Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Kurzgeschichte "Zentralbahnhof" von Günther Kunert und geht bei einer Analyse desselben vor allem auf die Erzählweise und -perspektive ein.
„ Für bestimmte Geschehnisse in der Nazizeit gibt es keine adäquaten Erklärungen. Die Wörter der menschlichen Sprache sind für Vorkommnisse dieser Art nicht geschaffen. “ - So oder so ähnlich könnte das Mantra des Schriftstellers Günter Kunert beim Schreiben seines epischen Kurztextes, der Parabel „Zentralbahnhof“, gelautet haben. Der Urheber des anfänglichen Zitats, Manfred Poisel, beschreibt nämlich genau die Krux, die Günter Kunert in seiner literarischen Parabel aus dem Jahr 1972 zu umgehen versucht. Nicht mit inadäquaten Erklärungen und doch mithilfe von Wörtern menschlicher Sprache erzählt er die Geschichte eines „Jemands“, der sich, um einer staatlichen Anweisung Folge zu leisten, in einem gesellschaftlich mystifizierten Bahnhof einfinden muss, wo er schließlich getötet wird. Kunert skizziert im Zuge dessen implizit die korrupten Tötungsmechanismen der Nationalsozialisten vor dem Hintergrund des Holocaust und der Euthanasie.
Auf unbekanntem Wege erreicht den Protagonisten der Kurzgeschichte ein staatlicher Schrieb. Dieser enthält die unmissverständlich formulierte, verbindliche Aufforderung, am 5.November des aktuellen Jahres, um acht Uhr in leichter Kleidung in der Kabine 18 einer Herrentoilette in einem nicht genauer lokalisierten Zentralbahnhof zu erscheinen. Als Anlass wird seine Hinrichtung genannt und zudem explizit von einer Missachtung dieses Befehls, die eine Bestrafung zur Folge hätte, abgeraten. Angesichts dieser Nachricht zusehends beunruhigt, hofft der Beorderte auf die Unterstützung seiner Freunde. Keiner von ihnen ist jedoch bereit, Zivilcourage zu zeigen, und so verlässt der Desillusionierte zur Erleichterung seiner Freunde, die sich durch seinen Besuch nun selbst als potentiell vom selben Schicksal Bedrohte sehen, die Szenerie. Auch die Konsultation eines Rechtsanwalts bleibt ohne Erfolg. Zwar entsendet dieser pro forma einen Einwand gegen die staatlichen Maßnahmen, rät jedoch, dieser amtlichen Aufforderung Folge zu leisten und versucht, die Situation als Missverständnis herunterzuspielen. In der dem 5. November vorausgehenden Nacht findet der Protagonist, von innerer Unruhe und Angst geplagt, wenig Schlaf und klingelt an der Tür des Nachbarn, welcher ihn aber nicht einmal mehr eintreten lässt. Weisungskonform findet er sich dennoch am nächsten Tag in der Herrentoilette des Zentralbahnhofs, einem nahezu menschenleeren und emsig sauber gehaltenen Ort, ein. Ohne zu zögern begibt sich der plötzlich Euphorische und von seiner Heimkehr Überzeugte in die Kabine 18, aus der seine Leiche kurze Zeit später von zwei Toilettenmännern herausgetragen wird.
Der Prozess vom Empfangen des Briefs bis hin zur Tötung des Protagonisten wird in „Zentralbahnhof“ aus der Sicht eines personalen Er-Erzählers geschildert. Dieser weiß einerseits über die Gefühle des Protagonisten, zum Beispiel über den „brennende[...][n] Neid“ auf eine noch lebendige Fliege (Z.23), bescheid, andererseits über Vorgänge, die dessen Kenntnishorizont der Situation übersteigen. Sowohl die erleichterte Reaktion der Freunde nach der Stippvisite des Protagonisten und deren Spekulationen bezüglich der Gefahren, die sie mit dem Kontakt zu einem „nur noch begrenzt Lebendigen“ (Z.15) in Verbindung bringen, als auch der Transport des Leichnams zählen dazu. Auch in der Gesellschaft etablierte Mythen bezüglich des titelgebenden Zentralbahnhofs, den „weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing“ (Z.35 f.) werden genannt, weshalb der Erzählsituation ein allwissender Charakter zugesprochen werden kann.
