Journalisten produzieren Berichte über etwas oder jemanden. Für die Anthropologie hat dieser Umstand erhebliche Auswirkungen gehabt. Daher beginnt diese Arbeit mit einer Vorstellung des Diskurses um die anthropologischen Repräsentationen anhand der Geschichte des ethnographischen Films. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass auch jene Repräsentationen, die durch Massenmedien wie TV oder Internet verbreitet werden, einen prüfenden anthropologischen Blick verdienen. Um ein eindeutigeres Verständnis des Begriffs, der Wirkungsweise und der Funktionen der Massenmedien zu gewinnen, wird im dritten Teil ein medientheoretischer Rahmen skizziert. Im vierten Teil begibt sich die Arbeit mit „Deutschlands häufigstem Wohnzimmer“, einer raumgewordenen Datenerhebung, abschließend in empirisches Terrain. Diese Repräsentation aus der Werbebranche wird exemplarisch ergründet. Es soll ausgelotet werden, worüber sie berichten kann – z. B. die Motivation ihrer Produzenten, die Mediendynamik und sich selbst. Die Untersuchung versteht sich als spezifisch und diagnostisch. Es soll gezeigt werden, in welcher Form dieses Wohnzimmer die Realität konstituierende Eigendynamik der Massenmedien widerspiegelt, was dies implizieren könnte und welche Schlussfolgerungen es zulassen würde. Wieso würde eine Werbeagentur wohl etwas kreieren, das nichts bewirbt?
Inhaltsverzeichnis
Abstract
I. Einleitung
I.I Prolog: „Wilde Kontroverse“
II. Visuelle Anthropologie
II.I Prinzipielles – Einführung in die Visuelle Anthropologie
II.II Verschwimmendes – Von der Repräsentation zur Evokation
II.III Überdachtes – Unterwegs zu neuen Ufern
III. Medientheorie
III.I Philosophisches – Einführung in eine Theorie der Medien
III.II Erweitertes – Vom Medium zur Rezeption
III.III Systematisches – Die Realität der Massenmedien
IV. Zwischenbilanz
IV.I Zusammenfassung & Versuchsaufbau
V. Deutschlands häufigstes Wohnzimmer
V.I Das Medium Werbung
V.II Das Trojanische Pferd – oder: Jung von Matt & die Bundesbürger
VI. Fazit
VI.I Epilog: Deutschlands häufigstes Wohnzimmer: Repräsentation oder Simulation?
VII. Mediographie
IX. Anhänge
IX.I Anhang I:
I.I Prolog: „Wilde Kontroverse“ Anhang II:
IX.II Anhang II:
V.II: Das Trojanische Pferd – oder: Jung von Matt & die Bundesbürger
IX.III Anhang III:
“ Ausgangspunkt der Repräsentation ist ein Prinzip der Äquivalenz zwischen Zeichen und Realem (…). Ausgangspunkt der Simulation dagegen ist die Utopie des Äquivalenzprinzips, die radikale Negation des Zeichens als Wert, sowie die Umkehrung und der Tod jeder Referenz. Während die Repräsentation versucht die Simulation aufzusaugen, indem sie sie als falsche Repräsentation interpretiert, schließt die Simulation das gesamte Gebäude der Repräsentation als Simulakrum ein.“ 1
Abstract
From representation to the simulacrum
- An anthropological journey through the mass media of advertising -
This paper investigates the possibilities of an anthropological approach to analyzing the processes of representation in the realms of mass media. By traversing the history of ethnographic film the paper introduces the discourse regarding the practice of anthropological representation. Subsequently, it is found that visual anthropology, besides the practice of ethnographic film-making, is also concerned with analysing the specifics of visual systems and the impact those tend to have on both individuals and society. Hence, the paper argues that mass media likewise ought to be subject to anthropological analysis, despite their scale and popularity. In order to anthropologically scrutinize the various processes of media representation, it is necessary to sketch an understanding of and an approach to the operational system and effectiveness of mass media. Thus, the paper delivers a theoretical framework of mass media along the reasoning of McLuhan and Luhmann. The recipients of mass media will be found to be as an integral part of media content production as the producers. In order to validate those findings, the paper sets out to apply them to a concrete example. Along the practices of the advertising industry, the paper questions an intriguing representation which concerns the idea of the average German citizen. This representation is called “Deutschlands häufigstes Wohnzimmer” and it has been constructed by Jung von Matt, a German advertising agency. By retracing intentions and methods of creating the average German living room, the paper finds indicators to prove the reciprocal relation between advertiser and recipient. Moreover, beyond the assumption that producers and consumers of media are interwoven by a mutual production process, the paper additionally delivers the idea of hierarchy. It concludes that, especially in advertising, the circular process of production is less a circuit than a circle. Ultimately, this construction of the average appears to be both representation and simulacrum.
