Menschen werden tagtäglich damit konfrontiert, Entscheidungen treffen zu müssen. Dies reicht von simplen Alltagshandlungen bis zu komplexen Problemen wie einem persönlichen Umzug oder einer folgenreichen beruflichen Entscheidung. Einige dieser Entscheidungen werden bewusst und mit vorheriger Abwägung getroffen, der Großteil aber, nämlich 70–80 %, wird unbewusst ohne vorherige Auseinandersetzung mit dem Problem oder der Fragestellung getroffen. Es gibt eine Vielzahl an Forschungen darüber, wie und mit welcher Systematik diese unbewussten Entscheidungen getroffen werden, wie fehleranfällig diese sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen können. Die dafür verantwortlichen mentalen Prozesse werden Heuristiken genannt. Sie sind zeitsparend und in der Regel effektiv und korrekt, manchmal führen sie jedoch zu Fehleinschätzungen, sog. kognitiven Verzerrungen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Zustandekommen unbewusster Entscheidungen und wie sich diese beeinflussen lassen. Der Fokus liegt dabei auf der Ankerheuristik, die im sog. Ankereffekt resultiert. Dieser beschreibt die unbewusste Beeinflussung einer Entscheidung durch vorherige Präsentation einer bestimmten Information, z. B. einer Zahl. Der Effekt ist mittlerweile gut erforscht und auch in den Mainstream-Medien präsent. Bspw. zeigen Online-Nachrichtenseiten wie das manager magazin Videos zum Ankereffekt und dazu, wie dieser sich in Gehaltsverhandlungen nutzen lässt. Im Laufe dieser Arbeit wird der Ankereffekt in den Kontext der Verhaltensökonomik eingebettet und es wird erläutert, wie dieser zustande kommt, ob und wie man ihn umgehen kann und welche Konsequenzen sich aus ihm ergeben.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Formelverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielsetzung und Gang der Arbeit
2 Verhaltensökonomische Grundlagen zur Erklärung des Ankereffektes
2.1 Definition Verhaltensökonomik
2.2 Historie der Verhaltensökonomik
2.3 Unterschied zur Wirtschaftswissenschaft
2.4 System 1 und System 2
2.5 Heuristiken und Verzerrungen
2.5.1. Verfügbarkeitsheuristik
2.5.2. Repräsentativitätsheuristik
2.5.3. Rekognitionsheuristik
3 Ankereffekt
3.1 Definition
3.2 Beispiele und Stand der Forschung
3.3 Vermeidung des Ankereffektes
3.4 Ankerungsindex
3.5 Ursachen des Ankereffektes
3.6 Ableitung der Untersuchung und der Hypothese
3.6.1. Hypothese 1: Auswirkungen von Geschlecht, Alter und Bildungsstand auf die Schätzungen
3.6.2. Hypothese 2: Auftreten des Ankereffektes
3.6.3. Hypothese 3: Eliminierung des Ankereffektes
3.6.4. Hypothese 4: Reduktion des Ankereffektes
4 Methodisches Vorgehen zur Datenerhebung
4.1 Stichprobe und Design
4.2 Erstellung des Fragebogens
4.3 Pretest und Durchführung der Untersuchung
5 Auswertung und Diskussion der Befragung
5.1 Überprüfung der Hypothesen
5.1.1. Überprüfung der Hypothese 1: Auswirkungen von Geschlecht, Alter und Bildungsstand auf die Schätzungen
5.1.2. Überprüfung der Hypothese 2: Auftreten des Ankereffektes
5.1.3. Überprüfung der Hypothese 3: Eliminierung des Ankereffektes
5.1.4. Überprüfung der Hypothese 4: Reduktion des Ankereffektes
5.2 Ergebnisdiskussion
6 Fazit
6.1 Zielerreichung
6.2 Perspektiven
Anhang VII
Literaturverzeichnis XXX
Internetquellenverzeichnis XXXV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Wertfunktion der Neuen Erwartungstheorie
Abbildung 2 Tatsächliche und geschätzte Wahrscheinlichkeiten im Experiment zur Repräsentativitätsheuristik
Abbildung 3: Hypothetische Verteilung plausibler und nicht plausibler durchschnittlicher Temperaturwerte im Wissensspektrum
Abbildung 4: Einfluss von Emotionen und Bewusstheit auf Heuristiken
Abbildung 5 Boxplot-Analyse Gruppe 1 (niedriger Anker, Wolga) vor und nach Entfernung Ausreißer
Abbildung 6 Boxplot-Analyse Gruppe 1 (niedriger Anker, Tower)
Abbildung 7 Boxplot-Analyse Gruppe 2 (hoher Anker, Wolga) vor und nach Entfernung Ausreißer
Abbildung 8 Boxplot-Analyse Gruppe 1 (hoher Anker, Tower) vor und nach Entfernung Ausreißer
Abbildung 9 Korrigiertes R-Quadrat Regressionsanalyse, Wolga
Abbildung 10 Signifikanz der einzelnen Prädiktoren, Wolga
Abbildung 11 Einfaktorielle Varianzanalyse Wolga
Abbildung 12 Welch-Test Wolga
Abbildung 13 t-Test für unabhängige Stichproben, Wolga
Abbildung 14 Korrigiertes R-Quadrat Regressionsanalyse, Tower XXVIII
Abbildung 15 Signifikanz der einzelnen Prädiktoren, Tower XXVIII
Abbildung 16 Einfaktorielle Varianzanalyse Tower XXIX
Abbildung 17 Welch-Test Tower XXIX
Abbildung 18 t-Test für unabhängige Stichproben, Tower XXIX
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Stichprobenbeschreibung Geschlecht
Tabelle 2 Stichprobenbeschreibung Altersgruppen
Tabelle 3 Stichprobenbeschreibung Bildungsabschlüsse XXVII
Formelverzeichnis
Formel 1 Ankerungsindex
Formel 2 Ankerungsindex befüllt, vor Erklärung
Formel 3 Ankerungsindex befüllt, nach Erklärung
1 Einleitung
Menschen werden tagtäglich damit konfrontiert, Entscheidungen treffen zu müssen. Dies reicht von simplen Alltagshandlungen bis zu komplexen Problemen wie einem persönlichen Umzug oder einer folgenreichen beruflichen Entscheidung. Einige dieser Entscheidungen werden bewusst und mit vorheriger Abwägung getroffen, der Großteil aber, nämlich 70-80 %,1 wird unbewusst ohne vorherige Auseinandersetzung mit dem Problem oder der Fragestellung getroffen. Es gibt eine Vielzahl an Forschungen darüber, wie und mit welcher Systematik diese unbewussten Entscheidungen getroffen werden, wie fehleranfällig diese sind und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen können. Die dafür verantwortlichen mentalen Prozesse werden Heuristiken genannt. Sie sind zeitsparend und in der Regel effektiv und korrekt,2 manchmal führen sie jedoch zu Fehleinschätzungen, sog. kognitiven Verzerrungen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Zustandekommen unbewusster Entscheidungen und wie sich diese beeinflussen lassen. Der Fokus liegt dabei auf der Ankerheuristik, die im sog. Ankereffekt resultiert. Dieser beschreibt die unbewusste Beeinflussung einer Entscheidung durch vorherige Präsentation einer bestimmten Information, z. B. einer Zahl. Der Effekt ist mittlerweile gut erforscht und auch in den Mainstream-Medien präsent. Bspw. zeigen Online-Nachrichtenseiten wie das manager magazin Videos zum Ankereffekt und dazu, wie dieser sich in Gehaltsverhandlungen nutzen lässt.3
Im Laufe dieser Arbeit wird der Ankereffekt in den Kontext der Verhaltensökonomik eingebettet und es wird erläutert, wie dieser zustande kommt, ob und wie man ihn umgehen kann und welche Konsequenzen sich aus ihm ergeben.