Neben der Innen- und Außensicht des Protagonisten fließen also auch Geschehnisse außerhalb des direkten Umfelds des zentralen Charakters in die chronologische Erzählung mit ein. Primär orientiert sich die Erzählstruktur jedoch an den letzten Tagen im Leben der nie namentlich genannten Hauptfigur. Er wird konstant als „ein Jemand“ bezeichnet. Da sich die Ankündigung des bevorstehenden Todes unweigerlich auf den Alltag, das Handeln und die inneren Vorgänge des Protagonisten auswirken, sind jene Situationen, in denen sich die Symptomatik der Hiobsbotschaft besonders manifestiert, als Kernereignisse des epischen Kurztextes zu sehen. So werden zum Beispiel neben dem Erhalt des Briefs dessen Inhalte (vgl. Z.5-12) auch die Ratschläge des Anwalts (vgl. Z.22) direkt zitiert, was einer Zeitdeckung entspricht. Der Dominanz der amtlichen Schreiben wird von daher in der Zeitstruktur Rechnung getragen. Ein einziger Zeitsprung in der sonst chronologischen Erzählstruktur findet sich in der Nacht vor dem Tod des Protagonisten, nachdem dieser erfolglos bei seinem Nachbarn geklingelt hatte. Ansonsten wird die erzählte Zeit durchweg gerafft, was aber eher der Gattungszugehörigkeit des vorliegenden Texts zur Kurzprosa geschuldet ist als der Entwicklung des Handlungsverlaufs auf Protagonistenebene.
Wie bereits angedeutet spitzt sich ab dem Lesen des Briefs sowohl die innere- als auch die äußere Handlung auf den als Tag der „Hinrichtung“ definierten fünften November zu. Der sichtlich beunruhigte Protagonist unternimmt drei Versuche, einen Ausweg aus seiner prekären Situation zu finden. Neben der Konsultation seiner Freunde und des Anwalts als Vertreter des (Rechts-)Staates hofft der innerlich zerrüttete und panische Hauptcharakter im Angesicht des nahenden Todes schließlich auf die Hilfe des Nachbarn. Projiziert auf den monoton steigenden Spannungsverlauf der Handlung, sind diese drei Auswegsbemühungen als zentrale Spannungsspitzen zu betrachten, die Hoffnung auf Rettung seitens des Protagnisten sowie auch des Leser erweist sich aber in jedem einzelnen Fall als trügerisch. In ihrer Funktion sind sie also mit dem Moment trügerischer Hoffnung im Drama zu vergleichen. Der Besuch des Anwalts entspricht am meisten einer Retardierung, da bis zum Schluss ungeklärt bleibt, ob dessen „Eingabe“(Z.18) tatsächlich Widerspruchspotential beziehungsweise Aussagekraft hat oder nicht. Die lakonisch-halbherzige offizielle Einlassung und die hilflos anmutenden Erklärungsmuster jedoch lassen den Leser bereits vermuten, dass diese Aktion wirkungslos verhallen wird. Abgesehen von der Empfehlung, den Forderungen aus dem „amtliche[n] Druck“(Z.5) Folge zu leisten, versucht der Advokat vehement, seinem Klienten die Furcht vor dem fünften November zu nehmen. Hierfür stellt er zunächst Erklärungsversuche an, die den Terminus „Hinrichtung“ als Produkt eines „Druckfehler[s]“(Z.20) entlarven sollen und deutet den Schrieb als Aufforderung zur „‚Einrichtung‘“ (Z.20) um. Die Ausweglosigkeit der Situation offensichtlich erfassend redet er dem Beorderten schließlich gut zu und appelliert an seine Vertrauensbereitschaft als einzigen Anker in der ihm noch verbleibenden, von Ungewissheit und Angst bestimmten Zeit. Anders als die Freunde und der Nachbar des Protagonisten tangiert den Anwalt die Viralität des Schicksals des zum Tode Verurteilten offenbar nicht, woraufhin er als Einziger zumindest vorgibt, sich mit den existentiellen Problemen des Protagonisten auseinandersetzen zu wollen. Da auch er allein die Ausweglosigkeit der Situation infrage stellt (vgl. Z. 19 f.), repräsentiert das Gespräch mit ihm einen Bruch in der Zuspitzung auf den nahenden Tod und wirkt sich retardierend auf den linearen Handlungsverlauf des Kurztextes aus. Kurz vor dem Betreten der Kabine 18 wird noch einmal ein Bogen zu den Worten des Rechtsanwalts geschlagen, als der Beorderte zur Affirmation gegen seine Panik nahezu euphorisch-meditativ das Wort „Vertrauen“ (Z.32) in Gedanken wiederholt und sich schließlich selbst in der Kabine einschließt (vgl. Z.33). Hier erreicht die Spannung ihren Gipfel, bevor der Mythos um die wahre Daseinsberechtigung des Zentralbahnhofs als Tötungsanstalt belichtet wird. Die Leiche des Protagonisten wird sang- und klanglos abtransportiert.
