit der Tatsache begründet, dass vermehrt benachteiligte Schülerinnen und Schüler elementare Techniken wie das Lesen oder Schreiben nicht beherrschten (ebd.).
Schon Gutmann (1987) hat mit ihrem „Democratic Threshold Argument“ dafür plädiert, alle Schülerinnen und Schüler über eine Schwelle der demokratischen Partizipation zu führen und am sozialen Gefüge teilnehmen zu lassen, um auf diese Weise Ungleichheiten in der Bildung vermeiden zu können (ebd.; Stojanov 2011: 39).
Das Schwellen-Konzept ist so ausgelegt, dass nicht nur benachteiligte Schülerinnen und Schüler an diese Schwelle herangeführt, sondern auch begabte Schülerinnen und Schüler über die Schwelle hinaus gefördert werden sollen. Damit soll gewährleistet werden, dass die Förderung benachteiligter und begabter Schülerinnen und Schüler in einem Gleichgewicht gehalten wird, um „ein Fass ohne Boden“ zu vermeiden (Giesinger 2007: 378). Die Metapher vom Fass ohne Boden drückt lediglich die Besorgnis um eine oftmals fehlende, zu kurz kommende oder auch in den Schatten geratene Förderung der begabten Schülerinnen und Schüler aus, wenn es um gleiche Chancen aller Schülerinnen und Schüler geht. Eine gerechte Balance soll das Schwellen-Konzept bewerkstelligen können (ebd.). Auch könnte das Schwellen-Konzept die Unterscheidung zwischen sozialen Benachteiligungen und natürlichen Veranlagungen – diese Unterscheidung wird im weiteren Verlauf detailliert aufgegriffen – aufheben, sodass alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit hätten, gerechte Bildung zu erhalten (ebd.: 377). Schließlich könnte das Schwellen-Konzept Bildungsgerechtigkeit ermöglichen, wenn alle Schülerinnen und Schüler, ungeachtet jeglicher äußerlicher Faktoren, gleiche Chancen zum Erreichen eines entsprechenden Bildungsniveaus bekommen, das ihnen ein gutes und unbeschwertes Leben in Aussicht stellen kann (ebd.: 379).
Allerdings würde auf diese Weise die Bildungsgerechtigkeit nicht erreicht, sondern in ihrer Bedeutung herabgesetzt und missverstanden werden. Insofern entspricht das Erreichen eines Mindeststandards von Kompetenzen und die Teilhabe in der Gesellschaft nicht der Bildungsgerechtigkeit, da Teilhabe die bestehenden sozialen Benachteiligungen keinesfalls aufheben, diese Ungleichheiten vielmehr verschleiern und belanglos erscheinen lassen würde (Stojanov 2011: 40). Zwar vermag dieser Mindeststandard von Kompetenzen den Schülerinnen und Schülern weitere Türen und Bildungswege offenhalten, es bleiben aber Faktoren und Indikatoren, die diese Kompetenzen weiterhin unterstützen sollen und auch müssen, ungerecht. Diese Vorgehensweise ähnelt einem wackligen Fundament, auf dem versucht wird, trotz Instabilität weiterzubauen, statt sich zunächst dem wackligen Fundament zu widmen.
Gosepath beschreibt weitere Arten der Chancengleichheit, die unterschiedlich gewichtet sind und sich in ihrer Reihenfolge durchweg ergänzen (Gosepath 2017: 51), während Giesinger verschiedene Hürden darstellt, die auf dem Weg zu einer Chancengleichheit zu bewältigen sind (Giesinger 2007: 366). Zwar wählen beide Autoren verschiedene Herangehensweisen, lassen sich jedoch starke Bezugspunkte erkennen.