1.1 Problemstellung
Durch den Ankereffekt sind Menschen in gewisser Weise manipulierbar. Wie der weitere Verlauf der Arbeit zeigen wird, ist es schwer, dem Effekt nicht zu erliegen. Bspw. sind auch Experten4, die in ihrem Fachgebiet eine Schätzung abgeben oder eine Entscheidung treffen sollen, nicht immun gegen ihn sind. Die bisherige Forschung postuliert, dass der Effekt unbewusst abläuft und auch durch das Wissen darüber nicht verringert wird. Priming, d. h. die Aktivierung bestimmter Gedächtnisinhalte oder Assoziationen vor einer Aufgabe, Aktion oder Entscheidung,5 durch einen Anker kann folglich eine Entscheidung oder Schätzung stark beeinflussen und somit gravierende Folgen nach sich ziehen, egal ob auf persönlicher Ebene, wenn es bspw. um folgenreiche Entscheidungen wie einen Hauskauf geht oder auch im Berufsleben, wenn bspw. der Wert eines zu übernehmenden Unternehmens zur Diskussion steht. Die Möglichkeiten zur Vermeidung des Effektes sollten deshalb verstärkt erforscht werden, um die Fehleranfälligkeit bei zu treffenden Entscheidungen zu reduzieren.
1.2 Zielsetzung und Gang der Arbeit
Die vorliegende Arbeit wird den Ankereffekt beschreiben, erläutern und durch eine empirische Untersuchung messbar darstellen. Es wird der Einfluss der Faktoren Geschlecht, Alter und Bildungsstand auf den Effekt analysiert. Darüber hinaus wird überprüft, ob der Ankereffekt tatsächlich nicht durch eine Gegenstrategie, in diesem Fall die Bewusstmachung des Effektes, beeinflussbar ist.
Dazu wird in Kapitel 2 zuerst ein theoretisches Grundlagenwissen über das Gebiet der Verhaltensökonomik vermittelt, in deren Kontext der Ankereffekt schlussendlich eingebettet ist. Hierzu wird diese definiert, die historische Entwicklung erläutert und von den klassischen Wirtschaftswissenschaften, die das Treffen von Entscheidungen auf eine grundsätzlich andere Art und Weise erklären, abgegrenzt. Daraufhin wird das Gebiet der Verhaltensökonomik vertieft und es wird dargestellt, durch welche Mechanismen bewusste und unbewusste Entscheidungen getroffen werden. Hiernach werden die beiden bereits genannten Begriffe „Heuristik“ sowie „kognitive Verzerrung“ vertiefend erklärt. Es folgt die beispielhafte Erläuterung einiger Heuristiken und daraus resultierender Verzerrungen.
Kapitel 3 beschäftigt sich schließlich mit der Theorie des Ankereffektes. Nach einer Definition folgt die Klärung der zugrundeliegenden Ursachen. Es werden einige Beispiele genannt und ein Überblick über bestehende Forschungsergebnisse gegeben. Es findet außerdem eine Erläuterung des sog. Ankerungsindex statt, der im späteren Verlauf der Arbeit zur Messbarkeit des Effektes herangezogen wird. Basierend auf den in Kapitel 3 erläuterten theoretischen Grundlagen werden im Anschluss vier Hypothesen zur Wirkungsweise des Effektes aufgestellt.
Kapitel 4 widmet sich der Methodik für die Erhebung der für die Hypothesenprüfung notwendigen Daten. Neben der Prüfung auf vorliegende Gütekriterien werden Stichprobe und Design sowie die Erstellung des Fragebogens, mit dessen Hilfe die Hypothesen getestet werden, beschrieben. Kapitel 4 beinhaltet ebenfalls die Beschreibung der Untersuchungsdurchführung.
In Kapitel 5 wird die Befragung schließlich ausgewertet und die Hypothesen werden nacheinander überprüft. Die Ergebnisse werden dargestellt und diskutiert.
Kapitel 6 fasst den Verlauf und die Ergebnisse der Arbeit in einem Fazit zusammen und gibt einen Ausblick für mögliche zukünftige Verwendungszwecke des Ankereffektes sowie weitere mögliche Forschungsansätze und deren Nutzen.
Insgesamt soll durch die Arbeit dazu beigetragen werden, den Einfluss der Ankerheuristik zu minimieren und damit die Möglichkeiten für eine bessere und weniger beeinflusste Entscheidungsfindung zu geben.
2 Verhaltensökonomische Grundlagen zur Erklärung des Ankereffektes
Der Ankereffekt ist eine von vielen Heuristiken, die im verhaltensökonomischen Umfeld erforscht werden. Das folgende Kapitel behandelt die Verhaltensökonomik und grenzt sie von den klassischen Wirtschaftswissenschaften ab, erklärt Prozesse der Entscheidungsfindung und gibt einen Überblick über verschiedene Heuristiken und ihre Wirkungsweisen.
