Wordsworths Werke beschreiben eindringlich und gefühlsbetont die Schönheit der Natur, den Reichtum, den dieses Gefüge zu bieten vermag sowie die Beziehung zwischen dem Individuum und der Natur. Im Mittelpunkt steht in dieser Arbeit nicht die objektive Wiedergabe der Landschaft, sondern vielmehr das individuelle, kontemplative Erleben der Natur, das William Wordsworth auf eine eindrucksvolle Art und Weise in seinen Werken schildert. Die Faszination, die diese ausstrahlen aufgrund ihrer weiterhin andauernden Aktualität und der intensiven und berührenden Illustration der Schönheit und Erhabenheit der Natur ist die Grundlage dieser Arbeit, deren Ziel darauf liegt, das vielschichtige Konzept sowie die außergewöhnliche und expressive Beschreibung und Darstellung in den Dichtungen Wordsworths zu analysieren und zu bewerten.
William Wordsworths kann als einer der herausragendsten und bedeutendsten Dichter der englischen Romantik angesehen werden sowie als einer der einflussreichsten „poets of nature“. Seine Werke zeugen von einer ausdrucksstarken und verehrenden Darstellung des natürlichen Lebensraumes und der ihm innewohnenden Formen und Lebewesen; obwohl diese Werke vor mehr als 200 Jahren veröffentlicht wurden, haben die darin formulierten Auffassungen und Leitgedanken, insbesondere in der heutigen Zeit der Verstädterung, wachsender Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Umweltverschmutzung an Aktualität und Brisanz nichts eingebüßt, sondern können selbst im 21. Jahrhundert als Grundlage für ein naturbewusstes, achtsames Verhalten der Natur gegenüber gelten.
Durch die Analyse und Deutung ausgewählter Zeilen und Metaphorik anhand eigener Untersuchungen und in Verbindung mit Aussagen entsprechender Sekundärliteratur betrachtet die Arbeit Wordsworths Annäherung an die Natur sowie seine Methodik, die Dimensionen und Bestandteile des natürlichen Lebensraumes zu beschreiben.
Der Hauptteil der Arbeit ist der Analyse der Naturdarstellung und des besonderen Naturerlebens in den Werken William Wordsworth gewidmet. Da die Darstellung und das Erleben der Natur in den Werken des Dichters äußerst komplexe, vielschichtige Abläufe markieren, wird zunächst auf die Bedeutung eingegangen, die die Natur für Wordsworth aufweist. Im weiteren Verlauf werden sowohl die Potenziale, Kräfte und Funktionen, die der Dichter der Natur zuschreibt, betrachtet wie auch die in vielen Werken Wordsworths angelegte Kontrastierung von Natur und menschlicher Zivilisation und Kultur.
Inhaltsverzeichnis
1. Einf ührung
2. Kulturgeschichtlicher Kontext
3. Der sich ver ändernde Naturbegriff der englischen Lyrik
3. 1. Die Natur und deren dichterische Darstellung im Neoklassizismus
3.2. Der Naturbegriff und die Darstellung der Natur in der Romantik
3.3. Die romantische Natur bei William Wordsworth
4. Das Naturerlebnis bei William Wordsworth
4.1. Die Beziehung zwischen Dichter und Natur
4.2. Das Verhältnis der Natur zu Kultur und Gesellschaft
4.3. Die göttlich-spirituelle Kraft der Natur
4.4. Die Natur als Lehrmeister und Quelle der Wahrheit
4.5. Das Erhabene und Schöne in der Natur
4.6. Die Geräusche und Klänge der Natur
4.7. Die astrale Symbolik in den Werken Wordsworths
4.8. Das Naturerlebnis in Form, Stil und Bildsprachlichkeit
5. Der Einfluss der Naturdarstellungen Wordsworths auf nachfolgende Dichtergenerationen
5.1. Dier Auswirkungen auf die romantischen Dichter der zweiten Generation
5.2. Die Auswirkungen auf die Dichter des viktorianischen Zeitalters
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einf ührung
William Wordsworths kann zweifelsohne als einer der herausragendsten und bedeu-tendsten Dichter der englischen Romantik angesehen werden 1 sowie als einer der ein-flussreichsten „poets of nature“ 2. Seine Werke zeugen von einer ausdrucksstarken und verehrenden Darstellung des natürlichen Lebensraumes und der ihm innewohnenden Formen und Lebewesen; obwohl diese Werke bereits vor mehr als 200 Jahren veröf-fentlicht wurden, haben die darin formulierten Auffassungen und Leitgedanken, insbe-sondere in der heutigen Zeit der Verstädterung, wachsender Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Umweltverschmutzung an Aktualität und Brisanz nichts eingebüßt, sondern können selbst im 21. Jahrhundert als Grundlage für ein naturbewusstes, acht-sames Verhalten der Natur gegenüber gelten.
Wordsworths Werke beschreiben eindringlich und gefühlsbetont die Schönheit der Natur, den Reichtum, den dieses Gefüge zu bieten vermag sowie die Beziehung zwischen dem Individuum und der Natur. Im Mittelpunkt steht hier, anders als im Ne-oklassizismus, nicht die objektive Wiedergabe der Landschaft, sondern vielmehr das individuelle, kontemplative Erleben der Natur, das William Wordsworth auf eine ein-drucksvolle Art und Weise in seinen Werken schildert. Die Faszination, die diese aus-strahlen aufgrund ihrer weiterhin andauernden Aktualität und der intensiven und berüh-renden Illustration der Schönheit und Erhabenheit der Natur ist die Grundlage dieser Arbeit, deren Ziel darauf liegt, das vielschichtige Konzept sowie die außergewöhnliche und expressive Beschreibung und Darstellung in den Dichtungen Wordsworths zu ana-lysieren und zu bewerten. Um einen umfassenden exemplarischen Überblick geben zu können, wurden verschiedene Werke ausgewählt, die sich sowohl in ihrer Gattung als auch im Entstehungszeitraum unterscheiden. Durch die Analyse und Deutung ausge-wählter Zeilen und Metaphorik anhand eigener Untersuchungen und in Verbindung mit Aussagen entsprechender Sekundärliteratur betrachtet die Arbeit Wordsworths Annä- Timothy Clark: The Cambridge Introduction to Literature and the Environment. London: Continuum International Publishing Group, 2011, S. 15. herung an die Natur sowie seine Methodik, die Dimensionen und Bestandteile des na-türlichen Lebensraumes zu beschreiben. Um eine Einordnung in den seinerzeitigen Kontext zu gewährleisten, werden zunächst die kulturgeschichtlichen Umstände und Voraussetzungen dargelegt, die zur Herausbildung der romantischen Leitgedanken führten. Dieser Betrachtung folgt ein Überblick über die Konzeption des Naturbegriffes in der der Romantik vorrausgehen-den Epoche des Neoklassizismus sowie eine Analyse der dichterischen Darstellung der Natur anhand der Dichtung Alexander Popes, die darauf aufbauend mit dem stark ge-wandelten Naturbegriff und der lyrischen Darstellung der Natur in der Romantik ver-glichen wird.
Der Hauptteil der Arbeit ist der Analyse der Naturdarstellung und des besonde-ren Naturerlebens in den Werken William Wordsworth gewidmet. Da die Darstellung und das Erleben der Natur in den Werken des Dichters äußerst komplexe, vielschichti-ge Abläufe markieren, wird zunächst auf die Bedeutung eingegangen, die die Natur für Wordsworth aufweist. Im weiteren Verlauf werden sowohl die Potenziale, Kräfte und Funktionen, die der Dichter der Natur zuschreibt, betrachtet wie auch die in vielen Werken Wordsworths angelegte Kontrastierung von Natur und menschlicher Zivilisati-on und Kultur.
Da Wordsworth die Begegnung mit der Natur als einen multisensorischen, das Individuum ganzheitlich erfassenden Prozess behandelt, den er in seinen Werken an-hand einer imposanten figurativen Sprache und Darstellungsweise wiedergibt, bilden weitere Betrachtungsschwerpunkte die akustischen Elemente der Natur, die von Wordsworth verwendete Bildsprachlichkeit sowie die Form und der Stil der dichterischen Umsetzung des Naturerlebnisses und der Naturszenerie.