2.2.3 Ausdifferenzierung der Chancengleichheit
Chancengleichheit als Anti-Diskriminierungsgebot soll lediglich den Zugang zu jeglichen sozialen Positionen ermöglichen, ohne dabei auf äußere Merkmale reduziert zu werden. Diskriminierende Auslesekriterien wie das Geschlecht, die ‚Rasse‘ oder die Herkunft sollen vermieden werden, da diese determinierten Kriterien nicht in der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler liegen (Gosepath 2017: 51). Aus identischer Perspektive argumentiert Giesinger und spricht sich im Kontext der Chancengleichheit gegen jegliche Formen der Diskriminierung aus (Giesinger 2007: 366).
Die formale Chancengleichheit erweitert laut Gosepath das Anti-Diskriminierungsgebot dahingehend, dass nicht nur der Zugang gewährt wird, sondern in der Folge auch nur der Verdienst, also die Leistung, der Schülerinnen und Schüler als Vergabekriterium genutzt wird. Allerdings übersieht die formale Chancengleichheit die unterschiedlichen Startbedingungen der Schülerinnen und Schüler, sodass in der Folge Ungleichheiten doch bestehen bleiben. Insofern kann die faire Chancengleichheit diese unterschiedlichen Startbedingungen auszugleichen versuchen. Nicht nur sollen bestehende Formen von sozialer und diskriminierender Benachteiligung durch rechtliche wie auch sozialpolitische Maßnahmen abgebaut werden, sondern es sollen auch Benachteiligungen effektiv angegangen und durch Fördermaßnahmen und Weiterbildungen reduziert werden (Gosepath 2017: 51 ff.).
Allerdings lässt sich gegen den Ansatz einer fairen Chancengleichheit einwenden, dass sich in dieser Praxis der Ausgleichung, bewusst oder unbewusst, Elemente widerspiegeln, die eher einer Diskriminierung entsprechen. Stojanov erkennt im Versuch der Kompensation von sozial Benachteiligten, trotz aller guten Absichten, positive Diskriminierung, indem die Schülerinnen und Schüler ungeachtet stigmatisiert und kategorisiert werden (Stojanov 2011: 30). Während auf der einen Seite mit der Chancengleichheit Anti-Diskriminierung in Form des Anti-Diskriminierungsgebotes beabsichtigt wird, charakterisieren auf der anderen Seite, ohne dabei konkret von Tatsachen auszugehen als vielmehr beschreibend, diskriminierende Züge eine mögliche Rahmung der Chancengleichheit in Form der fairen Chancengleichheit.
2.2.4 Leistungsprinzip im Kontext der Chancengleichheit
Eine weitere Problematik besteht Stojanov zufolge im Verständnis des Verdienstes und der Leistung. (ebd.) So soll mit diesem Verständnis gewährleistet werden, dass Schülerinnen und Schüler ausschließlich ihren Leistungen und Verdiensten entsprechend beurteilt werden, während andere Faktoren, wie das Geschlecht oder die Herkunft ausgeblendet bleiben sollen (Gosepath 2017: 52; Fend 2008: 46). Allerdings werde auf diese Weise den Schülerinnen und Schülern eine durchaus große Verantwortung, mit Blick auf weitere Qualifikationen, auferlegt (Stojanov 2013: 60 ff.). Denn es seien die Schülerinnen und Schüler in aller Regel noch unmündig und müssten durch die Bildung zu autonomen und mündigen Individuen erst entwickelt werden (ebd.). Eine auf Leistung und Verdienst reduzierte Chancengleichheit verkenne diesen Status der Schülerinnen und Schüler und stelle sie als überwiegend eigenverantwortlich für ihre Leistungen und Verdienste dar. In diesem Sinne scheint das Leistungs- und Verdienstprinzip eher der Richtlinie „Chance zur Bildung“, statt der „Chance durch Bildung“ zu entsprechen. Unzureichende Leistungen und Verdienste können die Chance zur Bildung verwehren, während ausreichende Leistungen und Verdienste den nächsten Schritt einfordern würden. In eine spielerische Szene übertragen könnte folgende Spielregel den Sachverhalt in einem Turnier verdeutlichen: Wer gewinnt, gewinnt nur das Recht, zur nächsten Runde weiterzukommen, während Verlierer für immer verlieren (Gosepath 2017: 54). Auch Kunze ist daher der Ansicht, dass Selbstbestimmung und Produktivität in Form von Beiträgen zur Teilhabe in der Gesellschaft nur durch Bildung zu erlangen seien (Kunze 2017: 61). Außerdem setze das Leistungs- und Verdienstprinzip eine genaue Leistungsmessung und eine vollständige Vergleichbarkeit der Leistungen aller Schülerinnen und Schüler voraus, um anhand dessen gerechte Urteile fällen zu können (Stojanov 2013: 61). Stojanov sieht hier neben dem Problem, dass schulische Leistungen für sich genommen kaum exakt und vollständig gemessen werden können zudem das Problem, dass selbst unter der fiktiven Prämisse einer objektiven Messbarkeit durch subjektive Einflüsse, die kaum auszublenden seien, der vermeintlich objektive Leistungsvergleich unterlaufen werde. Daraus folge, dass ein Leistungs- und Verdienstprinzip keinesfalls Ausdruck von Chancengleichheit sein kann.