Die oben als viral betitelte Verbreitung des Todesschicksals in der Gesellschaft hat eklatante Auswirkungen auf bisher elementare Bereiche des sozialen Umfelds des Protagonisten. Während „seine[...] Freunde“ dem Desillusionierten zunächst noch „Getränke und Imbiss“ (Z.13) anbieten, macht sich nach der Verkündung des vom Staat effizierten Schicksals eine unübersehbare Distanz zwischen dem Protagonisten und seinen Gastgebern breit. Typisch freundschaftliches Verhalten weicht einer existentiellen Abneigung, welche die Hilfsbereitschaft und das Mitgefühl der engen Vertrauten vollkommen betäubt. Stattdessen bewerten diese den Kontakt zu dem Opfer staatlichen Machkalküls anhand eines der Kosten-Nutzen Analyse ähnlichen Modells, aus welcher die schwindende Hoffnung auf eine Gegenleistung als ausschlaggebendes Argument hervorgeht, dem Freund, auch um der eigenen Sicherheit Willen, nicht zu helfen.
Die Tatsache, dass der gesamte Figurenschatz im Verlauf des Kurztextes keinerlei Namenszuordnung erfährt und Personen, denen der Protagonist in seinen letzten Tagen begegnet, lediglich funktional nach ihrer beruflichen Tätigkeit, so zum Beispiel die des „Rechtsanwalt[s]“ (Z.17), der „Gepäckträger“ (Z.28) der „Toilettenmänner“ (Z.33) oder, wie der „Nachbar[...]“ (Z.25) oder die Gruppe der „Freunde[...]“, nach ihrer Stellung im Leben des zentralen Charakters benannt werden, impliziert den Status des beschriebenen Prozesses als exemplarisches Beispiel für einen in der Szenerie der Kurzgeschichte bereits standardisierten und routinierten Ablauf. Dieser Standard-Charakter spiegelt sich auch in dem im Blocksatz gegliederten, wenig individualistischen Layout des Textes. Vor diesem Hintergrund scheint auch nicht einmal die genauere Identität des Protagonisten, der anfangs lediglich als „ein Jemand“ (Z.1) bezeichnet wird, von Bedeutung zu sein. Als zentrale Figur wird er jedoch als einziger auf seine derzeitigen Lebensumstände, als „nur noch begrenzt Lebendige[...][r]“ (Z.15) ,„zur Herrentoilette Beorderte[r]“ (Z.23) und „solchermaßen Betroffene[r]“ (Z.13), beschränkt, was wiederum für die Nichtigkeit der Identität des vom gesellschaftlich weit verbreiteten Schicksal betroffenen Einzelindividuums spricht. In diesem Kontext genügt also lediglich das Aufweisen bestimmter Attribute, sei es seine politische- oder religiöse Überzeugung oder eine bestimmte Ethnie, der er angehört, welche ihn aus Sicht des Erzählers für die Gruppe der ‚Jemands‘ qualifizieren.
Im Laufe von Kunerts Parabel charakterisiert er sich jedoch als durchaus emotionsgesteuerter Mensch, der bisher in wohl situierten Verhältnissen lebte. Grund zu letzterer Annahme gibt die Existenz eines gesonderten Ess- oder „Frühstückstisch[es]“ (Z.3) „innerhalb seiner Wohnung“(Z.1 f.). Die Verbindung von Emotion zur Handlung des Protagonisten manifestiert sich neben der der Verzweiflung geschuldeten Konsultation des Anwalts auch in seiner impulsgesteuerten Aktion, „mitten in der Nacht [...] an der Tür des Nachbarn“ (Z.25) zu klingeln. In beiden Fällen sind innere Unruhe und Panik entscheidende Handlungskatalysatoren. Der „brennende[...] Neid“ (Z.23) auf die „Fliege“ (Z.24) ist schließlich als Symptom einer niemals mehr erfüllbaren Sehnsucht nach Freiheit zu deuten und beweist wiederum die Omnipräsenz der Emotion im letzten Lebensabschnitt des Protagonisten. Zudem hofft dieser angesichts des drohenden Todes auf die Unterstützung von außen, möchte diese schlimme Lebensphase also keinesfalls als selbstbestimmter Einzelkämpfer durchlaufen. Letzten Endes können oder wollen ihn aber weder seine Freunde oder der Nachbar, noch der Rechtsanwalt aus seinem ausweglosen Schicksal befreien.
