Am 22. Oktober 2017 konnte sich Shinzo Abe durch einen beeindruckenden „Erdrutschsieg“ bei vorgezogenen Wahlen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im japanischen Unterhaus sichern. Die von ihm seit langem angestrebte Verfassungsänderung zur Remilitarisierung Japans wird nun immer wahrscheinlicher.
Eine mögliche Revision von Artikel 9 der japanischen „Friedensverfassung“ von 1947, die in erster Linie eine konstitutionelle Legitimation der Self Defense Forces (SDF) bewirken würde, hätte momentan schwerwiegende außenpolitische Folgen. In Verbindung mit Abes Säbelrasseln birgt ein solch schwerwiegender Eingriff sogar große Gefahren für die Sicherheit und Stabilität des ostasiatischen Raumes.
Die historisch vorbelasteten und ohnehin angespannten Beziehungen zu Südkorea und China würden durch eine solche Provokation weiter strapaziert. Beide Staaten sind jedoch wichtige Partner, besonders im Hinblick auf den Problemfaktor Nordkorea. Ohne Chinas Willen kann auf ihn nur begrenzt Druck ausgeübt werden.
Eine militärische Eskalation mit China wäre möglich. Die aktuellen Territorialdispute im Südchinesischen Meer könnten ein möglicher Auslöser sein.
Die Sicherheitsallianz mit den USA würde durch eine Verfassungsrevision langfristig auf die Probe gestellt. Es ist fraglich, ob eine symmetrischere Bündnisstruktur im nationalen Interesse der USA wäre.
Durch eine konstruktivere Außenpolitik, mehr kulturelle Diplomatie und weniger Provokationen könnte um Verständnis für eine notwendige Verfassungsrevision geworben werden. Diese alternative strategische Ausrichtung Japans wäre ein wichtiger Schritt für eine stabilere und progressivere Sicherheitsarchitektur in Ostasien.
Außenpolitische Herausforderungen Japans im Rahmen einer möglichen Revision der „Friedensverfassung“
Severin Pehlke
Am 22. Oktober 2017 konnte sich Shinzo Abe durch einen beeindruckenden „Erdrutschsieg“ bei vorgezogenen Wahlen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im japanischen Unterhaus sichern. Die von ihm seit langem angestrebte Verfassungsänderung zur Remilitarisierung Japans wird nun immer wahrscheinlicher.
Analyse
Eine mögliche Revision von Artikel 9 der japanischen „Friedensverfassung“ von 1947, die in erster Linie eine konstitutionelle Legitimation der Self Defense Forces (SDF) bewirken würde, hätte momentan schwerwiegende außenpolitische Folgen. In Verbindung mit Abes Säbelrasseln birgt ein solch schwerwiegender Eingriff sogar große Gefahren für die Sicherheit und Stabilität des ostasiatischen Raumes.
- Die historisch vorbelasteten und ohnehin angespannten Beziehungen zu Südkorea und China würden durch eine solche Provokation weiter strapaziert. Beide Staaten sind jedoch wichtige Partner, besonders im Hinblick auf den Problemfaktor Nordkorea. Ohne Chinas Willen kann auf ihn nur begrenzt Druck ausgeübt werden.
- Eine militärische Eskalation mit China wäre möglich. Die aktuellen Territorialdispute im Südchinesischen Meer könnten ein möglicher Auslöser sein.
- Die Sicherheitsallianz mit den USA würde durch eine Verfassungsrevision langfristig auf die Probe gestellt. Es ist fraglich, ob eine symmetrischere Bündnisstruktur im nationalen Interesse der USA wäre.
- Durch eine konstruktivere Außenpolitik, mehr kulturelle Diplomatie und weniger Provokationen könnte um Verständnis für eine notwendige Verfassungsrevision geworben werden. Diese alternative strategische Ausrichtung Japans wäre ein wichtiger Schritt für eine stabilere und progressivere Sicherheitsarchitektur in Ostasien.