Im Gegensatz zu Gosepath bezieht sich Giesinger im Kontext des Zugangs zur Bildung auch auf den finanziellen Aspekt und erkennt in ihm, vor allem für qualitative und höhere Bildung, mögliche Hürden (Giesinger 2007: 366). Allerdings könnte der finanzielle Aspekt, mit Blick auf das kostenfreie deutsche öffentliche Schulsystem und die Kindertageseinrichtungen (Gosepath 2017: 45), zu bewältigen sein. Vielmehr scheint die primäre Bildung der Schülerinnen und Schüler in ihrer Umwelt weder vor Schulbeginn als noch während der Schullaufbahn Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit zu ermöglichen. Schülerinnen und Schüler mit gleichen natürlichen Begabungen, aber unterschiedlichen sozialen Herkünften, weisen differente primäre Bildung auf, welche sich auch auf den Bildungserfolg auswirkt (Giesinger 2007: 368). Damit wird auf einen weiteren zentralen Aspekt der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit verwiesen: die Familie.
2.2.5 Familiäre Unabdingbarkeit im Kontext der Chancengleichheit
Vielfach wird der Spielraum der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit lediglich auf die Institution Schule reduziert, sodass differenzierte, weitere Aspekte und Bereiche einschließende Perspektiven vermieden werden (Gosepath 2017: 45). Beispielhaft werden Zugänge zu Bildungsinstitutionen oder auch bereitgestellte Materialien als repräsentativ für Bildungsgerechtigkeit im Sinne gleicher Chancen erachtet. Doch erscheint Chancengleichheit aus dieser Perspektive als Fiktion, insofern Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien trotz bestehender Chancengleichheit in Form von Zugängen zu jeglichen Bildungsinstitutionen eher dazu neigen werden, diese Zugänge zu vermeiden (Stojanov 2011: 33). Denn Entscheidungen der Familien, wie die der Schulzuweisung, unterliegen, der Rational-Choice-Theorie von Müller & Pollak (2004) zufolge, drei Komponenten: Bildungskosten, Bildungsertrag sowie Wahrscheinlichkeit auf Erfolg (Vester 2013: 97).
Daraus resultiert, dass sozial schwache Familien eher den sicheren und risikoarmen Weg einschlagen, um mögliche Schwierigkeiten, die nicht tatsächlich einzutreffen haben, zu vermeiden (ebd.). Daher darf im Kontext der Bildungsgerechtigkeit nicht nur die Institution Schule betrachtet werden, sondern es müssen in gleicher Weise auch familiäre und soziale Gegebenheiten der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden (Stojanov 2011: 33; Gosepath 2017: 45). Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit, die den Bereich der Familie schätzt und das Recht der Erziehung und Bildung wahrt wie auch respektiert, aber die Familie außen vorlässt, spiegele nur eine Vision wider, die keiner Realität entspreche (Giesinger 2007: 374).