Daran anschließend wird mithilfe exemplarischer Dichtungen der nachfolgen-den Literaturepochen dokumentiert, wie in ihnen die von Wordsworth formulierten Ideen und Darstellungsweisen in Bezug auf die Natur aufgegriffen und erweitert wer-den. Den Abschluss der Arbeit bilden die Herausstellung der zentralen Untersuchungs-ergebnisse sowie die zusammenfassende Erörterung der aktuellen Relevanz des behan-delten Themas, woraus sich weitere Forschungsansätze ergeben können.
2. Kulturgeschichtlicher Kontext
Der Begriff „Romantik“ bezeichnet im kulturgeschichtlichen Sinn eine intellektuelle Strömung in den Bereichen der bildenden Kunst, Literatur, Musik und Architektur, die in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann und rund 50 Jahre andauerte. Sie war ein Zeitalter des revolutionären Aufbruchs und tiefgreifender Umwälzungen, die nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens erfassten und grundlegend veränderten; daher wird die Epoche nicht ohne Grund als „Periode des Wandels und des Umbruchs“ 3 bezeichnet.
Der Beginn der Romantik in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts fiel mit dem Ausbruch der Französischen Revolution, einem der folgenreichsten Wendepunkte der europäischen Geschichte, zusammen. Das Ende der romantischen Epoche ist in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts anzusiedeln und wird in der Fachliteratur zumeist mit dem Jahr der ersten Parlamentsreform in England, 1832, oder der Krönung Queen Victorias im Jahre 1837angegeben. 4 5
Die Epoche der Romantik war geprägt von folgenschweren sozialen, kulturel-len, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und Reformen, die nicht nur As-pekte wie die Struktur des Staates und des sozialen Gefüges von Grund auf änderten. Sie wirkten sich darüber hinaus auch in vielfältiger Weise auf das Denken und das all-tägliche Leben des Individuums aus und prägten zudem die zeitgenössische Kunst und Literatur in wesentlichem Maße. Im Hinblick auf fundamentale politische Ereignisse sind primär die Französische Revolution sowie die bereits einige Jahre früher einset-zende Amerikanische Revolution zu benennen, deren subversive Leitbilder und An-schauungen auch das Weltbild und das Gedankengut in England wie auch in großen Teilen des übrigen Europas beeinflussten und dort ebenfalls verstärkt den Ruf nach Re-formen lautwerden ließen.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist als daraus resultierende Entwicklung, die England während dieser Epoche radikal veränderte, zweifelsohne die Industrielle Revoluti on zu nennen, die den zügigen Übergang Englands von einer Agrar- zu einer kapitalis-tisch geprägten Industriegesellschaft herbeiführte und im Zuge dessen zu enormen so-zialen und gesellschaftlichen Veränderungen führte. Die Industrielle Revolution brach-te nicht nur einen drastischen Anstieg der Bevölkerung mit sich, sondern trieb zudem die Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Strukturen voran. Viele bisher im Agrarbereich tätige Arbeiter waren nun nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft zu verdienen und wanderten in Anbetracht dieser Existenzbedro-hung vom Land in die Städte ab, um Beschäftigungen in den neu errichteten Fabriken anzunehmen.
Die sich auf diese Weise wandelnde Tradition der landwirtschaftlichen Produk-tion, des Lebens auf dem Lande sowie deren weitere Auswirkungen und auch die Ver-änderungen großer Teile der Landschaft Englands, die die fortschreitende Landflucht und Industrialisierung mit sich brachte, wurden in zahlreichen zeitgenössischen literari-schen Werken wie auch Gemälden zum Ausdruck gebracht. Die Kunst John Constables beispielsweise, der von der Sehnsucht nach der intakten Landschaft getrieben wird, wird zum Ende seines Lebens zusehends unwirklich, da er spürt, dass die Einheit der von ihm beschworenen landschaftlichen Idylle im frühindustrialisierten England zer-brach.
Die Urbanisierung und die damit einhergehenden zumeist katastrophalen Le-bensumstände aufgrund von Wohnungsnot, gefährlicher und schlecht entlohnter Fab-rikarbeit und fehlender sozialer Sicherung führten zu akuten sozialen Missständen in-nerhalb der Gesellschaft Englands und zur Auflösung der bisher bestehenden sozialen Strukturen. Angesichts des zunehmenden Kommerzialismus war oft nicht mehr das In-dividuum wichtig, sondern lediglich dessen verfügbare Arbeitskraft, die es in den Fab-riken zu leisten vermochte und die damit einhergehende Erzielung eines größtmögli-chen Gewinns.
Der Einfluss und die Auswirkungen dieser Umwälzungen und sozialen Proble-me, gepaart mit dem revolutionären Gedankengut und dem Streben nach Reformen tra-ten immer deutlicher zu Tage: Wie Hühn es beschreibt, hinterließ diese Situation vor allem bei Intellektuellen, aber auch bei einfachen Bürgern, „ein tiefes Gefühl der Ent-fremdung von der staatlich-politischen Öffentlichkeit und den bestimmenden ökono- misch-sozialen Kräften“ 6. Bedingt durch die Auflösung alter Werte und Strukturen und die weitgehende Ablehnung der bestehenden Zustände wurde auch die klassizistische Werteordnung zusehends in Frage gestellt. Deren verstärkt als restriktiv empfundene, allgemeingültige und dauerhafte, auf Rationalität, Tradition und Vernunft gegründete Ordnung der Welt und des Menschen 7 verlor zu Gunsten revolutionärer Auffassungen und einer Betonung der Subjektivität und des individuellen gefühlsbegleiteten Erlebens zunehmend ihre Existenzberechtigung .
Das Zeitalter der Romantik entwickelte sich somit zur intellektuellen und kultu-rellen Gegenbewegung der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Neoklassizis-mus postulierten Weltordnung und versuchte, mit einer Hinwendung zu Subjektivität, Impulsivität und Ehrerbietung des Natürlichen auf die mannigfaltigen Einflüsse und Veränderungen zu reagieren.
3. Der sich ver ändernde Naturbegriff der englischen Lyrik
3.1. Die Natur und deren dichterische Darstellung im Neoklassizismus
Während das Zeitalter zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den ersten drei Dekaden des 19. Jahrhunderts als Epoche der Romantik bezeichnet wird, werden der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im kultur- und literaturwissenschaftlichen Kontext die Bezeichnungen „Aufklärung“ und „Neoklassizismus“ zugeordnet. Wie Neumann ausführt, bezieht sich „Aufklärung“, beziehungsweise das englische Äquivalent „En-lightenment“ auf die sich zu dieser Zeit vollziehenden Fortschritte in zahlreichen wis-senschaftlichen Disziplinen sowie auf die Betonung von Ordnung, Rationalität und der Vernunft als Maßstab aller Dinge, wohingegen sich „Neoklassizismus“ primär auf die starke Popularität klassischer Ordnungen und Maßstäbe der Antike bezieht. 8
Diese vorherrschenden Leitbilder der der Romantik vorangegangenen Epoche spiegelten sich nicht nur in der zeitgenössischen Lyrik wider; sie wurden auch in der Beschreibung und Darstellung der Natur und den Eigenschaften und Vorstellungen, die mit diesem Gefüge verbunden wurden, zum Ausdruck gebracht. Die Vorstellung des-sen, was im Neoklassizismus unter dem Begriff „nature“ verstanden wurde, wird vor allem in den Werken Alexander Popes, einem Hauptvertreter dieser Epoche, deutlich. In seinem 1709 verfassten richtungsweisenden, in Versform gehaltenen „An Essay on Criticism“ werden einige essentielle Standpunkte, die für diese Periode kennzeichnend waren, erkennbar und können mit seiner Auffassung der Natur in Verbindung gebracht werden. Hühn merkt an, dass die im Neoklassizismus postulierte „Vorstellung, daß die Natur eine universelle, allgemeingültige und unveränderliche Ordnung repräsentiere“ 9, in Popes Aufsatz insbesondere in den folgenden Zeilen ersichtlich wird:
First follow NATURE, and your Judgment frame By her just Standard, which is still the same:
Unerring Nature, still divinely bright, One clear, unchang'd and Universal Light, Life, Force, and Beauty, must to all impart, At once the Source, and End, and Test of Art (Teil I, Z. 68-73)
Es ist offenkundig, dass die Natur weniger mit der nicht vom Menschen geschaffenen Welt und der Landschaft gleichgesetzt wird, sondern vielmehr zu einem alle irdischen und kosmischen Formen des Daseins umfassenden Ordnungsprinzip 10 erhoben wurde. Die Assoziierung der Natur mit den Bezeichnungen „Judgement frame“, „just Stan-dard“ und „unerring“ zeugt von der Perfektion, Universalität und Beständigkeit der durch die Natur verkörperten Wirklichkeitsordnung und lässt die Natur darüber hinaus als objektiven, absoluten und unfehlbaren Maßstab aller Dinge fungieren. Auch die Beschreibung der Natur als „clear, unchang’d and Universal Light“ (Z.71) demonstriert die Bedeutsamkeit der Natur, ihrer zeitlos überdauernden Wahrheiten und Gesetze, de-nen alle Formen des Seins unterliegen.