1. Die „Friedensverfassung“
Am 3. Mai 1947 trat die auf Entwürfen der alliierten Besatzungsregierung basierte japanische Nachkriegsverfassung in Kraft. Sie hat bis heute unverändert Gültigkeit. Mit dem Ziel einer tiefgreifenden Reformierung des japanischen Staates und der Eliminierung jeglicher militärischer Kapazitäten, wurde unter Federführung desSupreme CommanderGeneral Douglas MacArthur innerhalb von nur einer Woche der grundlegende Entwurf der Verfassung konzipiert. Von entscheidender Relevanz ist Artikel 9 der Verfassung, der den Verzicht auf jegliche militärische Gewalt und Kriegsführung, sowie die pazifistische Identität des modernen Japans bis heute besiegelt hat:
(1) Im aufrichtigen Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für immer auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, internationale Streitigkeiten zu regeln.
(2) Um das im vorangehenden Absatz bezeichnete Ziel zu erreichen, werden niemals mehr Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten werden. Das Recht des Staates auf Kriegführung wird nicht anerkannt.
Dass der Verfassung in den letzten 70 Jahren noch nicht einmal ein Komma hinzugefügt wurde, ist jedoch kein Zufall. MacArthur sorgte dafür, dass sie durch Artikel 96 dreifach gesichert wird: Eine Verfassungsrevision ist demnach nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern des Parlamentes und einer darauf folgenden mehrheitlichen Zustimmung des japanischen Volkes in Form eines Referendums möglich.
Trotz dieser großen Hürden ist eine Änderung des neunten Artikels nie so wahrscheinlich gewesen wie heute. Premierminister Shinzo Abe hat sich mit seiner regierenden Koalition aus LDP undKomeitoeine ausreichende Mehrheit in Ober- und Unterhaus gesichert. Der positive Ausgang eines Referendums wäre der letzte nötige Schritt für die seit vielen Jahren angestrebte Revision.
Bereits im Mai 2007, am sechzigsten Jahrestag der Verfassung, kündigte der amtierende Premier Abe offiziell seine Revisionsabsichten an (Nabers 2007: 2). Er trat damit in die Fußstapfen einiger namenhafter LDP Politiker, wie Nakasone und Koizumi, die schon vor Jahrzehnten für die Remilitarisierung Japans und Erneuerung der Verfassung kämpften. Sogar der Begründer der berühmten Yoshida-Doktrin und Unterstützer des amerikanisch-japanischen Sicherheitsbündnisses, der ehemalige Premier Shigeru Yoshida, gab 1963 in seinen Memoiren zu, dass Japan „immer schwach bleiben wird, wenn es für seine Selbstverteidigung völlig auf eine andere Nation angewiesen ist“ (Yoshida 1963: 203-204).
Die außenpolitische Unselbstständigkeit, die diplomatische Abhängigkeit von den USA und die demütigende militärische „Kastration“ durch Artikel 9 sind den Angehörigen des national-konservativen Lagers ein Dorn im Auge. Einem Revisionsentwurf der LDP aus dem Jahr 2012 lässt sich entnehmen, dass Abe die Self Defense Forces zum National Defense Military umbenennen, unter sein Kommando stellen und konstitutionell in der Verfassung legitimieren möchte (Stockwin; Ampiah 2017: 127). Zwar soll die pazifistische Essenz mit dem Bestehen des ersten Paragraphen erhalten bleiben, doch die völlige Veränderung des zweiten und Hinzufügung eines dritten Paragraphen, der die Verteidigung der territorialen Souveränität unterstreicht, lässt Abes Ziel einer grundlegenden Stärkung des Militärs und Abkehr von der pazifistischen Nachkriegsidentität erkennen.