Gosepath (2017) spricht von ungleichen Startbedingungen, allgemein als faire Chancengleichheit, und Giesinger beschreibt diesen Sachverhalt als primäre Bildung. Daraus resultiert, dass Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit keinesfalls an sozialen Benachteiligungen und familiären Hintergründen scheitern darf (Giesinger 2007: 369).
Deswegen müssten derartige Gegebenheiten ausgeglichen und neutralisiert werden (ebd.; Gosepath 2017: 52 f.) Giesinger spricht im Kontext der Neutralisierung von Bildungs-Chancengleichheit (Giesinger 2007: 369) und ist mit Gosepath (2017) gemeinsam der Ansicht, dass die Beseitigung von sozialen Ungleichheiten nicht zwingend Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit entstehen lässt. Insofern müssen im Kontext der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit auch Faktoren berücksichtigt werden, für die die Schülerinnen und Schüler per se keine Verantwortung tragen können, so dass sie wegen dieser Faktoren auch nicht benachteiligt werden dürften. Giesinger zufolge zählen zu diesen Faktoren natürliche Talente oder der Mangel an natürlichen Talenten, die sich in Form von Behinderungen oder beispielsweise auch Lernschwächen ausdrücken können (Giesinger 2007: 370). Gosepath spricht von Schicksal, Glück oder auch Pech und von Faktoren, die unverdient den entsprechenden Umständen vor der Zeit der Schülerinnen und Schüler geschuldet sind (Gosepath 2017: 53). Die Hinzunahme dieser Bedingungen und Faktoren wird als substanzielle Chancengleichheit bezeichnet (ebd.).
2.2.6 Begabungsgerechtigkeit im Kontext der Chancengleichheit
Aus der Berücksichtigung von unverschuldeten Faktoren lässt sich zweierlei schließen: Auf der einen Seite wird deutlich, dass zwar soziale Benachteiligungen im Kontext der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit wahrgenommen werden und sich Ansätze und Reformen für eine Verbesserung diesbezüglich erkennen lassen, während natürliche Faktoren ungeachtet ihrer Effektivität keiner Reform zu unterliegen scheinen (Giesinger 2007: 370), obwohl beide Ungleichheiten derselben Begründung unterliegen: die Schülerinnen und Schüler sind von jeglicher Verantwortung freizusprechen (ebd.; Gosepath 2007: 53)
Mit Stojanov (2013) kann gegen Giesingers (2007) These, natürliche Faktoren seien stimmlos (Giesinger 2007: 370) vorgebracht werden, dass auch natürliche Faktoren großes Interesse in der Öffentlichkeit genießen, insofern sie als mögliche Gerechtigkeitsnorm im Kontext der Chancengleichheit diskutiert werden (Stojanov 2013: 58 ff.). Dementsprechend ziele eine Begabungsgerechtigkeit darauf ab, die Verteilung der Güter, beispielsweise Zeugnisse oder Ressourcen, nicht den Herkünften, sondern den genetischen und natürlichen Voraussetzungen entsprechend zu organisieren (ebd.). Auf diese Weise entstünden wiederum Kategorisierungen zwischen natürlich Begabten und natürlich Unbegabten. Diese Theorie impliziere sogar weit mehr als nur Kategorisierungen, sodass Stojanov (2013) dieses Unterfangen als ideologisch etikettiert (ebd.: 58 f.). Ferner klaffe die Theorie der Begabungsgerechtigkeit gegenüber dem Prinzip der Verantwortung auseinander, da die Schülerinnen und Schüler für ihre natürlichen Veranlagungen nicht verantwortlich gemacht werden dürften.