Weiterhin betont Pope die Stellung der Natur im Hinblick auf die Kunst, indem er sie als “Source, and End, and Test of Art“ (Z.73) beschreibt und somit die Natur und deren omnipräsentes, profundes und auf Objektivität gegründetes Ordnungssystem als Quelle und Initiator der Kunst ansieht und die Kunst folglich, wie Reinfandt es aus- drückt, „im Zeichen der Natur“ 11 sieht. Der stark von Objektivität, Methodik und Rati-onalität geprägte Naturbegriff und die daraus abgeleiteten überdauernden Maßstäbe werden auch in den folgenden Zeilen erkennbar:
Those RULES of old discover'd, not devis'd, Are Nature still, but Nature Methodiz'd; Nature, like Liberty, is but restrain'd By the same Laws which first herself ordain'd. Hear how learn'd Greece her useful Rules indites,
When to repress, and when indulge our Flights:
High on Parnassus' Top her Sons she show'd, […] Learn hence for Ancient Rules a just Esteem; To copy Nature is to copy Them. (Teil I, Z. 88-93; Z. 139f.)
Bei Pope findet sich keine individuelle Auseinandersetzung mit der Natur, stattdessen verweist er auf “those RULES of old discover’d” und demgemäß auf traditionelle, be-reits in der Antike entwickelte und als allgemeingültig angesehene Formen und Maß-stäbe der Naturdarstellung, die im Neoklassizismus wieder an Bedeutung gewannen und die Anschauung und Wiedergabe der Natur prägten.
Wie in den betrachteten Zeilen zu erkennen ist, korreliert Popes Auffassung von Natur hoch mit denen der Wahrhaftigkeit, objektiver Wirklichkeit und Vernunft. Auf diese Weise formt und postuliert er ein ausgeprägtes normatives Bild der Natur, das in seiner als zeitloser Maßstab betrachteten Perfektion auch eine gewisse Unveränderlich-keit und Starrheit aufweist und keinen Raum für individuelle Erfahrungen und Reflexi-onen bietet. Dies wird auch in Popes Darstellung der Natur sichtbar:
Learn hence for Ancient Rules a just Esteem; To copy Nature is to copy Them. (Teil I, Z. 139f.)
Anstelle einer persönlichen Reflexion oder einer subjektiv-emotionalen Auseinander-setzung mit der Natur bezieht sich der Dichter bei der Beschreibung der Natur auf die bereits in der Antike entstandenen Vorstellungen von Natur und Wirklichkeit, da, wie Christoph Reinfandt: Englische Romantik. Eine Einf ührung. Grundlagen der Anglistik und Amerika-nistik, 32. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co., 2008, S. 35.
Pope es formuliert, es die Aufgabe und die Pflicht der Kunst und des Dichters sind, die Natur und die ihr zugrundeliegenden Regeln und Ordnungen exakt kopierend und folg-lich in einer nachahmenden Weise wiederzugeben.
Diese in der neoklassizistischen Epoche vorherrschende, der Mimetik folgenden künstlerische Auseinandersetzung wird auch in Popes 1713 veröffentlichtem Gedicht „Windsor Forest“ ersichtlich, das unverkennbar die nach antiken Leitbildern definierte, normative Auffassung von der Natur aufnimmt. Die einführende Beschreibung der Landschaft (Z. 1-32), die Schloss Windsor umgibt, folgt dem in Popes „Essay on Criti-cism“ propagierten Naturbegriff und kann als exemplarisch für die neoklassizistische Betrachtung und Darstellung der Natur angesehen werden.
In „Windsor Forest“ wird die Natur und die landschaftliche Umgebung stilisiert dargestellt; auffällig sind zudem einige vorhandene Referenzen zur griechischen und römischen Antike. Pope bezieht sich beispielsweise auf „Olympus“ (Z.33), den Berg der Götter, auf „Pan“, „Pomona“, „Flora“ und „Ceres“ (Z. 37-39), um mittels dieser Rückgriffe die umfassende Ordnung der Natur und deren historisch ableitbare Geltung darzustellen, während subjektive, unmittelbare Naturerfahrungen und eine individuelle Beschäftigung mit der Natur kaum stattfinden.
3.2. Der Naturbegriff und die Darstellung der Natur in der Romantik
Anders als im Neoklassizismus, wo unter dem Begriff „nature“ zumeist ein allumfas-sendes, auf Ratio, Ordnung und antiken Maßstäben basierendes Ordnungssystem, dem auch der Mensch angehörte 12 betrachtet wurde, sah man Natur in der Romantik, wie Luke es adäquat formuliert, bedingt durch die damaligen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen der Epoche als „vast realm […] of the uncontrolled wild non-human activity“ 13 und somit als vom Menschen abgegrenzte, urwüchsige und unver-dorbene Sphäre.
Da der Übergang zwischen Neoklassizismus und Romantik in literarischer Hin-sicht über zahlreiche Zwischenstufen verlief, finden sich bereits vor der Mitte des 18.
Jahrhunderts in der zeitgenössischen Lyrik Elemente, die von den damals gültigen ne-oklassizistischen Anschauungen abwichen und stattdessen auf die spätere Romantik vorgriffen. Dies lässt sich auch in Hinblick auf die Begriffsdefinierung und Darstellung der Natur beobachten: So finden sich in den Werken von Thomas Gray, einem Vertre-ter des Neoklassizismus, zwar typische klassizistische Elemente, jedoch unterscheiden sich seine Auffassung und Darstellung teilweise von der vorangehend beschriebenen diesbezüglichen Betrachtung und lyrischen Umsetzung Popes und weisen im Gegen-satz dazu erkennbare Charakteristiken auf, die in der nachfolgenden romantischen Epo-che zentrale Bedeutung erlangen werden. Grays 1751 publiziertes Gedicht „Elegy Written in a Country Churchyard“ beispielsweise zeugt nicht nur durch den gewählten ländlichen Schauplatz von einem verstärkten Interesse am Natürlichen, Unberührten und Einfachen, sondern sieht Natur darüber hinaus nicht mehr im neoklassizistischen Sinne als übergeordneten Maßstab aller Dinge. Vielmehr kommen bei Gray Tendenzen zum Tragen, die die Natur als vom urbanisierten Leben abgewandten Bereich erschei-nen lassen. Auch die Beschreibung der Landschaft und der Umgebung wirkt, insbeson-dere in den ersten drei Strophen des Gedichts, bedeutend weniger stilisiert als in Popes Landschaftsgedicht „Windsor Forest“.
Diese sich zum Ende des Neoklassizismus abzeichnende Entwicklung in Rich-tung einer subjektiveren Art der dichterischen Darstellung und einer wachsenden Hin-wendung zu Natürlichkeit und dem Leben auf dem Land findet sich auch in verstärkter Ausprägung in den Werken William Blakes. Diese können laut Hühn der Früh- oder Vor-Romantik zugeordnet werden 14 und leiten den Übergang von Neoklassizismus zu Romantik ein und die damit verbundene Herausbildung der für die romantische Epoche kennzeichnenden Merkmale und Themenschwerpunkte.
In Blakes 1789 erschienenem Gedicht „Night“ findet sich eine Tendenz hin zu einer neuartigen Bildsprachlichkeit und Subjektivität, anhand deren er die Natur und die Landschaft dichterisch wiedergibt.