An zentralen Stellen im Text finden sich einige Passagen direkter oder erlebter Rede, die zum Beispiel die Gedanken des Protagonisten angesichts der sorglosen Fliege (vgl. Z. 24 f.) oder das Mantra des Advokaten, „Und vertrauen! Man muss Vertrauen haben! Vertrauen ist das wichtigste.“ (Z.22) wiedergeben. Kurz vor dem Ableben der Hauptfigur beschreibt eine Passage erlebter Rede noch einmal eindrucksvoll eine im Angesicht des Todes zunächst überraschend aufkommende Euphorie. Das direkte Zitieren des „amtlichen Druck[s]“ (Z.5) versetzt den Leser in die gleiche Situation wie den Protagonisten, um mit dem Beorderten mitzufühlen. Zudem ist die Verwendung von Kriegsvokabular, wie „kapitulier[...][en]“ (Z.26) oder „bespreng[...][en]“ (Z.29) zu bemerken. Nicht zuletzt die Allusion an den zentralen Repräsentanten des Nationalsozialismus, den Diktator Adolf Hitler, mithilfe der Zahlenkombination 18, welche für dessen Initialen AH steht, beweist als klassisches Tertium Comparationis die Existenz einer Metaebene in der sich in die Handlung der Kurzgeschichte direkte Verbindungen zu historischen Geschehnissen interpretieren lassen.
Der Einstieg in diese Metaebene eröffnet sich dem Leser sehr schnell, sodass sich der Kern der Geschichte, „ein Jemand“ (Z.1), der auf das Empfangen eines amtlichen Schreibens bezüglich seiner Hinrichtung sozial desintegriert wird und dem scheinbar keinerlei Recht auf einen gerechten Prozess zusteht, als weiteres Tertium Comparationis dechiffriert. Daraufhin lässt sich der epische Kurztext gattungstechnisch den literarischen Parabeln zuordnen. Während die Bildebene hierbei die Geschichte eines in den Zentralbahnhof Beorderten Einzelindividuums präsentiert, fungiert das Tertium Comparationis als Bindeglied zum Subtext, der Sachebene der Parabel. Dieser Subtext eröffnet dem Leser die Parallele zu den makabren, standardisierten Tötungsprozeduren der Nationalsozialisten im Dritten Reich. Genauer kann man in diesem Fall wohl von einem ins Konzentrationslager Beorderten Staatsfeind ausgehen.
Dieser offenbar Alleinstehende verliert im Zuge der Abkehr seiner Freunde und seines Nachbarn von Anfang an zusehends den Anker in seinem Leben. Er hofft zwar auf einen „entscheidende[...][n] Hinweis“ (Z.14), aus Angst, sich dadurch auch zum Ziel des Machtkalküls der Nationalsozialisten zu machen, „bleibt [dieses aber] aus“ (Z.14). Als einziger Ausweg vor den Fängen der fremdenfeindlichen Rassen-Ideologie der Nationalsozialisten blieb Staatsfeinden oder Mitgliedern der als minderwertig angesehenen Rassen oft nichts anderes übrig, als in einer solchen Situation zu fliehen oder unterzutauchen. Bei der Konsultation seiner Freunde erwartet der Protagonist wohl ein Hilfsangebot. Dies ist aber mit der omnipräsenten Gefahr verbunden, erwischt und gleichermaßen getötet zu werden, verbunden, weshalb Zivilcourage in diesen Fällen ebenfalls mit Folter oder Tod bestraft würde. Wie die Freunde, weiß auch der Hauptcharakter über die Willkür der diktatorischen Machthaber bescheid und ist sich dessen bewusst, dass der Kontakt mit ihm als nun stigmatisierter Staatsfeind für seine Mitmenschen potentiell gefährlich ist. Sowohl bei der Kontaktaufnahme mit seinen Freunden als auch beim nächtlichen Klingeln „an der Tür des Nachbarn“ (Z.25) , „kapituliert“ (Z. 26) der Resignierte relativ schnell, da er diese Abkapselung seines Umfeld als Reaktion auf sein Stigma identifizieren kann.