Viel wichtiger scheine jedoch die Tatsache, dass auf diese Weise Schülerinnen und Schüler von Beginn an sortiert, vermutlich sogar abgestempelt und dementsprechend unterrichtet werden. In der Folge verblieben natürlich Unbegabte oder auch natürlich Nichtbegabte in ihren Gruppen, da mögliche Entwicklungen und Entfaltungen von vornherein ausgeschlossen werden. Jedoch sehe gerade die dynamisch-prozessuale Auffassung von Begabungen vor, dass Begabungen keinesfalls durch die Geburt bestimmt werden, sondern durch soziale Erfahrungen weiterentwickelt werden können. Insofern kann der Schule im Hinblick der Entwicklung von Begabungen eine zentrale Rolle zugeschrieben werden (ebd.).
Nichtsdestoweniger scheint aber eine Begabungsgerechtigkeit am ehesten dem meritokratischen Prinzip, dass allein der Fleiß und die Bemühungen der Schülerinnen und Schüler zum Weiterkommen entscheiden, zu entsprechen. Deswegen spricht Fend im Kontext der Begabungsgerechtigkeit auch von einer bedingten Chancengleichheit, die eben nur unter bestimmten Voraussetzungen eintreffen könne (Fend 2009: 39). Entsprechend beschreibt schon die bedingte Wahrscheinlichkeit in der Mathematik die Tatsache, dass ein bestimmtes Ereignis nur unter der Voraussetzung eines anderen Ereignisses eintreten kann. Wenn also die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler ausbleibt, zerfällt auch vermutlich das Konzept der bedingten Chancengleichheit (ebd.).
Auf der anderen Seite vermag der Aspekt der natürlichen Faktoren jedoch einen Widerspruch zu erzeugen. Die formale Chancengleichheit, die auf dem Leistungs- und Verdienstprinzip beruht, erweist sich als haltlos, wenn angenommen und auch akzeptiert werden darf, dass natürliche Faktoren genau wie soziale Umstände lediglich die Verteilung von Gütern, wie beispielsweise Zeugnisse oder Ressourcen, beeinflussen. Dadurch löst sich das Leistungs- und Verdienstprinzip auf, da die Schülerinnen und Schüler niemals ihre Leistungen und Verdienste vollständig als eigene bezeichnen dürfen, zumal die Schülerinnen und Schüler durch die Güterverteilung beeinflusst werden und sich somit auch nur zufällig in ihrer jeweiligen Position gefunden haben (Gosepath 2017: 53). Diese Verteilung der Güter nach dem Leistungs- und Verdienstprinzip ähnele eher einer Lotterie, die nur mit dem richtigen Los zu gewinnen sei. Andernfalls ist das Individuum der Laune des Schicksals überlassen (Pechar 2017: 81). Insofern wird Chancengleichheit laut Gosepath lediglich suggeriert und verfalle zeitgleich mit dem Leistungs- und Verdienstprinzip (Gosepath 2017: 53).
2.2.7 Verteilungsgerechtigkeit im Kontext Chancengleichheit
Generell erweist sich Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit, ermöglicht durch eine Verteilungsgerechtigkeit, als unbrauchbar. Eine Verteilung impliziert in der Folge einen Besitz. So kann unter bestimmten Individuen beispielsweise Geld fair verteilt werden, sodass am Ende jedes Individuum eine bestimmte Menge an Geld in seinen Besitz nimmt. Dasselbe Prinzip droht allerdings zu scheitern, wenn es auf Bildung übertragen wird (Giesinger 2007: 367), zumal Bildung kein Gut darstellt und somit auch nicht verteilt werden könne (Stojanov 2013: 62).
Bildung beschreibe vielmehr einen Prozess der Entwicklung individueller Autonomie und Selbstbestimmung (ebd.). Selbstverständlich verlangt sodann dieser Prozess der Entwicklung Mittel und Ressourcen, beispielsweise Lehrkräfte oder Bücher, um die Entwicklung bestmöglich gewährleisten zu können. Daher vermöge Bildung an sich kein Gut darzustellen, ihre Umsetzung und Förderung hänge jedoch von materiellen Gütern ab. Insofern sollen diese materiellen Güter im Sinne des Rawls’schen Prinzips der Besserstellung fair verteilt werden, sodass Schülerinnen und Schüler, die durch ihre Herkunft oder ähnliches benachteiligt werden, mehr Mittel und Ressourcen erhalten sollten (ebd. 62 f.).