Im Hinblick auf die aktuelle Dichotomie von Verfassungsanspruch und -wirklichkeit in Japan sprechen gute Gründe für eine Revision. Schon seit 1954 verfügt Japan wieder über eine Armee, obwohl ihr Bestehen nicht wirklich im Einklang mit der Verfassung ist. Die SDF wurden im Angesicht des Koreakriegs auf Anliegen der USA ins Leben gerufen, sie zählen heute zu den modernsten Streitkräften der Welt. Doch es hat bislang kein gerichtliches Urteil über ihre Legitimität gegeben, derSupreme Courthält sich in dieser Hinsicht für „nicht zuständig“ (Samuels 2007: 45). Da es in Japan kein Verfassungsgericht gibt, ist die Reinterpretation der Verfassung in diesen Belangen bisher eher der Exekutive zugefallen (Samuels 2007: 46). Zuletzt traten im März 2016 verschiedene Gesetze in Kraft, wie z.B. dasInternational Peace Support Law, wodurch Japans Armee auch im Ausland zur kollektiven Selbstverteidigung eingesetzt werden darf. Diese Auslegung der Verfassung ist jedoch sehr fragwürdig. Bereits 2003 wurden japanische Truppen in den Irak-Krieg geschickt, Koizumi gab für diese Entscheidung die fadenscheinige Begründung, dass die Soldatinnen und Soldaten dort nicht in Kampfgebieten eingesetzt werden. Die militärische Allianz mit den USA, die auf dem Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung beruht, hat seit jeher einen Widerspruch zur pazifistischen Verfassung Japans dargestellt. Zwar ist die Reinterpretation des Artikel 9 seit den 1990er Jahren immer weiter ins national-konservative Lager gerutscht, doch es herrscht weiterhin eine Dichotomie von Anspruch und Wirklichkeit der Verfassung, die in der heutigen Zeit unverantwortlich ist (Nabers 2007: 4-5). Eine Revision des neunten Artikels ist daher nicht verwerflich, sondern ein durchaus notwendiger Schritt, den es auf transparente und konstruktive Art und Weise umzusetzen gilt.
Doch genau hier liegt die Problematik der aktuellenpolicyvon Shinzo Abe: Die Revisionsabsichten in Verbindung mit seinen außenpolitischen Provokationen erzeugen ein eisiges Klima in den Beziehungen zu wichtigen ostasiatischen Partnern. Die Art und Weise, mit der er die Verfassungsänderung herbei führen möchte, birgt große Gefahren für die Sicherheit Japans und des ostasiatischen Raumes.
2. Gefahr aus Verfassungsrevision und außenpolitischer Provokation
Die Revisionsabsichten Abes in Bezug auf die Verfassung sind nur ein Teil seiner politischen Agenda. Seit Jahren schon führt er Japan auf einen national-konservativen Kurs: weg von der westlichen Idee des individualisierten Bürgers, hin zu einem kollektiven, patriotischen Gesellschaftsbewusstsein. Er ließ 2015 die Geschichtsbücher für Mittelschüler umschreiben, um Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg in ein besseres Licht zu rücken (Lill 2015), patriotischer Schulunterricht gehört mittlerweile zum obligatorischen Lehr-programm. Mit dem sehr umstrittenen „Verschwörungsgesetz“ hat Abe 2017 weitere Ermittlungs- und Überwachungskapazitäten für den japanischen Staat geschaffen, Kritiker sprechen von „diktatorischem“ Vorgehen.
Außerdem ist Abe ein langjähriges Mitglied der rechten Organisation Nippon Kaigi (deutsch: „Japankonferenz“). Sie steht seit ihrer Gründung 1997 für die „Wiederbelebung der Grundsätze des Kaiserreiches“, für eine patriotische Erziehung und einen starken Staat. Japans Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg werden von ihren Mitgliedern relativiert:
Das schreckliche Massaker von Nanking im Jahr 1937 wird bis heute nicht als solches benannt.
Schwächung der Allianz gegen Nordkorea
Diese innenpolitischen Ausrichtungen Abes lösen bei Japans Nachbarn große Empörung und Protest aus. Vor allem die historisch vorbelasteten Beziehungen zu China und Südkorea leiden weiter unter der fehlenden gemeinsamen Erinnerungskultur. Japans Regierung scheint die Augen vor der Vergangenheit ihres Landes zu verschließen und sorgt damit für angespannte Verhältnisse zu den wichtigen Partnern in Ostasien.
Einer der zentralen Gründe für eine notwendige Verfassungsrevision sei laut Abe die imminente Gefahr, die von der nordkoreanischen Nuklearmacht ausginge (Wagener 2017). Doch um Nordkorea in diesen Belangen effektiv unter Druck zu setzen, bedarf es der engen Zusammenarbeit mit Südkorea und vor allem mit der Volksrepublik China. Ohne chinesische Mitarbeit werden die Sanktionen sehr wahrscheinlich nur einen begrenzten Erfolg haben. Daher erscheinen die japanischen Provokationen eher wider-sprüchlich im Hinblick auf die zentrale Intention der Verfassungsrevision: die Eindämmung des nordkoreanischen Gefahren-faktors.