2.1 Definition Verhaltensökonomik
„Die Verhaltensökonomik ist ein noch junger Bereich der Wirtschaftswissenschaft, der sich mit den Abweichungen menschlichen Verhaltens vom Verhaltensmodell des homo oeconomicus befasst.“6 Menschliches Entscheidungsverhalten wird nicht ausschließlichdurch die in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden Mechanismen erklärt. Stattdessen wird die Entstehung einer Entscheidung durch weitere Prozesse und Faktoren, wie bspw. Heuristiken und Normen, ergänzt.7 Die Verhaltensökonomik versucht außerdem, die traditionelle Wirtschaftswissenschaft mit der Psychologie zu vereinen. Das Ziel dieser Forschungsrichtung besteht darin, die grundsätzlich richtigen und wichtigen Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft durch die Psychologie zu verfeinern und verbessern. Verhaltensökonomik stellt in diesem Sinne keine neue Theorie dar, sondern beschäftigt sich mit der Wiedervereinigung von Ökonomie und Psychologie. Während die Ökonomie sich hauptsächlich mit zahlenbasierten und mathematischen Theorien beschäftigt, sind Theorien in der Psychologie verbale Konstrukte. Durch diese unterschiedlichen Methoden wurden beide Richtungen in der Vergangenheit nur noch getrennt betrachtet.8
2.2 Historie der Verhaltensökonomik
In der frühen Forschung zum Homo Oeconomicus, dem rational entscheidenden Menschen,9 haben psychologische Elemente keinen Platz gefunden oder wurden sogar explizit ausgeschlossen. Die Einarbeitung eines entsprechenden Faktors wurde als unreif und unklug abgetan. Theorien und Probleme sollten nur auf die gleiche Art und Weise angegangen werden wie in der Physik, nämlich durch reine Mathematik.10
Im Jahre 1955 hat Herbert Simon erstmals postuliert, dass das Konzept des Homo Oeconomicus einer drastischen Überarbeitung bedarf. Ziel müsse sein, die Theorie an die tatsächlich möglichen kognitiven Kapazitäten des Menschen anzupassen, da dieser Faktor bisher außer Acht gelassen wurde.11 Simon verwies auf die fehlenden Beweise, dass die bisher behaupteten Berechnungen bei rationaler Entscheidungsfindung durch den menschlichen Verstand tatsächlich durchgeführt werden und stellte die Theorie in den Raum, dass sich der tatsächliche Prozess zur Entscheidungsfindung von dem unterscheidet, der bisher als gültig angesehen wurde.12 Durch die begrenzte Rationalität, d. h. der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität des Menschen, erfolgt laut Simon eine Simplifizierung der Welt, die der einfacheren Entscheidungsfindung dient.13
In den 1970er Jahren begannen viele Psychologen, sich mit den Prozessen der Entscheidungsfindung zu beschäftigen.14 1981 haben Kahneman und Tversky herausgestellt, dass die Entscheidungsfindung von Menschen auch von dem sog. `decision frame` abhängt, d. der Vorstellung entscheidungstreffenden Individuums über Handlungen und Ergebnisse. Diese Vorstellung ist teilweise geprägt durch die Formulierung des Problems und zum anderen Teil durch Normen, Gewohnheiten und persönliche Charakterzüge. Diese durch Experimente belegte Tatsache zeigte, dass Präferenzen und Entscheidungen nicht rational sind und somit der bisherigen Theorie widersprachen.15 Kahneman erhielt 2002 neben Vernon Smith den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften „für das Einführen von Einsichten der psychologischen Forschung in die Wirtschaftswissenschaft, besonders bezüglich Beurteilungen und Entscheidungen bei Unsicherheit“16.
Ein weiterer Wegbereiter der Verhaltensökonomik war der soeben genannte Vernon Smith, der Experimente zum Testen der ökonomischen Standardmodelle durchführte. Seine Ergebnisse deckten sich zwar mit den klassischen Theorien.17 Nichtsdestotrotz brachte ihm seine Forschung, neben Kahneman, 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ein, konkret „für den Einsatz von Laborexperimenten als Werkzeug in der empirischen ökonomischen Analyse, insbesondere in Studien unterschiedlicher Marktmechanismen“ 18. Hiermit wurden die eher in der Psychologie durchgeführte Beweisführung durch Experimente auf die Wirtschaftswissenschaften übertragen.
Mit der Spieltheorie, die im Allgemeinen die Analyse strategischer Entscheidungssituationen umfasst,19 stellte der Ökonom Reinhard Selten Anfang der 60er Jahre das bestehende System, das den Homo Oeconomicus postulierte, in Frage.20 Es ist hiernach nicht eindeutig, wie der Homo Oeconomicus handeln muss, um ein optimales Ergebnis zu erzielen, außerdem spielen Beweggründe wie Egoismus über Rationalität hinaus eine Rolle.21 Experimente fanden endgültig den Weg von der Psychologie in die klassische Wirtschaftswissenschaft und machten Modelle der Verhaltensökonomik glaubwürdig. Selten selbst sagte dazu einmal: „Immer mehr kam ich zu dem Schluss, dass Ansätze, die über die Annahmen menschlichen Verhaltens spekulierten, wie wir es in unserer bisherigen wissenschaftlichen Arbeit getan hatten, nur von begrenztem Wert sind. Das Konzept des begrenzt rational wirtschaftlichen Verhaltens kann nicht im Bürosessel erfunden werden, es muss experimentell untersucht werden.“22 Die Spieltheorie und die in diesem Zuge durchgeführte Forschung zur Interaktion von Menschen und Institutionen verschafften der Verhaltensökonomik den endgültigen Durchbruch.23
Seitdem erfährt die Forschung zur Verhaltensökonomik stetigen Aufwind und findet auch in populären Medien Erwähnung. Neuere Forschungen stammen bspw. von Thaler, ebenfalls für seine Beiträge zur Verhaltensökonomik mit dem Nobelpreis ausgezeichnet,24 der in einem Artikel für die New York Times ein praktisches Beispiel seines Lehralltags anführte. Seine Schüler reagieren demnach positiver, wenn das Notenmaximum bei Klausuren 137 statt 100 beträgt. Die veränderte Reaktion trotz prozentual gleichem Ergebnis widerspricht klar dem Weltbild des Homo Oeconomicus und zeigt, welche Rolle scheinbar irrelevante Faktoren spielen.25
2.3 Unterschied zur Wirtschaftswissenschaft
Die Wirtschaftswissenschaft geht im Gegensatz zur Verhaltensökonomik von der Rationalität des Menschen aus. Das heißt, seine Entscheidungen beruhen auf der gründlichen Abwägung des zu erwartenden Nutzens und der zu erwartenden Kosten.26
Die zentrale Gestalt der klassischen Wirtschaftswissenschaft ist der Homo Oeconomicus. Dieser begeht bei seiner Entscheidungsfindung keine Fehler und Emotionen haben keinen Einfluss.27 Charakteristisch für den Homo Oeconomicus sind drei zentrale Annahmen:28
unbegrenzte Rationalität
unbegrenzte Willenskraft
unbegrenztes Eigennutzstreben.