I. Einleitung
I.I Prolog: „Wilde Kontroverse“
Am 31.05.2008 vermeldet die WELT ONLINE: „Wir lassen die lieber so, wie sie sind“. So jedenfalls lautet die Überschrift zu einem Artikel, welcher von sechs sensationellen Farbfotos gekrönt wird, auf denen zu erkennen ist, wie Mitglieder eines Indiostammes mit ihren Pfeilen in die Richtung der Kamera schießen.2 Sabine Kuegler, Missionarstochter und Autorin des Bestsellers „Dschungelkind“, wird zur Entdeckung dieses bislang unbekannten Indiostammes im Amazonasgebiet befragt. Kuegler nimmt an, dass die Indios nach der Begegnung mit dem Flugzeug aus dem sie fotografiert wurden, wohl anfangen würden, Legenden von riesigen Vögeln zu erzählen. Sie berichtet aus eigener Erfahrung von Unterschieden in Kultur oder Immunsystem und schließt, es sei wohl besser, solch unentdeckte Stämme in Ruhe zu lassen.3
„The myth of the homogenous Other is deeply entrenched, and it has exercised a durable influence on anthropological theory even in such modernist arenas as the study of visual media.” 4
In der tageszeitung vom 28./29. Juli 2008 befindet sich auf Seite 15 ein Schwarzweißfoto mit demselben Motiv und folgender Bildunterschrift: „Spätestens Ende Mai in allen Zeitungen: das angeblich unentdeckte Volk im brasilianischen Regenwald“.5 Der entsprechende Artikel bei SPIEGEL ONLINE landete in den Top Ten der monatlichen Auswertung.6 Wer sie abdruckte, verkündete die Entdeckung des unbekannten Indiostammes. Laut der Organisation Survival International, welche die Fotos ursprünglich im Internet veröffentlichte, und dem Fotografen José Carlos Mereilles von der brasilianischen Indianerbehörde Funai, kennt man diese Indios jedoch bereits seit 1910. Die dpa hatte die Fotos mit der Nachricht „unbekannte Steinzeit-Indios in Brasilien entdeckt“ versehen und dann als Agenturmeldung in die mediale Raffinerie eingespeist. Die darauf folgenden Berichte waren Abschriften der dpa -Meldung. Der taz -Artikel „Wilde Kontroverse“ erläutert die rätselhafte Entwicklung der Berichterstattung um Bilder, die ursprünglich darauf verweisen sollten, dass diese Indios Flüchtlinge aus Peru sind, deren Lebensgrundlagen der illegalen Rodung des Regenwaldes zum Opfer gefallen waren. Zuerst verklärten die Medien diese politische Botschaft zu einer romantischen und schließlich schob man sich gegenseitig den schwarzen Peter für die Falschmeldung zu. Nahezu grotesk war die Reaktion des OBSERVER 7, denn als dämmerte, dass der Stamm gar nicht unentdeckt sei, begann die Zeitung die Organisation Survival International als Sündenbock vorzuführen.8 Das Foto sei mit falschen Informationen versehen und verbreitet worden. Darüber hinaus befand der OBSERVER, den Stamm zu fotografieren sei ein zweifelhaftes Mittel für das Erreichen politischer Ziele und kritisierte diese Form der Kontaktaufnahme deutlich.9
„Journalisten verbringen viel Zeit damit, ihre Mühen als Dienst an der Öffentlichkeit zu verstehen. Doch in der Arbeitswelt der Medien bleibt die tatsächliche Öffentlichkeit so unsichtbar wie die erdabgewandte Seite des Mondes. Das Bild, das die Medienmenschen sich von der Öffentlichkeit machen, ist eine Chimäre, die mit Moral gefüttert wird.“ 10