The sun descending in the west, The evening star does shine; The birds are silent in their nest.
And I must seek for mine. The moon, like a flower In heaven’s high bower, With silent delight Sits and smiles on the night. (Z. 1-8)
In dieser einleitenden Strophe zeichnet sich ein erkennbarer Kontrast zu der Darstel-lung und Beschreibung der Landschaft und der Natur in den neoklassizistischen Wer-ken Popes ab und auch Blakes Vorstellung von der Natur unterscheidet sich offensicht-lich von dem Naturbegriff Popes. Es scheint, als assoziiere Blake mit der Natur einen friedlichen, menschenfernen und urwüchsigen Lebensraum, der seine eigene, von der menschlichen Zivilisation unabhängige Existenzberechtigung und in sich geschlossene Sinnhaftigkeit erhält.
Blake beschreibt in diesem Gedicht den außermenschlichen Lebensraum als harmonisches Gefüge, in dem Tiere und andere Formen organischen Lebens fernab der Kräfte und Zwänge der Gesellschaft und der Probleme der Epoche koexistieren. Anstatt explizit Formen menschlichen Lebens und gesellschaftliche Gegebenheiten zu themati-sieren, spricht der Dichter vielmehr den Formen der Natur menschliche Eigenschaften zu, indem er beispielsweise den am Himmelszelt „sitzenden“ Mond auf die Erde „her-abschauen“ lässt (Z. 5-8) oder die Vögel „warm zugedeckt“, ähnlich wie Menschen in ihrem Bett, ihr Nachtlager in einem Nest finden (Z. 18). Dies verdeutlicht zum einen die autonome Existenz, die Blake der Schöpfung und ihren Lebewesen zuspricht, zum anderen zeugt es von einer gewissen Erhöhung und Huldigung dieser natürlichen, ein-fachen Lebensformen.
Die in Blakes Gedicht zu beobachtende Darlegung des einfachen, unverdorbe-nen, vom städtischen Treiben abgewandten Lebens mittels einer sowohl emotionalen als auch metaphorischen Beschreibung der Natur sowie einer exzeptionellen Bildsprachlichkeit, die partiell mystische Züge aufweist (Z. 30-33), setzt sich in den Werken der Hauptvertreter der romantischen Epoche fort, zu denen Wordsworth, Coleridge, Shelley und Keats zählen und tritt hier besonders hervor. Im Vergleich zu den vorangegangen Epochen vollzieht sich folglich in der Romantik in Bezug auf die Natur ein Paradigmenwechsel, der sich sowohl auf die Konzeption der Natur als auch auf de- ren lyrische Umsetzung und Darstellung auswirkt. Für die Romantik ist somit vor allem eine Neuorientierung von einer objektiven, an antiken Maßstäben angelegten Auffas-sung und einer mimetischen Abbildung der Natur hin zu einer subjektiven Naturdar-stellung und unmittelbaren Naturerfahrung kennzeichnend.
Im Zuge dessen besteht die Aufgabe des Dichters nicht mehr darin, die Natur und deren Ordnung, wie von Pope gefordert, nachahmend darzustellen, sondern viel-mehr mittels Imagination, Kreativität und einer gefühlsbetonten Bildsprachlichkeit nicht nur seine individuelle Naturerfahrung wiederzugeben, sondern gleichzeitig eine neue Wirklichkeit zu kreieren 15 und somit die neuentdeckte Möglichkeit des kontemp-lativen Erlebens der Natur mit den Mitteln der Lyrik zu veranschaulichen und zu trans-portieren. Diese neu entstandene Relevanz von Natur, Imagination, Gefühlsbetonung und Individualität, die für die Romantik kennzeichnend ist, kann als elementare Abkehr von der im Neoklassizismus und in der Aufklärung vorherrschenden Betonung von Ob-jektivität und von einem auf Vernunft und wissenschaftlichen Methoden der Erkennt-nisgewinnung basierenden Konstrukt der Wirklichkeit bewertet werden.
Auch die Rolle der Natur und die Vorstellung von dem, was mit „Natur“ assozi-iert wird und letztendlich diesen Terminus repräsentiert, wandelte sich radikal: Anstelle des im Neoklassizismus postulierten Naturbegriffs und der normativ deskribierten Ei-genschaften der Landschaft und der Natur wird die Natur in der Romantik laut Borg-meier erstmalig als „Antithese zum Menschen“ 16 gesehen.
Aufgrund der bereits betrachteten radikalen und tiefgreifenden politischen, ge-sellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich in der Romantik vollzo-gen, wurden die Gesellschaft und deren Zwänge, denen das Individuum unterworfen war, als zunehmend dominierend und einengend erfahren. Im Gegenzug wurde die menschenferne, unverdorbene Landschaft, die jedoch verstärkt durch Industrialisierung und Verstädterung bedroht wurde, immer mehr als ein an Bedeutung gewinnendes schützenswertes Habitat angesehen und zu einem Gegenentwurf zu der von Repression und entwurzelnden Umwälzungen geprägten Gesellschaft.
Raimund Borgmeier: Gedichte der Englischen Romantik. Universal-Bibliothek. Stuttgart: Reclam, 1980, S. 16f. Die Natur, die demgemäß als „Korrektiv zu den Entfremdungserfahrungen“ 17 und Missständen der Zeit gesehen wurde, fungierte in diesem Kontext als sinngebende und gleichzeitig reine, von menschlichen Zwängen ausgenommene Einheit und erlang-te eine zentrale Stellung innerhalb der romantischen Bewegung und der zeitgenössi-schen lyrischen Werke. So zeugen zahlreiche Dichtungen der Romantik von der tiefen Wertschätzung und Admiration, die der Dichter in Anbetracht der Natur und der von ihr ausgehenden Impulse und deren Fähigkeit, Gefühle des Glücks und der Freude her-vorzurufen, verspürt.
Diese Hinwendung zum Einfachen, Natürlichen wird zudem durch den gewähl-ten Handlungsschauplatz verdeutlicht. Während im Neoklassizismus bei der Beschrei-bung und Darstellung der natürlichen Umgebung der Fokus meist auf der sorgsam durch Menschenhand gestalteten Landschaft lag, wie Popes Gedicht Windsor Forest zeigt, werden in der Romantik vorzugsweise die unberührten und erhabenen Aspekte der Natur betont, die Lamont als „wild, irregular and sublime dimension of nature“ 18 beschreibt.
Die Interaktion von Mensch und Natur sowie die Schönheit und Vielfältigkeit der Natur werden nicht ausschließlich in ihren objektiv sichtbaren Strukturen erfasst; vielmehr wird der Fokus, wie in den folgenden Betrachtungen der Werke Wordsworths erkennbar wird, auf die subjektiven Eigenschaften und die individuellen Erfahrungen, die sich durch ein geistiges Eintauchen und selbst-reflexives Einlassen auf den Reich-tum und die Stimuli der Natur eröffnen, gelegt. Wie Watson es zusammenfassend aus-drückt, erscheinen die Natur und die Landschaft in diesem Kontext als „source of vital and mysterious powers“ 19. Das unmittelbare, durch den Dichter stellvertretend wieder-gegebene Erleben und Erfahren der Natur eröffnet in der romantischen Vorstellung neue Wege der meditativen Selbsterfahrung und darüber hinaus dem Individuum, das gewillt ist, sich der Natur hinzugeben, die Möglichkeit, die Grenzen des eigenen Intel-lekts zu überwinden und Einsichten in eine ultimative Wahrheit und Sinnhaftigkeit zu erlangen.
Diese Sicht auf die Natur und die Landschaft, die sich nicht nur auf deren Schönheit beschränkt, sondern auch die Perspektive einbezieht, „exclusive truth and perceptions of the mind“ 20 zu erlangen, charakterisiert vielfach die Lyrik der damaligen Zeit. Die Auseinandersetzung mit der Natur ermöglicht somit transzendente Erfahrun-gen und Einblicke in übergeordnete Wahrheiten, die oft religiös-mytische Anklänge aufweisen, wodurch viele Naturdarstellungen und –erfahrungen in der romantischen Lyrik spirituelle oder semi-pantheistische Züge aufweisen.