Diese drei Eigenschaften entsprechen jedoch nicht der Realität. Die Rationalität der Menschen ist begrenzt, folglich gibt es kognitive Beschränkungen und es werden Fehler begangen. Hier kommen die sog. Heuristiken ins Spiel, die wegen der kognitiven Beschränkungen genutzt werden. Die Willenskraft des Menschen ist ebenfalls nicht unbegrenzt, weswegen auch rational sinnige Entscheidungen verschoben oder nicht getroffen werden. Weiterhin ist auch das Eigennutzstreben begrenzt. Faktoren wie das Befinden von Mitmenschen spielen durchaus eine Rolle bei Entscheidungen.29
Camerer hat im Jahre 1999 einige Theorien der klassischen Wirtschaftswissenschaft Theorien aus der Psychologie gegenübergestellt, um die ergänzenden oder widersprüchlichen Faktoren darzustellen.30 Diese werden im Folgenden erläutert.
Die klassische Wirtschaftswissenschaft stützt sich auf das Prinzip der exponentiellen Diskontierung. Der Zeitpunkt einer Auszahlung wird demnach rational entschieden, indem der Nutzen einer Auszahlung x zu einem Zeitpunkt a dem Nutzen einer Auszahlung x + y zu einem späteren Zeitpunkt b rechnerisch gegenübergestellt wird. Bspw. wird eine Auszahlung von 100 € sofort einer Auszahlung von 100 € + 10 € in einer Woche gegenübergestellt. Es dürfte es keinen Unterschied in den Präferenzen geben, wenn der Abstand zwischen den Zahlungen gleichbleibt, theoretisch ist das genannte Beispiel demnach genauso zu bewerten wie eine Auszahlung von 100 € in 52 Wochen gegenüber einer Auszahlung von 110 € in 53 Wochen.31 Wenn die erste Zahlung jedoch wie im zweiten Beispiel bereits in weiter Ferne liegt, wird der Unterschied zur zweiten Zahlung nicht mehr als kritisch wahrgenommen und es wird die spätere Auszahlung mit einem höheren Wert gewählt.32 Dies wird hyperbolisches Diskontieren genannt und widerspricht der klassischen Wirtschaftswissenschaft. Diese lässt weiterhin keine psychologischen Phänomene wie das Genießen von späteren Belohnungen zu.33
Die klassische Wirtschaftswissenschaft geht weiterhin davon aus, dass der Mensch beim Treffen von Entscheidungen nur auf seinen Vorteil bedacht ist und keine Opfer erbringen würde, um andere Menschen zu verletzen oder ihnen zu helfen.34 Dies zeigt das sog. `Ultimatum Game`, in dessen ursprünglicher Version eine Person 10 $ erhält und einen Teil davon einer anderen Person überlassen kann. Die zweite Person kann dieses Angebot annehmen oder ablehnen. Das Annehmen gleich welchen Betrages wäre ein Gewinn für die zweite Person. D. h., nach der Theorie des Homo Oeconomicus müsste diese das Angebot immer annehmen, was in der Praxis aber nicht geschieht.35 Darüber hinaus zeigen weitere Experimente der Spieltheorie, dass auch Vertrauen und gegenseitige Gefälligkeiten eine Rolle spielen, so dass die von der klassischen Wirtschaftswissenschaft postulierte Eigennutzenmaximierung in der Realität nicht stattfindet.36
Weiterhin dominiert in der klassischen Wirtschaftswissenschaft das Modell der Erwartungsnutzentheorie, die auch Basis für diverse weitere Standards in der Wirtschaft ist, bspw. der Bewertung von Anlagegütern oder den Abschluss von Versicherungen. Sie besagt, dass Individuen beim Glücksspiel ihre Entscheidung durch die Gewichtung vom Nutzen des Ergebnisses und der Wahrscheinlichkeit abhängig machen und das Ergebnis, d. h. den Gewinn, in ihren Wohlstand integrieren.37 In der von Kahneman und Tversky geschaffenen Neuen Erwartungstheorie ist diese Berechnung nicht mehr rational, da persönliche Erfahrungen integriert werden und Wahrscheinlichkeiten nicht rational gewichtet werden.38 Es werden verstärkt Risiken in Kauf genommen, wenn Gewinne in Aussicht stehen, umgekehrt werden Risiken vermieden, wenn Verluste zu erwarten sind. Die in der Regel zu hohe Gewichtung geringer Wahrscheinlichkeiten steht der Rationalität von Entscheidungen entgegen. Als Beispiel einer Konsequenz dieser Tatsache sei hier Lotto spielen genannt, wo eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit auf einen Gewinn besteht, diese jedoch übermäßig hoch wahrgenommen wird.39 Abbildung 1 zeigt die von Kahneman und Tversky entworfene hypothetische Wertfunktion, die die unterschiedlich starke Wahrnehmung von Gewinnen und Verlusten darstellt, sich also nicht auf den reinen Nutzen beschränkt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Wertfunktion der Neuen Erwartungstheorie
Quelle: In Anlehnung an Kahneman, D., Tversky, A., Prospect, 1979, S. 279
Weiterhin besteht in der klassischen Wirtschaftswissenschaft stets die Annahme von Gleichgewicht, bspw. in Märkten, wo die Nachfrage und das Angebot ein Gleichgewicht finden, oder in der Spieltheorie, wo jeder Mitspieler die optimale Strategie wählt. Wie dieses Gleichgewicht zustande kommt, hat jedoch lange nicht im Fokus der Forschung gestanden.40 Studien zeigen diesbezüglich, dass Menschen lernen, indem sie erfolgreiche Strategien oder solche, die es rückblickend gewesen wären, verfestigen. In der Spieltheorie spricht man hier von der sog. `experience-weighted attraction rule`.41
Die Psychologie postuliert die Theorie des Lernens durch Verfestigung, das sog. Verstärkungslernen. Bezogen auf die Spieltheorie bedeutet dies, dass erfolgreiche Strategien verfestigt werden. Die klassische Wirtschaftswissenschaft postuliert die Theorie des Erwartungslernens, was übertragen auf die Spieltheorie heißt, dass die Spieler ihre Aktionen durch Prognosen basierend auf den vergangenen Aktionen der Gegner gestalten.42