Es stellt sich nun die Frage, ob durch eine faire Verteilung der vorbezeichneten Art Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit hergestellt werden kann. Eine Chance, wie die der fairen Verteilung von Gütern, kann von den Schülerinnen und Schülern ergriffen, aber auch verworfen werden. Somit werden den Schülerinnen und Schülern lediglich Möglichkeiten eröffnet, ohne ihren Gebrauch erzwingen zu können (Giesinger 2007: 364). Unterliegen Chancen aber einer Entscheidung (ebd.), kann das Ergreifen oder auch das Verwerfen der Güter den Schülerinnen und Schülern angelastet werden. Schließlich fällt eine allgemeine Verteilungsgerechtigkeit im Sinne der Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit in sich zusammen, da Schülerinnen und Schüler einerseits, Stojanov zufolge unmündig und dementsprechend jeglicher Verantwortung zu entziehen sind (Stojanov 2011: 37). Anderseits umhülle die faire Verteilung von Gütern und die damit erzielte Chance lediglich bestehende Benachteiligungen, sodass sie doch unfair und der Bildungsgerechtigkeit nicht entsprechend sei, weil zwar die Chance für alle Schülerinnen und Schüler augenscheinlich ermöglicht, der Zugang zu dieser Chance jedoch durch ungleiche Hindernisse weiterhin moderiert werde (Giesinger 2007: 366).
2.2.8 Zwischenfazit
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die gewünschte Bildungsgerechtigkeit durch Chancengleichheit nicht erreicht werden kann. Jegliche Versuche, gleiche Chancen zu ermöglichen, stehen trotz vielversprechender Argumente früher oder später vor Hürden und Schwierigkeiten, die ihnen die Grundlage entziehen. Diese Tatsache bestätigt nochmals die eingangs erwähnte schwierige Greifbarkeit des Begriffs der Bildungsgerechtigkeit (Thieme 2013: 161; Dietrich, Heine & Thieme 2013: 22).
Daher kann es sich anbieten, Bildungsgerechtigkeit mit Hilfe alternativer Modelle zu konzipieren. Einen derartigen Versuch mag die Anerkennungstheorie bieten.
2.3 Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungstheorie
Bildungsgerechtigkeit durch Chancengleichheit zu schaffen, provozierte immer wieder den Versuch, bestehende Ungleichheiten zugunsten der Benachteiligten auszugleichen und nach Möglichkeit aufzuheben. Fokussiert werden in diesem Sinne Prozesse und Ebenen, die schnellstmöglich dem Ziel entsprechend zu verändern sind: Umverteilung von Gütern, gleichberechtigte Zugänge, Einbezug vorschulischer Gegebenheiten, Etablierung eines allgemeinen Bildungsniveaus oder auch die Vermeidung von Diskriminierungen und Stigmatisierungen (Stojanov 2011: 40). Diese Aufzählung könnte fortgeführt werden. Doch setzen alle diese Maßnahmen überwiegend an äußerlichen Bedingungen an. Gleichwohl sollen diese Maßnahmen nicht abgewertet als vielmehr dazu genutzt werden, um die Idee einer Anerkennungstheorie im Sinne der Bildungsgerechtigkeit zu entwickeln.
2.3.1 Anerkennungstheorie durch interpersonelle Wahrnehmung
Die sogenannte Anerkennungstheorie zielt darauf ab, interne Prozesse zwischenmenschlicher und sozialer Beziehungen zu festigen (ebd.).