3.3. Die romantische Natur bei William Wordsworth
In der Romantik entwickelte sich, wie bereits vorangegangen beschrieben wurde, eine gewandelte Hinwendung zur Natur und zum einfachen Leben auf dem Lande, was mit einer völlig neuen Konzeption des Naturbegriffes und der Mittel der lyrischen Umset-zung und Darstellung einherging. Die Werke William Wordsworths, der sich in seinem 1798 erschienenen Gedicht „Lines written a few miles above Tintern Abbey“ als „worshipper of Nature“ (Z. 153) bezeichnet, bekunden auf eindrucksvolle Weise die Verehrung und Bewunderung, die der Dichter der ihn umgebenden Natur entgegen-bringt. Borgmeier führt aus, dass sich die Natur in den Werken Wordsworths vornehm-lich durch kleinere Lebewesen, die Naturkräfte, Himmelskörper und landschaftliche Aspekte wie Berge, Seen oder Meere repräsentiert 21, womit sich die Natur sowohl in erhabenen als auch in friedlichen und idyllischen Aspekten darstellt. Des Weiteren kennzeichnet sich die Naturdarstellung Wordsworths an vielen Stellen durch eine star-ke Anthropomorphisierung, die seinen Wunsch nach einer harmonischen Einheit von Mensch, Tier und Natur widerspiegelt: Vögel singen Lieder, Blumen wiegen ihre Köp-fe im Wind und Wellen tanzen auf dem Meer.
Die bedeutsame Stellung, Erhöhung und Huldigung, die Wordsworth der Natur zuteilwerden lässt, wird schon durch die Großschreibung des Wortes „Nature“ in sämt-lichen Werken des Dichters sichtbar. Darüber hinaus schreibt er der Natur häufig nicht nur menschliche Gefühle und Eigenschaften zu, er gibt ihr außerdem auch ein weibli- Watson 1988, S. 52. Borgmeier 1980, S. 17. ches Geschlecht 22. Dadurch schafft Wordsworth nicht nur eine Verbindung zwischen „human soul and nature’s work“ 23, er kreiert zudem „some sort of goddess“ 24, wie O’Flinn es treffend ausdrückt. Die Großschreibung sowie die weibliche Geschlechtszu-schreibung können den Schluss zulassen, dass der Dichter die Natur als große, lebens-tragende und ewige Mutter allen Lebens, vergleichbar mit der griechischen Göttin Gaia, der Erdenmutter, ansieht. Auf diese Weise schreibt Wordsworth der Natur Vitali-tät und Unverwundbarkeit zu und assoziiert mit ihr zudem göttliche und mythische Kräfte. Weiterhin veranschaulicht dies die Überzeugung des Dichters von der Bestän-digkeit und dem in sich geschlossenen, sinnhaften Gesamtgefüge der Natur, die eine vom menschlichen Dasein autonome und abgewandte, wenngleich nicht minder schüt-zenswerte und wertzuschätzende Existenz darstellt.
Ähnlich wie die übrigen Dichter der Romantik sieht auch Wordsworth die Un-berührtheit, Schönheit und Friedlichkeit der Natur als einen Fluchtraum, der ein zu-mindest temporäres Vergessen der fortschreitenden Industrialisierung und der damit einhergehenden Probleme ermöglicht; er erschafft somit eine illusionäre Welt, die den verlorenen Zauber beschwört.
In der „Preface to Lyrical Ballads“, dem nachträglich verfassten Vorwort zu seinem gemeinsam mit Samuel Taylor Coleridge 1798 herausgegebenen Gedichtband Lyrical Ballads, bekundet Wordsworth seinen Standpunkt in Bezug auf die Dichtung und formuliert Prinzipien, die nicht nur in seinen eigenen Werken von essentieller Be-deutung sind, sondern zudem als Leitbilder der romantischen Lyrik angesehen werden können. So führt Wordsworth im Vorwort aus, dass der Handlungsschauplatz und der Fokus in diesen Gedichten bewusst auf Ereignisse und Situationen des alltäglichen Le-bens gelegt wurden, um diese mit den Gesetzen der Natur in Verbindung bringen zu können und um die Interaktion des Menschen mit der Natur darzustellen. Weiterhin betont Wordsworth, dass das einfache Leben auf dem Lande, das er als „humble and rustic life“ beschreibt, als wiederkehrendes Element in seinen Werken eine zentrale Stellung einnimmt, da nur auf dem Land ein von gesellschaftlichen Einflüssen und Zwängen ausgenommenes Naturerlebnis und ein ganzheitliches Einlassen auf die das Individuum umgebende natürliche Lebenswelt stattfinden kann. In der intakten, schüt-zenden und friedvollen Sphäre der Natur eröffnet sich demnach den Menschen die Möglichkeit, die von Wordsworth beschriebenen „beautiful and permanent forms of nature“ zu erfahren und zu einem zentralen Bezugspunkt im Leben werden zu lassen.
In diesem Zusammenhang sieht Wordsworth die Rolle des Dichters als Mittler und Mediator und die des lyrischen Werkes als Bindeglied zwischen der Natur und dem Menschen. Er, der Dichter, ist es, der die Natur stellvertretend erfährt 25 und sich ganz ihren vielfältigen Impulsen und ihrem Zauber hingibt und diese Art der individu-ellen, privaten Naturbegegnung, wie sie beispielsweise im Gedicht „I Wandered Lonely as a Cloud “ stattfindet, in lyrischer Form festhält und an die Menschen übermittelt. Anstatt sich darauf zu beschränken, die äußeren, sichtbaren Formen der Natur zu be-schreiben und wiederzugeben, ist es das Anliegen Wordsworths, das hinter dem Sicht-baren Liegende zu entdecken, zu verarbeiten und auszudrücken.
Anstelle einer objektiven, distanzierten Darstellung geht es Wordsworth um ein ganzheitliches, ihn in Besitz nehmendes Naturerlebnis und darum, die Natur in ihren zahlreichen, nicht rational fassbaren Impulsen und lebendigen Facetten sowie ihren sensorisch erfahrbaren Details zu begreifen und zu spüren. Die Auseinandersetzung damit und die Präsentation eines solchen Naturerlebnisses erfolgt zumeist durch eine Integration selbstreflexiver Elemente und eine Hervorhebung von kreativer Vorstel-lung, Gefühl und Subjektivität. Mittels einer gefühlsbetonten, figurativen lyrischen Schilderung verfolgt Wordsworth zum einen die Intention, die Schönheit und die Erha-benheit der Landschaft „einzufangen“ 26 und dem Leser zu nahe zu bringen, zum ande-ren versucht er, die Menschen an dieser sich in der Naturbegegnung einstellenden er-greifenden emotionalen Befindlichkeit teilhaben zu lassen und ihnen die erhebende Kraft der Natur zu vermitteln. Diese Beziehung zwischen der Natur und dem Men-schen, die der Dichter in „Preface to Lyrical Ballads“ als „acting and re-acting upon each other“ klassifiziert, ist demnach von essentieller Bedeutung in seinen Gedichten. So beschreibt Wordsworth in seinen Werken neben der Schönheit der Natur auch die Wirkung und den Einfluss, den sowohl die sensorische Wahrnehmung der Landschaft und der Kreaturen als auch ein intensives und gleichzeitig kontemplatives Naturerleben auf das Individuum haben. Auf diese Weise gestaltet er eine innovative reziproke Be-ziehung zwischen dem Menschen und der natürlichen Umgebung: Die Natur wird von Wordsworth nicht nur als Quelle spontaner positiver Emotionen wie Glück, Freude, Vergnügen und Liebe angesehen; sie fungiert gleichsam auch als Ausgangspunkt der Inspiration, sinnstiftende Macht, moralische und erzieherische Instanz und „Lehrmeis-terin“ 27, die das Wesen des Menschen langfristig formt, sowie als Segen, Wegweiser und Stütze in dessen Leben.