Anders als ursprünglich angenommen sind diese beiden Arten des Lernens sehr ähnlich zueinander und nicht grundverschieden. Die Ergänzung durch psychologische Forschung verfeinert die Theorien über das Gleichgewicht insofern, dass es nicht mehr nur darum geht, wie Menschen sich verhalten sollten, um ihren Wohlstand zu maximieren, sondern wie sie sich tatsächlich verhalten.43
Weiterhin hat Rabin 2002 zusammenfassend drei Abweichungen der Verhaltensökonomik zu der klassischen Erwartungsnutzentheorie, die in den klassischen Wirtschaftswissenschaften zentral ist, herausgearbeitet. Dazu gehören Abweichungen der Nutzenfunktion mit feststehenden Präferenzen. Diese sind laut Rabin nicht feststehend, da bspw. auch soziale Präferenzen eine Rolle spielen. Weiterhin gibt es Abweichungen in der Erwartungsfunktion, da bspw. Heuristiken berücksichtigt werden und die erwarteten Wahrscheinlichkeiten und somit das erwartete Ergebnis durch kognitive Verzerrungen subjektiv verändert sein kann. Die dritte Abweichung betrifft das Treffen von Entscheidungen, da die Entscheidung nicht nur vom erwarteten Ergebnis, sondern auch von der Präsentation des Ergebnisses, wie bspw. die Einbettung in den Kontext, abhängt.44
Um das Wesen der Verhaltensökonomik nach Thaler zusammenzufassen ist dieses die klassische Wirtschaftswissenschaft, ergänzt durch vermeintlich, aber nicht tatsächlich irrelevante Faktoren.45 Somit ist sie als realistische Weiterentwicklung zu betrachten.
2.4 System 1 und System 2
Der Mensch trifft Entscheidungen, wie in der Einleitung angedeutet, auf unterschiedliche Art und Weise. Bewusste und unbewusste Entscheidungen folgen dabei unterschiedlichen Prozessen. In der Psychologie haben sich die von Stanovich und West eingeführten Begriffe System 1 und System 2 für die beiden zu unterscheidenden Arten der Entscheidungsfindung durchgesetzt.46
Bei der Beschreibung dieser Systeme und deren Wirkungsweisen ist vorauszuschicken, dass diese Begriffe keine tatsächlich in sich geschlossenen Systeme abbilden, die an einer bestimmten Stelle im Gehirn lokalisiert sind und miteinander interagieren. Vielmehr dienen sie der besseren Umschreibung der beiden Wege, wie Entscheidungen getroffen werden.47
System 1 läuft automatisiert und unbewusst sowie mit wenig mentalem Aufwand und trifft schnelle Entscheidungen basierend auf heuristischen Prozessen. Hier entstehen die Eindrücke und Gefühle, die die von System 2 bewusst getroffenen Entscheidungen beeinflussen.48 Diese Eindrücke, Gefühle, Absichten und Intuitionen werden ohne Unterbrechung generiert.49 System 1 vollzieht bspw. folgende einfache Aktivitäten:50
Mit dem Auto über eine leere Straße fahren.
Die Rechenaufgabe 2 + 2 lösen.
Wörter auf großen Reklameflächen lesen. x Einfache Sätze verstehen.
System 2 hingegen trifft Entscheidungen basierend auf kontrollierten Denkprozessen und analytischer Intelligenz.51 Wenn es die Eindrücke und Intuitionen von System 1 unterstützt, werden diese zu Überzeugungen und Impulsen und werden in Handlungen umgesetzt.52 System 2 wird nicht dauerhaft in Anspruch genommen und verbraucht daher im passiven Zustand nur wenig mentale Energie. Es wird erst aktiviert, wenn System 1 keine Antwort oder Entscheidung liefern kann. Es ist außerdem dafür zuständig, Impulshandlungen durch System 1 zu unterdrücken oder zu verändern, wenn diese nicht angemessen sind, folglich dient es der Selbstbeherrschung.53 In allen anderen Fällen gibt System 2 den Handlungsanweisungen von System 1 nach.54 Aktivitäten von System 2 erfordern Aufmerksamkeit und Konzentration, andernfalls wird das Ergebnis negativ beeinflusst. Beispiele für Aktivitäten von System 2 sind:55
Zählen, wie oft der Buchstabe a auf einer Textseite vorkommt.
Sich auf die Stimme einer bestimmten Person in einem überfüllten und sehr lauten Raum konzentrieren.
Details von Kaufprodukten vergleichen. x Eine Steuererklärung anfertigen.
Durch die ständige und automatische Aktivität von System 1 geschehen Denkfehler, die sich oftmals nur durch eine Überwachung von System 2 vermeiden lassen, was jedoch hohe mentale Anstrengung fordern würde. Durch die in der Regel passenden Entscheidungen von System 1 wäre die kräftezehrende, dauerhafte Aktivierung von System 2 außerdem unpraktisch und vor allem kräftetechnisch unmöglich.56
Es ist zusammenfassend zu erwähnen, dass in System 1 die Heuristiken ablaufen, die zu unbewussten Entscheidungen und manchmal zu kognitiven Verzerrungen führen. Diese beiden Konstrukte werden im folgenden Kapitel vertiefend behandelt.
2.5 Heuristiken und Verzerrungen
“In making predictions and judgments under uncertainty, people do not appear to follow the calculus of chance or the statistical theory of prediction. Instead, they rely on a limited number of heuristics which sometimes yield reasonable judgments and sometimes lead to severe and systematic errors.”57 Mit diesem Zitat von Kahneman und Tversky lässt sich der Grundgedanke zu Urteilsheuristiken und daraus resultierend kognitiveren Verzerrungen einführend beschreiben.