Man könnte meinen, beim obigen medialen Schauspiel habe sich eine latente Sehnsucht nach dem so genannten „edlen Wilden“ verselbständigt. Doch was vermag diese Episode über das Verhältnis von Medien und Gesellschaft auszusagen? Welche Schlüsse könnten über den medialen Einfluss auf die Wahrnehmung und das Erleben von Realität gezogen werden? Im Folgenden soll erörtert werden, wie sich Anthropologie und Medientheorie einem solchen massenmedialen Spektakel analytisch nähern und welchen Anlass sie dazu haben könnten. Ein wichtiges Stichwort für das Verhältnis der Medien zu ihren Meldungen und für diese Arbeit ist: Repräsentation11. Journalisten produzieren Berichte über etwas oder jemanden. Für die Anthropologie hat dieser Umstand erhebliche Auswirkungen gehabt. Daher beginnt diese Arbeit mit einer Vorstellung des Diskurses um die anthropologischen Repräsentationen anhand der Geschichte des ethnographischen Films. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass auch jene Repräsentationen, die durch Massenmedien wie TV oder Internet verbreitet werden, einen prüfenden anthropologischen Blick verdienen. Um ein eindeutigeres Verständnis des Begriffs, der Wirkungsweise und der Funktionen der Massenmedien zu gewinnen, wird im dritten Teil ein medientheoretischer Rahmen skizziert. Im vierten Teil begibt sich die Arbeit mit „Deutschlands häufigstem Wohnzimmer“, einer raumgewordenen Datenerhebung, abschließend in empirisches Terrain. Diese Repräsentation aus der Werbebranche wird exemplarisch ergründet. Es soll ausgelotet werden, worüber sie berichten kann – z. B. die Motivation ihrer Produzenten, die Mediendynamik und sich selbst. Die Untersuchung versteht sich als spezifisch und diagnostisch. Es soll gezeigt werden, in welcher Form dieses Wohnzimmer die Realität konstituierende Eigendynamik der Massenmedien widerspiegelt, was dies implizieren könnte und welche Schlussfolgerungen es zulassen würde. Wieso würde eine Werbeagentur wohl etwas kreieren, das nichts bewirbt?
II. Visuelle Anthropologie
II.I Prinzipielles – Einführung in die Visuelle Anthropologie
„True documentarists have a passion for what they find in images and sounds – which always seems to them more meaningful than anything they can invent. They may serve as catalysts not as inventors” 12
Innerhalb der Visuellen Anthropologie herrscht Konsens darüber, dass die Geburtsstunde des ethnographischen Films im Jahre 1895 war. Félix-Louis Regnault filmte die Töpferarbeiten einer Wolof-Frau13 auf der Exposition Ethnographique de l’Afrique Occidentale in Paris.14 Im selben Jahr zeigten die Lumière Brüder zum ersten Mal öffentlich ihre Filmaufnahmen - jener Moment bezeichnet die Anfänge des bewegten Bildes und der Filmindustrie.15 Die Entwicklung der Visuellen Anthropologie steht eindeutig in engem Zusammenhang mit dem industriellen und damit technologischen Fortschritt des 19. und des 20. Jahrhunderts. Die Erstellung visueller Dokumente stand und steht in Beziehung zum anthropologischen Interesse, soziale Praktiken und deren Bedeutungen zu dokumentieren, zu analysieren und die gewonnenen Erkenntnisse für spätere Generationen zu konservieren.16 Dennoch erhielten visuelle Dokumentationen im Wissenschaftsdiskurs keine uneingeschränkte Zustimmung. Im Gegenteil, gerade die Visuelle Anthropologie sah sich, neben häufigem Desinteresse, stetiger Kritik und Zweifeln an der Wissenschaftlichkeit ihrer Methoden und Erkenntnisse ausgesetzt.