Dieses ist ihm seit dem Erhalten des Briefs von staatlicher Seite auferlegt. Der Inhalt des „amtliche[n] Druckes“ (Z.5) wird in der Bildebene der Geschichte ungeschönt und direkt zitiert wiedergegeben, was den Einstieg in die Sachebene unabdingbar macht. Bereits das Zukommenlassen dieses Briefs auf eine dem Protagonisten unbekannte Weise (vgl. Z.3) ist als Provokation der NS-Ideologisten zu sehen. Diese demonstrieren so ihre Zugriffseffizienz in die Privatsphäre ihres „frisch gebackenen Klienten“ (Z.21) und somit ihre Macht, ihn bereits jetzt, auf demselben Weg wie der Brief unbemerkt hereinkam, skrupellos aus seiner Wohnung zu entführen. Mit der „Bestrafung“ (Z.10) als Konsequenz der „Nichtbefolgung d[...]er Aufforderung“ (Z.9), die auch seitens des Rechtsanwaltes elaboriert als vermeidbare „Repressalie[...]“ (Z.18) betitelt wird, ist wohl die Zwangseinweisung in ein Arbeitslager, welche einen qualvolleren Tod nach sich ziehen würde, gemeint, wie aber auch das Angstkalkül des nationalsozialistischen Machtapparats. Der Terminus „leichte Bekleidung“ (Z.11) erlaubt die Parallelziehung zur lakenartigen Uniformierung der Konzentrations- oder Arbeitslagerinsassen während der Epoche der NS-Diktatur. Das Befolgen dieser Kleiderordnung erzielt auch im vorliegenden Kurztext die erwünschte Wirkung, den zum Tode Verurteilten schon vor seinem Ableben „frösteln[...]“ (Z.27) zu lassen, also schutzlos der Kälte und dem bevorstehenden Schicksal begegnen zu müssen. Zudem kann die Kleidung im Zuge der Säuerung nach den Tötungen leicht entsorgt werden.
Die Machtlosigkeit des Einzelnen gegen ein derartig skrupelloses Regime manifestiert sich vor allem während des Gesprächs mit dem ebenfalls namenlosen Anwalt, dessen zentrale Aufgabe in dieser Szenerie offenbar nicht die Vertretung eines Rechtsstaates und die Verteidigung von Bürgerrechten, sondern die seelische Unterstützung angesichts des ausweglosen Schicksals des Protagonisten ist. Zwar setzt er eine offizielle „Eingabe“ (Z.18), hier als Einwand zu verstehen, gegen das vom Staat auferlegte Todesurteil auf, enthüllt das als sehr gering eingeschätzte Erfolgspotential desselben aber, indem er nicht zur Gegenwehr, sondern zur Systemkonformität rät (vgl. Z. 18 f.). Der schriftliche Einwand hat demnach, angesichts der staatlichen Beorderung, eher die Aussagekraft einer defensiven Meinungsäußerung als die eines offensiven gerichtlichen Einspruchs. Der Advokat weiß also über die Ineffizienz der Widerspruchsmöglichkeiten gegen den willkürlich agierenden Staatsapparat Bescheid. Da das Konzept der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gericht vor diesem historischen Hintergrund nicht für Staatsfeinde griff, möchte er seinem Klienten mittels der Empfehlung, „den Termin [...] aber auf jeden Fall einzuhalten“ (Z.18), zumindest Repressalien oder andere Konsequenzen wie etwa die Einweisung in ein Konzentrationslager ersparen. Um den Protagonisten dahingehend zu bestärken, fungiert der euphemistische Erklärungsversuch des Vorliegens eines „Druckfehler[s]“ (Z.20) als reine Beruhigungsmaßnahme. Die Bezeichnung des Jemands als „frisch gebackener Klient“ (Z.21) ist hierbei als metaphorische Beschönigung und möglicherweise Andeutung der zu dieser Zeit eingeführten Judensterne zu verstehen, die den Hauptcharakter auch äußerlich erkennbar dem „Klientel der Juden“ zuordnen. Zudem wird das Verhältnis der Juden zum Staat damals wie in der Parabel mit einer Geschäftsbeziehung parallelisiert, da diese bislang hauptsächlich als Kaufmänner tätige Ethnie gesonderte Judensteuern an den Staat zu zahlen hatte.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2020, Interpretation des epischen Kurztextes "Zentralbahnhof" von Günter Kunert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/538698
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