Wird ein Mensch nach einer Wahrscheinlichkeit oder Vorhersage gefragt oder soll er komplexe Aufgaben lösen und hat keine Lösung parat, stützt er sich, wie auch bei jeder unbewussten Entscheidung, auf heuristische Prinzipien. Diese lassen ihn durch die Verwendung einfacher Urteilsoperationen eine Antwort auf die gestellte Frage finden.58 Heuristiken sind in diesem Sinne nichts anderes als das Ergebnis mentaler Abkürzungen zur Lösung.59
Heuristiken zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus. Erstens sind sie einfach, da sie kognitive oder auch motorische Prozesse nutzen, die bereits angeboren sind oder erlernt wurden. Durch die Blickheuristik bspw. lassen sich bewegte Objekte mit den Augen verfolgen. Zweitens nutzen sie Umweltstrukturen, d. h. sie beziehen sich im Entscheidungsprozess auf die Umwelt und nutzen diese. So wird, um beim Beispiel der Blickheuristik zu bleiben, die komplexe Flugbahn des Balls in eine gerade Linie umgewandelt, um den Zielpunkt zu erkennen. Drittens sind Heuristiken sog. Prozess-Optimierungsmodelle, die sich im Gegensatz zu sog. „Als-ob“-Optimierungsmodellen dadurch auszeichnen, dass die kognitiven Prozesse betrachtet werden, statt ihnen unbewusste, aber detaillierte und rationale Berechnungen zu unterstellen.60
Es gibt unterschiedliche Theorien darüber, weshalb der Mensch Heuristiken nutzt. Ein möglicher Grund ist, die Anstrengungen der Entscheidungsfindung zu minimieren, die sog. Aufwandsreduzierung. Shah und Oppenheimer sind so weit gegangen, den Begriff Heuristik so zu definieren, dass er genau dies abbildet. Demnach bedeutet der Begriff, dass die Heuristik die Anstrengung eines Entscheidungsprozesses minimiert. Dies ist nötig, weil normalerweise Hinweisreize berücksichtigt, gewonnen und gewichtet sowie Informationen implementiert und alle Alternativen geprüft werden müssten. Der kognitive Aufwand dafür ist zu hoch bzw. die Ressourcen zu limitiert, wenn alle diese Punkte erfüllt werden sollen, daher werden Heuristiken verwendet.61
Eine weitere Theorie nennt sich Attribut-Substitution. Demnach ersetzen Menschen komplexe Fragen mental durch eine einfache Frage, auf die sie eine Antwort geben können. Dafür werden Heuristiken verwendet.62 Darauf lassen Experimente wie von Strack et al. schließen. Beim genannten Experiment wurden Studenten u. A. gefragt, wie glücklich sie mit ihrem Leben insgesamt sind und wie viele Dates sie im letzten Monat hatten. Die beiden Fragen hatten im Ergebnis kaum korrelierte Antworten. Als aber die Frage nach den Dates zuerst gestellt wurde, stieg die Korrelation von zuvor -0.12 auf 0.66 an. Dies zeigt, dass die Antwort auf die Frage nach den Dates einen starken Einfluss auf die Frage nach der generellen Zufriedenheit hatte. Da erstere leichter zu beantworten ist, lieferte sie quasi die Antwort auf die zweite Frage mit.63
Eine dritte Begründung für die Nutzung von Heuristiken ist die Auffassung, dass diese mindestens genauso effizient und korrekt sind wie rationale Entscheidungsprozesse. Oft sind diese Heuristiken, deren Entscheidung und Ergebnis `fast and frugal` (schnell und sparsam) getroffen wird, trotz begrenzter Rationalität sogar akkurater.64
Nichtsdestotrotz sind die Ergebnisse bei der Verwendung von Heuristiken manchmal verzerrt und deshalb nicht korrekt. Es wurden bereits mehr als 200 dieser aus der Nutzung von Heuristiken resultierenden kognitiven Verzerrungen entdeckt.65
Ergänzend ist anzumerken, dass es auch Kritik an der gängigen Wahrnehmung von Heuristiken und kognitiven Verzerrungen gibt. Gigerenzer hat bereits 1991 darauf hingewiesen, dass Heuristiken nicht die Gesetze der Wahrscheinlichkeiten verletzen und kognitive Verzerrungen nicht als Fehler dargestellt werden sollten,66 da in der bisherigen Forschung fälschlicherweise stets von einer einzigen korrekten Lösung für ein Problem ausgegangen wird. Eine Abweichung von dieser Lösung durch die Nutzung von Heuristiken wird als Fehler dargestellt, da konzeptuelle und technische Unterschiede bei der Ermittlung der korrekten Wahrscheinlichkeiten ausgeblendet werden.67 Gigerenzer fordert damit, die Begrifflichkeiten und dahintersteckenden Systematiken besser zu erforschen und zu definieren.
Obwohl der Begriff Heuristik für einige Forscher vage ist und genauer definiert werden muss und kognitive Verzerrungen nicht in einhelliger Meinung Fehler darstellen, basiert die vorliegende Arbeit auf den am Anfang dieses Kapitels gegebenen und weitläufig verwendeten Definitionen und Beschreibung dieser beiden Begriffe.
Im Folgenden werden zur Einführung in das Thema drei Heuristiken und daraus resultierende Verzerrungen genannt, erklärt und mit Beispielen erläutert.
2.5.1. Verfügbarkeitsheuristik
Eine bekannte Heuristik ist die Verfügbarkeitsheuristik, die zu Beginn vor allem von Tversky und Kahneman erforscht wurde. Grundgedanke dieser Heuristik ist, dass Schätzungen von Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten von der mentalen Verfügbarkeit entsprechender Beispiele abhängen. Umso leichter der betreffenden Person Beispiele oder Assoziationen in den Sinn kommen bzw. je stärker die Assoziationen sind, desto höher wird sie die Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Sache einschätzen.68 Objektiv gesehen ist dies sinnvoll, da häufig vorkommende Dinge leichter zu merken sind, somit wäre eine auftauchende Assoziation ein tatsächlicher Hinweis auf die Häufigkeit, würden hierbei nicht die Subjektivität und die eigenen Erfahrungen einer einzelnen Person bewertet werden. Bei der einzelnen Person spielen außerdem neben der tatsächlichen Häufigkeit auch andere Faktoren eine Rolle für die Verfügbarkeit von Assoziationen und diese Faktoren beeinflussen die wahrgenommene Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit, wodurch eine kognitive Verzerrung entsteht.69
Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise werden im Folgenden beispielhaft zwei aus der Heuristik resultierende Verzerrungen genannt und die Gründe erklärt.