„Department after department and research project after research project fail to include filming and insist on continuing the hopelessly inadequate note-taking of an earlier age (…).” 17
Die Ethnographie hatte sich als schriftliche Methode entwickelt, auch deshalb weil die Informationen, die sie sammelte, üblicherweise aus Feldern stammten, in denen Wissen meist verbal vermittelt wurde. Der Einsatz visueller Methoden steht aber nicht nur vor dem Problem der Vermittlung von oral history im Bild. Ein Ethnologe, der sein Feld filmisch dokumentieren möchte, benötigt zusätzliche technische Ausbildung oder ein größeres Team. Schließlich kommen höhere Kosten ins Spiel, sobald das Werkzeug nicht mehr nur aus Notizbuch und Stift, sondern Kamera, Filmmaterial und einer Tonausrüstung besteht.
Abgesehen von den grundsätzlichen Unterschieden der Mittel, bedeutete die Hinwendung zur visuellen Dokumentation dennoch eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Beobachter zu den Beobachteten.18 Man kann schließen, dass sich dieser Diskurs an die Writing Culture Debatte 19 anlehnt.20 Auch die Visuelle Anthropologie hat nach Wegen gesucht, das „Sprechen/Filmen über“ durch ein „Sprechen/Filmen mit“ zu ergänzen. Statt also nur Mittel zu definieren, die vermeintlich bias -frei und nicht durch das Forscher-Ich behaftet sind, versuchte man durch den Dialog verschiedener Blickwinkel auf das Forschungsobjekt dessen Darstellung eindeutiger und objektiver zu gestalten. Inzwischen steht die Visuelle Anthropologie eher in einer, salopp formuliert, Tradition der unmöglichen Objektivität.21 Die Selektivität, die schließlich der Kamera zugesprochen wurde, als Reaktion auf die in den Anfängen von der Disziplin postulierte Objektivität der filmischen Repräsentationen, ist wiederum nicht nur spezifisch für den ethnographischen Film.22 Dieses Problem entsteht ebenso in den schriftlichen Repräsentationen von beobachteten Kulturen. Allerdings hat die Schriftform, dank Mitteln wie Vorwort oder Fußnoten, Möglichkeiten ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Theoriegeschichte einzuordnen, und somit quasi zu objektivieren.23
„Situations and events, actions and issues may be represented in a variety of ways.“ 24
In der Geschichte des ethnographischen Films bildeten sich Strategien und Konventionen heraus und erprobten sich an Sachzwängen und anderen Grenzen, so dass schließlich gewisse identifizierbare Gemeinsamkeiten innerhalb der produzierten Filmtexte entstehen konnten. Ähnlich wie in den schriftlichen Monographien ergaben sich formale Mittel – modes of representation – welche die Filme, also die Repräsentationen, strukturierten. Gewissermaßen die Konventionen des ethnographischen Genres. Bill Nichols identifizierte vier Formen der repräsentierenden Modi: expository, observational, interactive, reflexive. Dabei stellte er fest, dass sich diese Modi in einem dialektischen Verhältnis zueinander entwickelt haben. Sie sind Reaktionen auf methodische Grenzen und historisch bedingte Veränderungen des Realitätskonzeptes.25
Jedem Modus kann zwar eine gewisse Dominanz in bestimmten historischen Zeitabschnitten und Ländern zugeschrieben werden, dennoch standen sie alle von Anfang an potentiell zur Verfügung und sie neigen dazu in kombinierter oder veränderter Form aufzutreten. Ein Repräsentationsmodus beinhaltet auch das Thema der Autorschaft und der Glaubwürdigkeit. Ein ethnographischer Filmtext steht also nicht allein für die Äußerungen eines einzelnen Filmemachers, er demonstriert ebenso dessen Auseinandersetzung mit Normen und Konventionen der jeweiligen Modi. Jeder Modus macht unterschiedlichen Gebrauch von Narration und Realismus. Die einzelnen Modi würden aus identischem Stoff variierende Filme herstellen, denn sie arbeiten mit unterschiedlichem Ethos, divergierenden narrativen Strukturen und verschiedenen Erwartungen an den Zuschauer.26 Es kann jedoch festgehalten werden, dass jeder Modus von einer übergeordneten Fragestellung geleitet wird: Wie können Menschen, social agents, und Themen angemessen repräsentiert werden? Jede Variante greift diese Frage auf und versucht sie mit den entsprechenden Mitteln zu beantworten.27