Der Begriff der Anerkennung selbst beschreibt eigentlich das Arbeitsfeld der Bildungsgerechtigkeit und drückt mit Verweis auf die schon ausführlich beschriebenen möglichen Praktiken einer Bildungsgerechtigkeit als Chancengleichheit die fehlende Anerkennung im Bildungswesen aus. Menschen im Allgemeinen und Schülerinnen und Schüler im Besonderen werden durch Anerkennung nicht nur in ihren individuellen Eigenschaften, beispielsweise als Muslimin oder protestantischer Professorensohn, anerkannt, sondern auch in diesen Eigenschaften positiv bestätigt (Iser 2011: 12). Daraus resultieren wiederum unweigerlich bestimmte Haltungen und Handlungen gegenüber der anerkannten Person, die schließlich Ausdruck von Gleichberechtigung sind (ebd.). Im engeren Sinne, übertragen auf die Institution Schule, werden Schülerinnen und Schüler auf äußerliche Faktoren reduziert, sodass sie nicht individuell wahrgenommen werden und sich Anerkennung nicht vollziehen kann. In der Folge führt fehlende Anerkennung, die durch jegliche Ungerechtigkeiten produziert wird (ebd.: 26), zu einer einseitigen Betrachtung des Menschen und erschwert oder verhindert gar dessen Entwicklung und Entfaltung (ebd.: 12 f.), die ein Leben mit normalen Standards ermöglichen können.
Die Anerkennungstheorie stützt sich auf die Annahme, dass Schülerinnen und Schüler durch Bildung zu autonomen und selbstbestimmten Individuen heranwachsen (Stojanov 2013: 63). Insofern sollen die Anerkennungsformen der Liebe bzw. Empathie, des moralischen Respekts sowie der sozialen Wertschätzung gefestigt und an Qualität innerhalb der Institution Schule gewinnen (ebd.: 64; Stojanov 2011: 41).
Durch die Empathie sollen sich Schülerinnen und Schüler in andere Standpunkte hineinversetzen können, um auf diese Weise die verschiedenen Perspektiven verstehen und nachvollziehen zu können (Stojanov 2013: 64). Diese Empathie benötigt wiederum Formen des Respekts (Albus 2016:4), um einsehen zu können, dass alle Menschen gleichgestellt sind und somit auch über die gleichen Rechte verfügen (Stojanov 2013: 64). Mit sozialer Wertschätzung, die eine Art Synthese zwischen der Empathie und dem Respekt darstellen soll, sollen die Schülerinnen und Schüler, Stojanov (2013) zufolge, ihre eigenen, ganz persönlichen und individuellen Fähig- und Fertigkeiten so verstehen und umsetzen, dass sie eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen können (ebd.).
Wenn diese Formen der Anerkennung institutionalisiert und Maßstab für pädagogisches Handeln werden und somit die Schülerinnen und Schüler ausreichend Erfahrungen mit diesen Formen sammeln können, kann ein großer Schritt in Richtung Bildungsgerechtigkeit getan werden. Denn zeichne sich Bildungsgerechtigkeit nicht durch fehlende materielle oder finanzielle Güter aus. Bildungsgerechtigkeit entstehe dort, wo Schülerinnen und Schüler aufgrund von sozialen und familiären Bedingungen limitiert und in der Folge auch durch Güterumverteilungen positiv diskriminiert werden (ebd.; Stojanov 2011: 30). Außerdem beschränken und missachten diese essentialistisch verstandenen Zuordnungen die Würde der Schülerinnen und Schüler (Stojanov 2013: 67).
Daher können die Formen der Anerkennung dazu dienen, festgeschriebene Kategorisierungen und die in der Folge entstandenen Limitierungen aufzubrechen. Diese Überwindung, so Stojanov, bilde die Voraussetzung für eine politisch-partizipatorische Gleichheit aller Schülerinnen und Schüler (Stojanov 2011: 44). Bildungsgerechtigkeit sei wiederum dann erreicht, wenn sie eine Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung und Reproduktion dieser Partizipation darstellt (ebd.).