Ein Grund für eine kognitive Verzerrung ist die Auffindbarkeit von Beispielen. Wird einer Person eine Liste von männlichen und weiblichen Personen genannt und sie wird im Nachgang gefragt, ob die Liste mehr männliche oder weibliche Personen enthält, so wird die Schätzung maßgeblich davon beeinflusst, ob bekannte Persönlichkeiten genannt wurden. Wurden mehr weibliche bekannte Persönlichkeiten benannt, tendierte die Schätzung dazu, dass die Liste insgesamt mehr weibliche Namen enthielt. Der Grund dafür ist, dass die bekannte Persönlichkeit ein sich einfach zu merkendes Beispiel ist und durch die Verfügbarkeit dieses Beispiels die Schätzung verzerrt wird.70
Ein weiterer Grund für eine Verzerrung ist die Effektivität von Suchmustern. Da es bspw. einfacher ist, sich Wörter vorzustellen, die mit dem Buchstaben R beginnen als Wörter, bei denen der Buchstabe R an der dritten Stelle steht, wird die Antwort einer Person auf die Frage, ob ein Text mehr Wörter der ersten oder der zweiten Variante enthält, in Richtung der ersten Variante verzerrt.71
Der Einfluss dieser Heuristik und damit einer möglichen kognitiven Verzerrung kann durch eine objektive Analyse von Wahrscheinlichkeiten auf Basis relevanter Daten und Fakten vermindert werden. Daten der Vergangenheit sowie Erfahrungen sollten dabei nicht berücksichtigt werden. Es sollte im Gegenteil der Fokus daraufgelegt werden, neue Informationen zu sammeln und bereits bestehende Informationen als weniger wichtig einzuordnen, bevor eine Entscheidung getroffen wird.72
2.5.2. Repräsentativitätsheuristik
Eine weitere bekannte und ebenfalls von Kahneman und Tversky erforschte Heuristik ist die Repräsentativitätsheuristik. Auf diese stützt der Mensch sich, wenn es um die Frage der Wahrscheinlichkeit der Repräsentativität einer Sache für eine andere geht, einfacher gesagt: In welchem Ausmaß Objekt A Objekt B ähnelt.73 Dass Menschen repräsentativ urteilen, heißt, dass sie mögliche Ergebnisse einer Fragestellung nach der jeweiligen Repräsentativität ordnen. Diese Anordnung entspricht allerdings nicht immer der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit, da Faktoren wie bspw. die Basisrate missachtet werden.74
An dieser Stelle sei zur Verdeutlichung ein Experiment von Kahneman und Tversky genannt. Probanden dieses Experiments bekamen folgende fiktive Hintergrundgeschichte präsentiert: 100 Personen sind interviewt worden. 30 davon waren Ingenieure, 70 Juristen. Auf Basis der Interviews wurden kurze Beschreibungen der Personen erstellt. Fünf scheinbar zufällig gewählte dieser Kurzbeschreibungen wurden den Probanden anschließend präsentiert mit der Aufgabe, die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, dass die beschriebene Person Ingenieur ist. Eine weitere Gruppe von Probanden bekam die gleiche Hintergrundgeschichte mit umgekehrten Basisraten, demnach 70 Ingenieure, 30 Juristen und die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass die beschriebene Person Jurist ist. Beide Gruppen bekamen dieselben fünf Beschreibungen.75
Die Beschreibungen lasen sich wie folgt: „Jack ist ein 45 Jahre alter Mann. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er ist im Allgemeinen konservativ, sorgfältig und ehrgeizig. Er interessiert sich nicht für Politik oder soziale Fragen und verwendet den größten Teil seiner Freizeit auf eines seiner vielen Hobbys, wie z. B. Tischlern, Segeln und mathematische Denksportaufgaben.“76
Die Probanden beurteilten im Experiment, anstatt die genannten Basisraten von 70 % und 30 % zu berücksichtigen, die Wahrscheinlichkeiten danach, wie repräsentativ die vorgelegte Beschreibung für den Stereotypen des Ingenieurs bzw. Juristen ist. Abbildung 2 zeigt am Beispiel der Gruppe mit 70 % Ingenieuren die tatsächlichen und die geschätzten Wahrscheinlichkeiten. Die Kurve zeigt die korrekte Verteilung der Wahrscheinlichkeiten. Das Kastensymbol zeigt den Median der geschätzten Wahrscheinlichkeiten bei fehlender Personenbeschreibung. Dieser entspricht auch der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit. Die schwarzen Punkte zeigen die geschätzten Wahrscheinlichkeiten je Personenbeschreibung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 Tatsächliche und geschätzte Wahrscheinlichkeiten im Experiment zur Repräsentativitätsheuristik
Quelle: Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 242
Um dieses Ergebnis zu untermauern, wurde den Probanden eine weitere Beschreibung präsentiert, die keinerlei beruflichen Informationsgehalt aufwies: „Dick ist ein dreißigjähriger Mann. Er ist verheiratet, aber kinderlos. Als ein äußerst fähiger, hoch motivierter Mann verspricht er in seinem Berufsfeld einmal recht erfolgreich zu sein. Bei seinen Kollegen ist er sehr beliebt.“ 77.
Obwohl diese Beschreibung keine Information über Dicks mögliches Berufsfeld liefert, wurde die Wahrscheinlichkeit, dass er Ingenieur ist, im Median auf 50 % geschätzt, unabhängig von der Gruppe der Probanden. Die Basiswerte von 70 % und 30 % wurden ignoriert.
Nur wenn den Probanden keine Persönlichkeitsbeschreibung vorlag, wurden die Basisraten nicht ignoriert und die Wahrscheinlichkeiten somit korrekt geschätzt.78 Dies zeigt, dass bei Nichtvorliegen bestimmter Informationen die Basisrate berücksichtigt und damit die korrekte Wahrscheinlichkeit geschätzt wird, während beim Vorliegen wertloser Information die Basisrate aber missachtet wird.79 Zur Repräsentativitätsheuristik existieren weitere Faktoren neben der Basisrate, die sich auf die Wahrscheinlichkeitsurteile auswirken, wie die Unempfindlichkeit gegenüber dem Stichprobenumfang oder die Unempfindlichkeit für Vorhersagbarkeit.80
Es zeigt sich zusammenfassend, dass Menschen unter unbewusstem Rückgriff auf die Repräsentativitätsheuristik Wahrscheinlichkeiten nicht auf Grundlage tatsächlicher, empirischer Daten einschätzen, sondern sich auf die Ähnlichkeit von Beschreibungen zu Stereotypen stützen. Um kognitive Verzerrungen durch die Repräsentativitätsheuristik zu vermeiden, sollte dies aber getan werden. Wahrscheinlichkeiten sollten objektiv ermittelt werden und kausale Verbindungen zwischen Ereignissen überprüft werden, um die Entscheidungsfindung zu verbessern.81
2.5.3. Rekognitionsheuristik
Eine der einfacheren Heuristiken ist die Rekognitionsheuristik, die sich am besten an einem einfachen Beispiel beschreiben lässt. Einer Person ist die Stadt München bekannt und die Stadt Dortmund unbekannt. Wird sie nun gefragt, welche Stadt mehr Einwohner hat, wird sie, der Theorie der Rekognitionsheuristik folgend, als Antwort München nennen. Da eines der beiden Objekte wiedererkannt wurde, wird abgeleitet, dass das erkannte Objekt eine höhere Bedeutung hat, in diesem Fall mehr Einwohner.82
[...]