Der expository mode adressiert sein Publikum direkt, entweder durch den Gebrauch von Titeln oder einem voice-over, um seine Argumentation zu unterstreichen, ähnlich wie ein Reporter oder Auslandskorrespondent. Diese Texte formen sich um ihren Kommentar herum und jener richtet sich direkt an den Zuschauer, während die Bilder als Illustrationen oder Kontrapunkte dienen. Der Kommentar fungiert als textliche Dominante, er will überzeugen. Der Schnitt im expository Modus schmiegt sich an den Kommentar und konstruiert so eher eine rhetorische Kontinuität als eine raum-zeitliche. Somit betont dieser Modus einen objektiven Eindruck und hat generalisierende Tendenzen. Die dominante Rhetorik des Filmemachers veranlasst dazu, mit Blick auf das Ethos, kritisch nach der Stimme des Urhebers zu fragen. Denn die Stimmen der Protagonisten werden eingewoben in den Text des Autors, die Repräsentierten subsumieren sich der Sicht des Filmemachers. Der Zuschauer
erlebt die Filmtexte als rhetorisch verbundene, lineare und kausale Verknüpfungen.28
Der observational mode folgt im Vergleich eher dem Paradigma einer gründlichen Darstellung von Alltag, als einer paradigmatischen Organisation um eine konkrete These. Ein Ziel dieser Texte ist es, während der Observation so wenig wie möglich in eine Szenerie einzudringen. Dies reflektiert auch der institutionelle Diskurs. Zeigt der Film Respekt oder benutzt er seine Protagonisten für die eigenen diskursiven Zwecke? Wenn eine gefährliche Situation für die Gefilmten eintritt, begibt man sich hinein und hilft, oder filmt man gar weiter? Der Modus bekennt sich auch in der Postproduktion zu seiner Direktheit. Die puristischsten Endprodukte verzichten gänzlich auf voice-over, Musik, Titel oder Interviews. Der Schnitt folgt keinen rhetorischen oder rhythmischen Kontinuitäten, er montiert nach der Kontinuität der Beobachtung. Es gibt keine audio-visuellen Asynchronitäten, die Akteure konzentrieren sich auf sich statt auf die Kamera und so entstehen repräsentative Momente von gelebter Zeit. Der Filmemacher jedoch glänzt durch Abwesenheit, und der Zuschauer gerät scheinbar unmittelbar in eine direkte Beobachter-Position. Dort kann er sich empathisch identifizieren oder sich voyeuristisch vergnügen.29
Der interactive mode greift die illusorische Abwesenheit des Autors auf. Dieser Modus zielt auf eine Begegnung mit dem Filmemacher. Jener interagiert auf verschiedene Weisen mit den Protagonisten, z. B. in Form von „maskierten“ oder eindeutigen Interviews. Der Filmemacher ist hörbar und sichtbar, die Stimmen im Film sprechen miteinander und nicht mit dem Zuschauer. Die Autorität verschiebt sich zu den Protagonisten, sie erhalten die Möglichkeit zur Auto-Repräsentation. Anders als im expository mode ist jedes Argument ein Produkt der Interaktion und nicht das Interview bloßes Beiwerk der Argumentation. Die formale Gestaltung ist auf Diskursivität ausgerichtet. In ethischer Hinsicht ist zu bemerken, dass die Interaktion dennoch hierarchisch durch den Autor bestimmt bleibt. Auch wird im Schnitt meist nicht mehr interagiert, wodurch die Autorschaft unterstrichen wird. In dieser interaktiv-diskursiven Form zeigt sich der Text dem Zuschauer als ein situationsgebundener.30