Des Weiteren sieht Wordsworth die Natur wiederholt als Offenbarung einer tie-fen, universellen Wahrheit an und als Gesamtheit, in der sich das Göttliche vor allem durch wiederkehrende, mit der Natur assoziierte Vokabeln wie „sublime“, „blessing“, „spirit“ und „holy“ und eine allem zugrunde liegende überdauernde Macht manifes-tiert. Folglich führt das Naturerlebnis zu unmittelbaren emotionalen Reaktionen wie Freude und Glück und vermag dem gewillten Individuum darüber hinaus durch einen Prozess der Kontemplation Bereiche transzendenter, eigene Grenzen überschreitende Erfahrungen und Erkenntnisse zu eröffnen. Wie O’Flinn zusammenfasst, betrachtet Wordsworth die Natur demzufolge nicht mehr als die bloße Landschaft und die ihr in-newohnenden Formen und Lebewesen, sondern als eine aktive, erhebende Kraft, die eine immense, allumfassende und weitreichende Wirkung auf das Individuum ausübt. 28
4. Das Naturerlebnis bei William Wordsworth
4.1. Die Beziehung zwischen Dichter und Natur
Wordsworths Werke und seine Darstellung der Natur und des Erlebens der Natur be-kunden ein extraordinäres und intensives, von Ästimation und Hingabe geprägtes Ver-hältnis des Dichters zu dem ihn umgebenden natürlichen Lebensraum. Diese Liebe zur Natur bildete sich schon in seiner Kindheit heraus, die er im Lake District, einer impo-santen Berg- und Seenlandschaft in Nordwesten Englands verbrachte. Der dort verspür-te Einklang und die tiefe Verbindung mit der von Verstädterung und Industrialisierung noch weitgehend unberührten Umgebung waren prägend, und „von nachhaltigem Ein-fluss“ 29 auf die späteren Vorstellungen und Betrachtungen des Dichters, da sie die in seinen Werken wiedergegebenen charakteristischen Naturdarstellungen und Formen des Naturerlebnisses begründeten. Den Mittelpunkt seines Lebens und den Ausgangs-punkt seiner Inspiration sieht Wordsworth daher nicht im rastlosen Leben der Städte, sondern in der ländlichen Natur, die sein Leben mit Substanz und Zufriedenheit erfüllt.
Die gefühlsbetonte Deskription der Natur, ihrer erhabenen und schönen Gestalt und ihrer Geschöpfe macht die intensive emotionale Verbundenheit und die Bewegtheit spürbar, die Wordsworth im Einlassen auf die Natur erfährt; in seinen Werken lässt sich erkennen, dass deren Wunder und Reichtum ihn tief zu berühren und zu beeindru-cken scheinen. An einigen Stellen seiner Dichtung scheint er nahezu überwältigt zu sein, wie es etwa in den Zeilen „She has a world of ready wealth, /Our minds and he-arts to bless-‘‘ (Tables Turned Z. 19f) offenkundig wird. An diesem Punkt werden überdies die religiösen Reminiszenzen, die Wordsworth oft mit der Natur verknüpft, sichtbar und man kann auf die Aussage Chaplins verweisen, die von einem „sacred re-fuge“ 30 spricht, das sich in der noch relativ unberührten Landschaft bestimmter Teile Englands, wie beispielsweise des Lake Districts, für die Dichter der Romantik eröffnet.
Die geschützte Sphäre dieses Naturreiches ist es, in der der Dichter sich aufhält, um, wie Borgmeier es ausdrückt, der Natur zu begegnen und mit ihr in Kontakt zu tre- Hühn 1995, S. 283. Sue Chaplin: „Literary and Cultural Contexts.“ in: Chaplin, Sue/Faflak, Joel (Hrsg.): The Romanticism Handbook. London/New York: Continuum International Publishing Group, 2011, S. 14-52, hier S.40. ten. 31 Diese Verbindung mit der Natur und das bewusste Erleben und Sich Einlassen des Dichters auf die Natur ist ein zentrales Thema vieler Werke und vollzieht sich laut Borgmeier vorwiegend dann, wenn sich der Dichter alleine in der Landschaft aufhält 32 und sich ihren mannigfaltigen Impulsen öffnet und in ihnen aufgeht. Das 1802 veröf-fentlichte Gedicht „I Wandered Lonely as a Cloud“ kann als repräsentatives Werk Wordsworths angesehen werden, in dem er nicht nur, wie in einigen anderen Gedichten ebenfalls, die Natur und das in ihr erfahrbare Naturerlebnis beschreibt; vielmehr tritt der Dichter in diesem Werk explizit in Erscheinung und bringt sowohl seine private, unmittelbare Naturbegegnung als auch deren bewusste nachträgliche Reflexion zum Ausdruck:
I wandered lonely as a cloud That floats on high o’er vales and hills, (Z. 1f)
Die einleitenden Zeilen veranschaulichen, dass in dem Gedicht der Fokus auf den Er-fahrungen des lyrischen Ichs, das mit Wordsworth gleichgesetzt werden kann, liegt, sowie bei den Emotionen und der individuellen Entwicklung, die die Begegnung mit der Natur begleiten. Der Dichter beschreibt sich hier als einsam wandernd und ver-gleicht dies mit einer Wolke, die unbeschwert am Himmelszelt entlanggleitet. Dieses Gleichnis ist insofern imposant, als sich Wordsworth an dieser Stelle als ein Teil der Natur ansieht und das Eintauchen in die im Gedicht beschriebe Schönheit und den Glanz der Natur sowie die damit verbundene Freude, die ihn erfasst, eine geradezu er-hebende Macht entfaltet. Diese Macht ermöglicht Wordsworth jegliche Suspension von Zeit und Kausalität sowie darüber hinaus eine Transzendierung des Raumes, die ihn aus seinen irdischen Fesseln befreit und ihn Teil des unendlichen Kreislaufes der Natur werden lässt.
Die Identifikation mit der Natur, in der er sich einer Wolke gleich empfindet, verweist zudem auf die bereits beschriebene Rolle des Dichters als Mediator zwischen dem Reich der Natur und der Welt des Menschen. Wordsworth, der sich zwar in die-sem Gedicht zunehmend als Teil der Natur ansieht, scheint eine Position zwischen der Borgmeier 1983, S. 17. Erde und der Sphäre des Himmlischen einzunehmen, in der er als Mittler fungiert. Dies wird dadurch unterstützt, dass das Eintauchen und Eins-Werden mit der Natur ihm zu einer tiefgreifenderen Sicht der Dinge und einer höheren Wahrheit verholfen hat, die ihn das irdische Geschehen überblicken lässt und ihm neue, alles übersteigende Einbli-cke in die Gesamtheit der Dinge ermöglicht, was Johns-Putra als „deeper understanding of the workings of both humanity and the universe that surrounds it“ 33 bezeichnet.
Diese eindringliche Begegnung mit der Natur, die Wordsworth die Grenzen seines eigenen Bewusstseins übersteigen lässt und ihn in Sphären leitet, in denen er frei und leicht wie eine Wolke, das Irdische erhaben überschauend, dahinschwebt, zeigt darüber hinaus, dass er nicht durch kulturelle oder gesellschaftliche Zwänge getrieben wird, sondern es einzig die Natur ist, die die treibende Kraft in seinem Leben darstellt und von der er sich vertrauensvoll und einer Wolke gleich treiben und lenken lässt.
Auch wenn der Dichter einsam durch die Natur wandert, scheint der Kontakt mit der Vielfältigkeit der Natur ihn mit Freude und Seligkeit zu erfüllen und vermittelt ihm zudem ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Gesellschaft. Den im Gedicht be-schriebenen Narzissen, die im Winde tanzend ihre Köpfe wiegen (Z.12), lässt Wordsworth eindeutige menschliche Züge zuteilwerden und bezeichnet sie sogar als „crowd“ (Z.3) und als „host“ (Z. 4). Dies zeigt, dass der Dichter sich in der Natur nicht mehr alleine fühlt, sondern in der wohltuenden „crowd […] of golden daffodils“ (Z. 3), der Gesellschaft der Natur, die Wesentlichkeit seines Lebens sieht und mit ihr eine tiefe, erfüllende und fast schon soziale Beziehung eingeht.
Während in diesem Gedicht sowohl das intensive, unmittelbare Erfahren der Natur ausgedrückt wird, liegt ein zusätzlicher Fokus, ähnlich wie in weiteren Gedichten Wordsworths, auf der, wie es Reinfandt nennt, „nachträglichen Reflektion [sic.]“ 34 die-ser erhebenden Naturerfahrung, aus deren Erinnerung der Dichter neue Kraft schöpfen kann.