Die katastrophal schlechten Beziehungen zu Nordkorea selbst würden durch eine Änderung von Artikel 9 ebenfalls weiter verschärft. Seit Jahrzehnten sind die bilateralen Gespräche festgefahren. Japan besteht auf eine ausführliche Aufklärung der mindestens dreizehn Entführungsfälle japanischer Staatsbürger durch die Demokratische Volksrepublik Korea (DiFilippo 2012: 181). Die Koreaner beharren wiederum auf den weitgehend ausgebliebenen Reparations-zahlungen Japans für die begangenen Kriegsverbrechen (DiFilippo 2012: 181). Beide Positionen werden innenpolitisch bewusst ausgenutzt. Shinzo Abe sorgte beispielsweise dafür, dass der öffentlich-rechtliche Fernsehsender NHK seine Berichterstattung in Bezug auf die „Entführungsfrage“ konzentrierte (DiFilippo 2012: 194). Dieser Ressentiments schürende Eingriff in die Pressefreiheit verstärkte zweifellos die öffentliche Meinung: Für fast 90 Prozent der japanischen Bevölkerung war im Jahr 2007 die Entführungsproblematik das zentrale Problem bei den Beziehungen zur DVRK (DiFilippo 2012: 183). Shinzo Abe hat es schon häufig unterstrichen: „Solange es keine Fortschritte bezüglich dieses Problems [des Entführungsproblems] geben wird, wird es auch keine Fortschritte bei anderen Themen geben“ (DiFilippo 2012: 213). Abe wird vermutlich weiterhin aus der schlechten bilateralen Sicherheitslage innenpolitischen Profit schlagen, auch um gesellschaftlichen Rückhalt für seine Verfassungsrevision zu schaffen. Eine Besserung des Verhältnisses zu Nordkorea scheint daher nicht in Abes Interesse zu sein, obwohl es natürlich für mehr Sicherheit und Stabilität im ostasiatischen Raum führen würde, von dem langfristig alle regionalen Staaten profitieren könnten.
Mögliche militärische Eskalation mit der VRC
Im September 2012 kam es auf Grund des japanischen Kaufes von Teilen der Diaoyu/Senkaku-Inselgruppe zu einem neuen Höhepunkt des Territorialdisputes im Südchinesischen Meer (Maull 2014). China, Japan und sogar Taiwan erheben Ansprüche auf die unbewohnten Inselfelsen zwischen Okinawa und der chinesischen Küste. Auf Grund der riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen, sowie der reichen Fischgründe, die mit dem Besitz der Inseln verbunden sind, wird der Inselstreit von einem großen wirtschaftlichen Faktor dominiert (Müser; Pohl; Godehardt 2012). Außerdem ist die Inselgruppe von hoher geostrategischer Bedeutung: Den Chinesen dient sie unter anderem als strategisches „Frühwarnsystem“ und die Japaner können mit ihrer Kontrolle der VRC effektiv den Zugang zum offenen Meer und zu wichtigen Energieressourcen erschweren. Die größte Problematik für den festgefahrenen Interessendisput ist jedoch der Umstand, dass sowohl in China, als auch in Japan nationale Regierungen an der Macht sind, die aus dem Inselstreit bewusst machtpolitischen Profit schlagen wollen und ihn opportunistisch ausnutzen. Die Nationalisten auf beiden Seiten müssen auf Grund ihrer innenpolitischen Agenda Stärke demonstrieren, sie können nicht nachlassen (Müser; Pohl; Godehardt 2012: 1). Hier läge die Gefahr bei einer Verfassungsrevision, die Japan neue militärische Kapazitäten ermöglichen würde: Da beide Seiten, sowohl die VRC als auch Japan im Territorialdisput stur bleiben werden und keinerlei Kompromisse eingehen wollen, kann dies schnell zu einer Eskalationsspirale führen, die bei Japans militärischer Wiederbelebung auch ungewollt zum Krieg führen könnte. Natürlich wäre dieser drastische Schritt, auf Grund der sehr engen wirtschaftlichen Beziehungen der beiden riesigen Volkswirtschaften, nicht sehr wahrscheinlich. Aber eine militärische Eskalation sollte wegen der symbolisch schwer aufgeladenen Beziehung auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden.
- Citation du texte
- Severin Pehlke (Auteur), 2018, Außenpolitische Herausforderungen Japans im Rahmen einer möglichen Revision der "Friedensverfassung", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/538881
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