Im reflexive mode erhält der Film eine Art Metakommentar über den der Filmemacher den Prozess der Repräsentation thematisiert. Die reflexiven Texte beschäftigen sich mit ihrer eigenen Funktionsweise. Sie machen aufmerksam auf formale, strategische, strukturelle oder konventionelle Probleme des Repräsentationsvorgangs. Entsprechend wird nicht versucht, realistisch zu repräsentieren, sondern zu vermitteln, dass jede Repräsentation auch eine Fiktion ist. Dieser Modus ist also eher eine Begegnung zwischen Filmemacher und Zuschauer, das zu gewinnende Wissen wird nicht nur lokalisiert, sondern zugleich hinterfragt. Der Filmemacher ist nicht mehr teilnehmender Beobachter, sondern authoring agent. Die reflexiven Strategien möchten Habitus und Konventionen aufbrechen. Sie hinterfragen ihre eigene Funktionsweise und wirken damit bis in die Wahrnehmungsstrukturen der Zuschauer hinein. Der reflexive mode möchte Bewusstheit über den Prozess der Repräsentation schaffen. Er bricht mit Formalien, um einen intensiveren Kontakt zum Zuschauer zu erlangen. Der sensorische und politische Erfahrungsgehalt dieser Texte sind nicht sie selbst, sondern ist ihre Begegnung mit dem Publikum.31
II.II Verschwimmendes - Von der Repräsentation zur Evokation
„Documentary and fiction, social actor and social other, knowledge and doubt, concept and experience share boundaries that inescapably blur“ 32
Anfang der 90er Jahre stand fest: Der ethnographische Film ist in Schwierigkeiten. Dafür gab es verschiedene Auslöser, doch können drei Hauptursachen benannt werden. Zum einen lag es an der Filmpraxis, in der bestimmte Konventionen immer wieder herhalten mussten und andere Entwicklungen nicht aufgegriffen wurden. Auch der institutionelle Diskurs hatte durch sein hartnäckiges Kreisen um die immer gleichen Themen, vor allem das „Wie“ der Repräsentationen, seinen Anteil an der Krise. Schließlich, und dies hängt mit den vorherigen Punkten zusammen, hatten die „Anderen“ längst selbst begonnen, Auto-Repräsentationen zu produzieren und damit die vorherrschenden narrativen oder institutionellen Konventionen zu entkrusten. Der ethnographische Film ist nicht mehr eine exotische Nische der Anthropologie, sondern allmählich zu einem Werkzeug vieler geworden. Somit ist auch der traditionelle Ethnologe/Filmemacher nur noch eine Stimme unter vielen. Außerdem bringt die Polyphonie verschwimmende Genrekonventionen mit sich, wodurch auch formal-repräsentative Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation, Politik und Kultur oder Hier und Dort aufweichen.33
„And tomorrow? ... Tomorrow will be the time (…) of the joint dream of Vertov and Flaherty, of a mechanical ciné-eye-ear and of a camera that can so totally participate that it will automatically pass into the hands of those who, until now, have always been in front of the lens. At that point, anthropologists will no longer control the monopoly on observation; their culture and they themselves will be observed and recorded.“ 34
Nichols verweist auf Geertz, der mit seiner Theorie der dichten Beschreibung eine Idee der Abwendung von perfekten Repräsentationen und eine Hinwendung zur bestmöglichen Interpretation anbot. Die Anthropologie und der ethnographische Film hatten sich selbst dazu abkommandiert, die „Anderen“ zu repräsentieren. Man hatte sich daran aufgerieben, wie Repräsentationen zu produzieren und zu verstehen seien – und die Lösung vor allem darin gesehen, Ähnlichkeiten zu transportieren und dabei diese unter den Prämissen Realismus, Objektivität und wissenschaftlicher Akkuratheit zu fixieren. Jedoch hatte der Diskurs kaum Rücksicht darauf genommen, was Repräsentationen für die Repräsentierten bedeuteten.35