For oft, when on my couch I lie In vacant or in pensive mood, They flash upon that inward eye Johns-Putra 2011, S. 108. Reinfandt 2008, S. 39. Which is the bliss of solitude; And then my heart with pleasure fills, And dances with the daffodils. (Z. 19-24)
Hier führt Wordsworth aus, dass er, wenn er sich zu einem späteren Zeitpunkt in einer nachdenklichen oder melancholischen Verfassung befindet und sich statt in der Natur wandernd in seinen Mauern aufhält, die Erinnerung an die ihn erfüllende Naturerfah-rung vor seinem inneren Auge vergegenwärtigen und so an die freudigen Erfahrungen, die er mit der Natur verbindet, zurückdenken kann. Diese Reflexion scheint seine star-ke Beziehung zur Natur augenblicklich aufleben zu lassen, und die Erinnerung an die Natur verhilft ihm zu positiven Gefühlen, die ihn durchdringen (Z. 23) und ihn seine Sorgen vergessen lassen. Dieses Imaginieren der Naturerfahrung kulminiert abschlie-ßend darin, dass Wordsworth, ähnlich wie während des zunächst unmittelbaren Na-turerlebens, auch hier einer transzendenten Erfahrung gleich die Mauern seines Hauses verlassen kann, um in das Reich der Natur einzutauchen und sich, ausgelöst durch das gedankliche Vergegenwärtigen, in einem emotionalen Zustand wiederfindet, der ihn zurück in die wohltuende Gesellschaft der Natur führt und ihn mit ihr verschmelzen lässt (Z.24).
Wordsworth misst der Natur sonach die Gabe bei, auch in schweren Zeiten sein Leben zu bereichern und mit Sinn zu erfüllen, sowohl durch einen kontemplativen, di-rekten Aufenthalt in der Natur als auch durch die beschriebene nachträgliche Reflexion dieser Naturerlebnisse. Die Natur hat demnach eine Stellung als Rückhalt und Anker im Leben des Dichters inne, auf die er zu jeder Zeit und angesichts von Widrigkeiten und Problemen zählen kann, da „[…] Nature never did betray / The heart that loved her“, wie Wordsworth es bereits in “Lines Composed a Few Miles above Tintern Ab-bey” formulierte (Z. 124f ).
Darüber hinaus fungiert die Natur nicht nur als verlässlicher Mittelpunkt und als „einzige[r] Weg zu einer sinnstiftenden Wirklichkeitsbegegnung“ 35 in Wordsworths Leben, der ihn seit frühester Kindheit begleitet, sondern die Natur ist es auch, die den Dichter inspiriert, weshalb Johns-Putra sie zu Recht als „enabler of poetic ability“ 36 Reinicke 1994, S. 249. Johns-Putra 2011, S. 107. ansieht. In seiner “Preface to Lyrical Ballads” beschreibt Wordsworth, dass seine Wer-ke aus einem „spontaneous overflow of powerful feelings“ heraus entstehen, die ihren Ursprung in „emotion recollected in tranquillity“ haben. In Anbetracht der vorausge-gangenen Darlegung kann man diese “powerful feelings”, die die Dichtung inspirieren und überhaupt erst ermöglichen, als die Gefühle von Glück, Freude und Ausgeglichen-heit ansehen, die Wordsworth verspürt, wenn er sich einsam wandernd der Schönheit und der Erhabenheit der Natur hingibt. Diese Konzeption der Natur als Inspirations-quelle des Dichters wird auch in seinen Werken thematisiert: So kann beispielsweise in der 1798 erschienenen Lyrischen Ballade „The Tables Turned“ die Darstellung der hin-ter einem Berg versinkenden Sonne in der zweiten Strophe als Referenz bezüglich der Natur als Quell der Inspiration gedeutet werden.
The sun above the mountain’s head, A freshening lustre mellow Through all the long green fields has spread, His first sweet evening yellow. (Z. 5-9)
Die Sonne, die unter anderem als Symbol göttlicher und schöpferischer Kraft gilt 37, taucht in diesen Zeilen das grüne, sich weit erstreckende Feld in ihren strahlenden Glanz (Z.6) und verbreitet Lebenskraft und Herrlichkeit in der ihr zu Füßen liegenden Welt. Auch der Dichter, der sich in der Natur aufhält, wird von der Strahlkraft der Son-ne erfasst, was die Darlegung unterstützt, dass es die Natur und die von ihr ausgehen-den Impulse sind, die Wordsworth Inspiration, Stärke und Imagination verleihen. Die Imagination, die im romantischen Zeitalter als „schöpferische Urkraft des Dichters“ 38 angesehen wird, scheint demzufolge direkt aus der Macht der Natur zu resultieren.
Die Tatsache, dass die Sonne in den meisten Überlieferungen als „universeller Vater“ 39 angesehen und mit Ewigkeit und Beständigkeit assoziiert wird, eröffnet weite-re Möglichkeiten der Interpretation. So kann man die immerwährende Kraft und den von Wordsworth beschriebenen „freshening lustre mellow“ (Z.6) als eine schützend über ihn wachende Konstante im Leben des Dichters ansehen, die ihn mit Hoffnung erfüllt und ihm darüber hinaus den Weg weist und ihn erleuchtet, selbst in dunklen und sorgenvollen Zeiten. Betrachtet man die biografischen Umstände, unter denen der Dichter „The Tables Turned“ verfasste, die Chaplin aufgrund der langen, kriegsbeding-ten Trennung von Wordsworth und seiner französischen Geliebten Annette Vallon so-wie der gemeinsamen Tochter als „years of hardship“ 40 bezeichnet, so können die Na-tur und deren kraftspendende Macht als verlässliche, fortwährende und heilende Kraft im Leben Wordsworths gedeutet werden. Diese offenbart ihm freudige Gefühle wie auch eine innere Ruhe, Weisheit, Inspiration und Hoffnung und lässt ihn seine Be-kümmernisse zumindest temporär aus dem Gedächtnis verlieren.
Wie in dieser analysierten Strophe, aber auch in zahlreichen weiteren Gedichten Wordsworths zum Tragen kommt, verleiht die Natur dem Dichter demnach, sowohl durch Reflexion als auch durch direktes Erleben und Eintauchen in ihre lebensspen-dende, alles erleuchtende Macht, warme und glückliche Erinnerungen und Empfindun-gen, die, wie O’Flinn es ausdrückt, den schmerzlichen Lebensumständen des Dichters gegenüberstehen und diese zu kompensieren vermögen. 41 Die Natur eröffnet Wordsworth auf diese Weise mehr als nur einen schützenden Fluchtraum aus der von radika-len Veränderungen und dem Krieg zwischen England und Frankreich geprägten Gesell-schaft; sie fungiert für ihn als ein Rückzugsort und ein Raum, in dem er seine persönli-chen Sorgen und Erschütterungen hinter sich lassen kann.
4.2. Das Verh ältnis der Natur zu Kultur und Gesellschaft
Wie bereits einleitend ausgeführt wurde, gilt das romantische Zeitalter als eine Gegen-bewegung zu der vorausgegangenen Epoche des Neoklassizismus und der intellektuel-len Bewegung der Aufklärung. Es war eine Periode des Umbruchs, in der die Natur und deren Darstellung als Kompensation zu den vorherrschenden kulturellen Werten sowie den Veränderungen, denen die Gesellschaft unterworfen wurde, konzipiert wur-de. Folglich wird die Natur in der Romantik als positive Gegenkraft zu den zeitgenössi- schen Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft angesehen, was auch in der Lyrik der Epoche zum Ausdruck gebracht wird.
Auffällig ist, dass die Kultur und die zunehmend von Beschleunigung, Industri-alisierung und Streben nach Profit geprägte Gesellschaft und die Formen der menschli-chen Zivilisation, sofern sie in der zeitgenössischen Lyrik denn thematisiert werden, nahezu ausschließlich als negative, den Menschen einschränkende und entzweiende Kräfte beschrieben werden. Auch die Leitgedanken der Aufklärung und des Neoklassi-zismus, wie beispielsweise der Fokus auf Ratio, traditionellen, als universell angesehe-nen objektiven Prinzipien und der Negation individueller Empfindungen werden kriti-siert. Weiterhin beschreiben die romantischen Dichter, insbesondere Wordsworth, kri-tisch die stetig wachsende Trennung und Disharmonie zwischen menschlicher Existenz und Kultur auf der einen und dem natürlichem Lebensraum auf der anderen Seite und führen oft diese zeitgenössische Tendenz vor Augen, während sie zudem für eine Hin-wendung und Bildung einer intensiven Beziehung zwischen der Natur und dem Men-schen plädieren.