2.3.2 Zwischenfazit
Inwieweit sich der Ansatz der Anerkennung umsetzten lässt, bleibt offen. Aber der Begriff der Toleranz mag eine mögliche Antwort liefern. Toleranz als Begriff fasst schon Formen des Respekts, der Akzeptanz sowie der Anerkennung in sich zusammen. Das Postulat der Toleranz ist kaum angreifbar (Albus 2016: 3). Für ihre Umsetzbarkeit scheint dies weniger der Fall zu sein: „Toleranz, die leichtfällt, ist keine“ (Hastedt 2012, zit. in Albus 2016: 3).
2.4 Bildungsgerechtigkeit als Chancengerechtigkeit
Die These, dass in den reichen Gesellschaften, beispielsweise in Deutschland, das Maß an Chancengerechtigkeit in der Bildung noch nie so hoch war wie heute, mag gewagt klingen. Der Zusatz, dass aber in gleicher Weise auch die Aufmerksamkeit für die verbleibenden, in Folge von Chancengerechtigkeit übersehenen Ungerechtigkeiten noch nie so groß war wie heute, unter anderem belegt durch internationale Vergleichsstudien, misst der These wiederum einen relativ hohen Anspruch an Realität zu (Pechar 2017: 78).
Mit diesem Paradoxon versucht Pechar (2017) die Tatsache fehlender Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem zu beleuchten und verweist ferner auf den Umstand, dass zwar durch diverse Reformen mehr Chancengerechtigkeit erzielt wurde, aber nicht alle Schülerinnen und Schüler davon profitieren konnten (ebd.). Chancengleichheit an sich ist Pechar zufolge zu vage hinsichtlich der Ziele (ebd.: 80). Bildungsgerechtigkeit beziehe sich durch den Zusatz der Gerechtigkeit auf bestehende Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten und greife sie auf. Doch werde der Begriff der Gerechtigkeit überflüssig, wenn mit Bildungsgerechtigkeit strikte Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit praktiziert würde (ebd.). So sollten nicht allen Schülerinnen und Schülern gleiche Chancen, sondern allen Schülerinnen und Schülern gerechte Chancen offeriert werden, um das Prokrustesbett (siehe oben, S. 9) zu meiden. Daher verwendet Pechar (2017) im Kontext der Bildungsgerechtigkeit den Begriff der Chancengerechtigkeit und versucht damit weniger als es im Begriff der Chancengleichheit angelegt ist, Bildungsgerechtigkeit durch Modelle und Theorien zu ermöglichen, sondern greift Bildungsgerechtigkeit aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive auf und skizziert mit Rückgriff auf Boudon (1974) die Idee einer möglichen Chancengerechtigkeit und setzt die Chancengerechtigkeit überwiegend in den vorschulischen Bereich (Pechar 2017: 82 ff.).
2.4.1 Primäre und sekundäre Herkunftseffekte nach Boudon
Boudon ging (1974) von primären und sekundären Herkunftseffekten aus (Becker 2016: 167 ff.). Primäre Herkunftseffekte beschreiben die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen Herkunft ungleich auf Schultypen verteilt werden und in der Folge auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft unterschiedliche Ausstattungen, Fähig- und Fertigkeiten, unter anderem bedingt durch die Erziehung und Förderung im Elternhaus, die in der Schule vorteilhaft sein können, mitbringen. Bildungsentscheidungen des Elternhauses zum Übergang in die Sekundarstufe I stellen wiederum sekundäre Herkunftseffekte dar (ebd.; Pechar 2017: 82). Wie erwähnt (siehe oben, S. 15), unterliegen diese Bildungsentscheidungen drei Komponenten: Bildungskosten, Bildungsertrag sowie die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg (Vester 2013: 97). Wird dem gefolgt, fällt die Bildungslaufbahn ‚statusbesser‘ aus, wenn auch der soziale Status des Elternhauses entsprechend hoch ist (Becker 2016: 171).
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- Quote paper
- Anonymous,, 2019, Bildungsgerechtigkeit als Motiv für Schulstrukturentwicklung anhand der Gesamtschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/542390
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