1 Vgl. Häusel, H.-G., Brain, 2008, S. 70.
2 Vgl. Pfister et al., Einführung, 2016, S. 133.
3 Vgl. manager magazin, Ankervideo, 2018, o. S.
4 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden lediglich die männliche Form von personenbezogenen Substantiven verwendet. Das schließt selbstverständlich auch die weibliche Form ein.
5 Vgl. Psychology Today, Priming, o. J., o. S.
6 Kersting, F., Obst, D., Kernelemente, 2016, o. S.; Die Eigenschaften des Homo Oeconomicus werden in Kapitel 2.3 genauer erläutert.
7 Vgl. Kersting, F., Obst, D., Kernelemente, 2016, o. S.
8 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10575.
9 Vgl. Beck, H., Behavioral Economics, 2014, S. 2 f.
10 Vgl. v. Neumann, J., Morgenstern, O., Games, 1944, S. 4.
11 Vgl. Simon, H., Bounded, 1955, S. 99.
12 Vgl. Simon, H., Bounded, 1955, S. 104.
13 Vgl. Simon, H., Bounded, 1955, S. 114.
14 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10575.
15 Vgl. Tversky, A., Kahneman, D., Framing, 1981, S. 453.
16 Vgl. Nobelprize.org, Nobel, 2002, o. S.
17 Vgl. Vienna Behavioral Economics Network, Historie, o. J., o. S.
18 Vgl. Nobelprize.org, Nobel, 2002, o. S.
19 Vgl. Holler, M. J., Illing, G., Spieltheorie, 2006, S. 1.
20 Vgl. Heuser, U. J., Summary, 2002, o. S.
21 Vgl. FehrAdvice Blog, Selten, 2016, o. S.
22 Vgl. FehrAdvice Blog, Selten, 2016, o. S.
23 Vgl. Vienna Behavioral Economics Network, Historie, o. J., o. S.
24 Vgl. Nobelprize.org, Prize, o. J., o. S.
25 Vgl. Thaler, R. H., Spock, 2015, o. S.
26 Vgl. Mankiw, N. G., Taylor, M. P., VWL, 2012, S. 6 f.
27 Vgl. Beck, H., Behavioral Economics, 2014, S. 1.
28 Vgl. Beck, H., Behavioral Economics, 2014, S. 2 f.
29 Vgl. Beck, H., Behavioral Economics, 2014, S. 2 f.
30 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
31 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
32 Vgl. Loewenstein, G., Prelec, D., Anomalies, 1992, S. 595.
33 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
34 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
35 Vgl. Camerer, C. F., Thaler, R. H., Ultimatums, 1995, S. 216.
36 Vgl. Rabin, M., Fairness, 1993, S. 1296 f.
37 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10575 f.
38 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
39 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Prospect, 1979, S. 285 f.
40 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576.
41 Vgl. Camerer, C. F., Ho, T.-H., Attraction-Learning, 1999, S. 868.
42 Vgl. Camerer, C. F. et al., Learning, 2004 S. 135 zitiert nach Fudenberg, D., Levine, D., Game-Learning, 1998, o. S.
43 Vgl. Camerer, C. F., Reunifying, 1999, S. 10576 f.
44 Vgl. Rabin, M., Abweichungen, 2002, S. 661 f.
45 Vgl. Thaler, R. H., Spock, 2015, o. S.
46 Vgl. Stanovich, K. E., West, R. F., Dual Theory, 2000, S.658.
47 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 43 f.
48 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 33 f.
49 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 37.
50 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 35.
51 Vgl. Stanovich, K. E., West, R. F., Dual Theory, 2000, S.658.
52 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 37.
53 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 4.
54 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 41.
55 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 35.
56 Vgl. Kahneman, D., Thinking, 2011, S. 42.
57 Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 237.
58 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Heuristics, 1974, S. 1124.
59 Vgl. Burow, P. et al., Behavioral Business, 2016, S. 5.
60 Vgl. Gigerenzer, G., Gaissmaier, W., Eigenschaften, 2006, S. 332 f.
61 Vgl. Shaj, A. K., Oppenheimer, D. M., Effort-Reduction, 2008, S. 219 f.
62 Vgl. Kahneman, D., Frederick, S. Revisited, 2001, S. 53.
63 Vgl. Strack, F. et al., Satisfaction, 1988, S. 436 f.
64 Vgl. Gigerenzer, G., Goldstein, D. G., Frugal, 1996, S. 666.
65 Vgl. Burow, P. et al., Behavioral Business, 2016, S. 7.
66 Vgl. Gigerenzer, G., Beyond, 1991, S. 109.
67 Vgl. Gigerenzer, G., Beyond, 1991, S. 86.
68 Vgl. Tversky, A., Kahneman, D., Availability, 1973, S. 208.
69 Vgl. Tversky, A., Kahneman, D., Availability, 1973, S. 209.
70 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Heuristics, 1974, S. 1127.
71 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Heuristics, 1974, S. 1127.
72 Vgl. Nikolic, J., Debiasing, 2018, S. 52.
73 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Heuristics, 1974, S. 1124.
74 Vgl . Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 237 f.
75 Vgl . Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 241.
76 Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 241.
77 Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 242.
78 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 242.
79 Vgl. Kahneman, D., Tversky, A., Prediction, 1973, S. 242.
80 Vgl . Kahneman, D., Tversky, A., Heuristics, 1974, S. 1125 ff.
81 Vgl. Nikolic, J., Debiasing, 2018, S. 53.
82 Vgl. Goldstein, D. G., Gigerenzer G., Recognition, 1999, S. 41.
- Arbeit zitieren
- Patrick Lamanna (Autor:in), 2019, Analyse von Heuristiken zur Vermeidung kognitiver Verzerrung anhand des Ankereffektes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537710
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