Die Rolle der Natur, die Borgmeier zufolge als Antithese zu dieser von Urbani-sierung, Entfremdung und Industrialisierung dominierten Gesellschaft und als Verkör-perung des Heilen und des Schönen gesehen werden kann 42, das dem Individuum eine heile, friedvolle Welt als von menschlichen Einflüssen und Missständen unbeeinfluss-ten Fluchtraum eröffnet, findet sich in den Werken Wordsworth wieder und kommt insbesondere in „The Tables Turned“ sowie in dem 1806 erschienen Sonett „The World Is Too Much with Us“ zum Tragen.
Während die Natur in „The Tables Turned“ als lebendige, friedliche und glück-spendende Einheit ausschließlich mit angenehmen Emotionen und Sinnbildern konno-tiert ist, werden die von den Werten der Aufklärung geprägte Kultur und die Zivilisati-on als starre, einengende und negative Kräfte beschrieben. Wordsworth charakterisiert die Kultur als stark beeinflusst und geformt von logischem und rationalem Denken und Handeln und bezeichnet die Wissenschaft, die empirischen, auf Logik und Vernunft gegründeten Methoden der Wissensgewinnung (Z. 26f) sowie die in der Romantik dis- kreditierte „Buchwissenschaft“ 43 und Buchgelehrsamkeit, die er in Z. 9 beschreibt, als „dull“ und „endless strife“. In Anbetracht der kulturellen und gesellschaftlichen Rah-menbedingungen der Romantik kann man diese Aspekte der Kultur, die sich an den objektiven Maßstäben und Leitbildern der Aufklärung und des Neoklassizismus orien-tieren, als Kraft ansehen, die zu einem wachsenden Identitätsverlust und zu einer emo-tionalen Erstarrung führt, die der Dichter in den Zeilen 2 und 27 vor Augen führt. An dieser Stelle kann man sich auf Neumann beziehen, die die damaligen kulturellen und sozialen Umstände als eine „repressive, even corrupting force, controlling and dominating ist citizens“ 44 ansieht. Wordsworth beschreibt diese degenerativen und destrukti-ven Elemente der Kultur und der Zivilisation sowie die daraus resultierenden Auswir-kungen auf eine drastische Weise, in dem er sie beispielsweise als „toil and trouble“ (Z. 4), „endless strife“ (Z. 9) und als „murder“ (Z. 28) kennzeichnet.
Im Unterschied zu dieser negativen Darstellung der Kultur und der menschli-chen Gesellschaft charakterisiert der Dichter die Natur als absolutem Gegensatz dazu, was er sowohl durch die Sprache als auch durch die gewählten Motive und Symbole erreicht. Auf diese Weise wird die tiefe emotionale Ergriffenheit und Freude des Dich-ters in Anbetracht der Natur aufgezeigt. Indem Wordsworth das Naturgeschehen ideali-siert und mit freudigen Emotionen, Bildsprachlichkeit und transzendenten Erfahrungen in Verbindung bringt, erschafft er ein lebendiges, vielfältiges, freudiges und sinnge-bendes Bild der Natur, das sich von der zuvor als fad und starr beschriebenen Kultur sehr unterscheidet. Er generiert und übermittelt ein Bild des Naturreiches, das voller Freude, Wohlgefallen, Schönheit und Erfüllung ist und somit das genaue Gegenteil der durch Menschenhand gestalteten und geformten Welt darstellt:
She has a world of ready wealth, Our minds and hearts to bless-Spontaneous wisdom breathed by health, Truth breathed by cheerfulness. (Z. 17-20)
[...]
1 Vgl. Raimund Borgmeier: 19. Jahrhundert I. Romantik. Die englische Literatur in Text und Darstel-lung, Band 7. Stuttgart: Reclam, 1983, S. 9.
2 Borgmeier 1983, S. 9. Vgl. ebd., S. 35.
3 Vgl. Birgit Neumann: A Short History of English Literature until 1900. Periods, Genres, Major Authors. Stuttgart: Klett Lerntraining GmbH, 2010, S. 124f.
4 Vgl. Birgit Neumann: A Short History of English Literature until 1900. Periods, Genres, Major Authors. Stuttgart: Klett Lerntraining GmbH, 2010, S. 124f.
5 Vgl. Birgit Neumann: A Short History of English Literature until 1900. Periods, Genres, Major Authors. Stuttgart: Klett Lerntraining GmbH, 2010, S. 124f.
6 Peter Hühn: Geschichte der englischen Lyrik1. Vom 16. Jahrhundert bis zur Romantik. Uni- Taschenbücher. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag, 1995, S. 253.
7 Vgl. ebd.
8 Vgl. Neumann 2010, S. 23.
9 Hühn 1995, S. 221. Vgl. Borgmeier 1983, S. 29.
10 Hühn 1995, S. 221. Vgl. Borgmeier 1983, S. 29.
11 Hühn 1995, S. 221. Vgl. Borgmeier 1983, S. 29.
12 Vgl. Borgmeier 1983, S. 29.
13 Timothy W. Luke: Ecocritique: Contesting the Politics of Nature, Economy, and Culture. Minnea- polis: University of Minnesota Press, 1997, S. 195.
14 Vgl. Hühn 1995, S. 257.
15 Vgl. Hühn 1995, S. 254.
16 Vgl. Hühn 1995, S. 254.
17 Reinfandt 2008, S. 43.
18 Claire Lamont: „The Romantic Period.“ in: Rogers, Pat (Hrsg.): The Oxford Illustrated History of
19 English Literature. Oxford/New York: OUP, 1987, S. 274-325, hier S. 277.
20 John R. Watson. English poetry of the Romantic period: 1789 – 1830. Longman literature in English
21 series, 3. London: Longman, 1988, S. 49.
22 Beispielsweise in: William Wordsworth: “The Tables Turned”, 1798, Z. 16-17.
23 Paul O’Flinn: How to Study Romantic Poetry. Second Edition. Basingstoke: Macmillan, 2001, S. 33.
24 Ebd., S 43.
25 Vgl. Raimund Borgmeier und Michael Hanke (Hrsg.): English Poetry. An Anthology. Universal Bib-liothek. Stuttgart: Reclam, 2011, S. 14.
26 Vgl. Adeline Johns-Putra: „Key Critical Concepts and Topics.“ in: Chaplin, Sue/Faflak, Joel (Hrsg.): The Romanticism Handbook. London/New York: Continuum International Publishing Group, 2011, S. 100- 119, hier S. 107.
27 Reinicke, Uta: “The vital soul“: Naturerleben als kreative Weltbegegnung bei William Wordsworth.
28 Neue Studien zur Anglistik und Amerikanistik, 62. Frankfurt am Main: Lang, 1994, S. 194.
29 Vgl. O’Flinn 2001, S. 43.
30 Vgl. Matilde Battistini: Symbole und Allegorien. Bilderlexikon der Kunst, Band 3. Berlin: Parthas Verlag, 2003. Aus dem Italienischen von S. Fischer und C. Gutbertlet. S. 192.
31 Borgmeier 1983, S. 26.
32 J. C. Cooper: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole. Wiesbaden: Drei Lilien Verlag GmbH, 1986. Aus dem Englischen von G. und M. Middell S. 175.
33 Chaplin 2011, S. 39.
34 Vgl. O’Flinn 2001, S. 42.
35 Vgl. Borgmeier 1983, S. 29.
36 Watson 1988, S. 33.
37 Watson 1988, S. 33.
38 Watson 1988, S. 33.
39 Watson 1988, S. 33.
40 Neumann 2010, S. 124.
41 Neumann 2010, S. 124.
42 Neumann 2010, S. 124.
43 Neumann 2010, S. 124.
44 Neumann 2010, S. 124.
- Citation du texte
- Anonyme,, 2013, Die Darstellung der Natur in ausgewählten Werken von William Wordsworth, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539483
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