Kein besonders ausgeprägtes Interesse zeigte der Diskurs weiterhin daran, seine eigenen Szenerien zu hinterfragen oder das zu untersuchen, was die repräsentierenden Aktivitäten über die kulturellen Wurzeln des Anthropologen aussagen könnten. Denn Repräsentationen sind immer auch ein „Sprechen für“ und somit eine Form der hierarchischen Machtausübung. Das exotische, scheinbar stumme Andere wird vom Forscher erklärt. Nichols sieht das anthropological other jedoch möglicherweise weniger in anderen Kulturen verortet, als im anthropological unconscious verborgen . Denn die formalen Mittel, die den Diskurs um die Repräsentationen geprägt haben, können eben gerade nicht eliminieren, was Malinowski für sein Tagebuch reservierte.36 Jenseits von Form und Mitteln, bleiben demnach Aspekte bestehen, die den Interpretations- und damit den Repräsentationsprozess beeinflussen. Ein ganzes Set von individuellen Attributen begleitet den Forscher in sein Feld und die Anthropologie hatte sich zulange damit beschäftigt, diese formalistisch zu tilgen, anstatt sie als Teil ihrer Arbeit zu akzeptieren, zu integrieren, zu praktizieren und zu reflektieren.37
Die Anthropologie gehört wie andere Wissenschaften, Politik oder Wirtschaft zu den discourses of sobriety – nüchternen Diskursen. Jene haben es an sich, ihr Verhältnis zu Wahrheit oder Realität für unproblematisch zu halten, weil sie kanonische Regeln für Objektivität aufgestellt haben, an denen sie den Erkenntnisgehalt ihrer Thesen messen. Dazu gehört in der Anthropologie die Binarität von us and them und here and there. Diese Aspekte unterstreichen die Forscherautorität, denn die Repräsentationen bilden sich aufgrund von Distanzen. Zum einen Distanz von vorgefundenen Realitäten im Feld zur späteren filmischen Inszenierung durch einen Autor, zum anderen Distanz zwischen Repräsentationen und Publikum.38 Auch die narrativen Konventionen des Genres neigen dazu, die Kohärenz der Distanzen zu betonen. Die Repräsentationen werden somit zu erklärenden Schablonen und sind weit davon entfernt „Realität“ zu transportieren. Beschreibungen anderer Kulturen liefern meist nur fetischisierte Bilder eines gefährdeten Paradieses. Sie reflektieren weniger die Bedeutungsinhalte dieser Kulturen als die Phantasie eines Forschers. Dadurch entsteht eine merkwürdige Ambivalenz: „unsere“ Identität wird abhängig von der „anderen“ Identität, wobei sie gleichzeitig die Bedeutsamkeit dieser „anderen“ für die „eigene“ negiert. Man möchte einerseits die „echte“ Fremdheit erleben und andererseits das Fremde verstehen, es besitzen.39
Dies hat natürlich auch Konsequenzen für den Zuschauer. Denn jener blieb bisher gefangen zwischen den Binaritäten und auf seine spezielle Disposition wurde in der Regel nur marginal Rücksicht genommen. Um das aufzugreifen, so Nichols, müsste die inhärente Ambivalenz der Repräsentationen abgeschafft werden. Anstatt die Visuelle Anthropologie dafür zu nutzen, Fremdheit bekannt zu machen, sollte versucht werden, mit ihr Fremdheit zu (er-)kennen.40 Dazu unternimmt Nichols einen Exkurs in die Filmtheorie, die sich seit der Entdeckung des engendered spectator 41 intensiv der Rolle des Zuschauers widmet.42 Das geschlechtliche Attribut wurde bald mit Rasse, Alter, etc. ergänzt und schließlich noch um cross-cultural attributes erweitert. Der Zuschauer ist demnach ein Komplex, der viele persönlich gefärbte Attribute mit in einen Film bringt, jedoch sind diese Attribute flexibel angeordnet.43 So sollen sich beispielsweise Reaktionen von Minderheiten erklären, die sich in einem Film plötzlich nicht mit der „eigenen Gruppe“, sondern mit „anderen“, z. B. einer „sie“ unterdrückenden Mehrheit identifizierten.44 Während das Zuschauer-Leinwand Verhältnis anfangs noch von psychoanalytisch-semiotischen Deutungsweisen überfrachtet war, wurde bald auch versucht, ästhetische Lesarten anzuwenden, um den somatischen Zuschauerreaktionen nachzuspüren.
So hinterfragte Anna Powell anhand des Deleuzeschen Affektbildes45 die dominanten psychoanalytisch-semiotischen Lesarten der body genres Horror, Pornographie und Melodram.46 Sie konnte einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der semiotisch- psychoanalytischen und einer ästhetischen Rezeptionstheorie feststellen. Die screen theory platziert den Zuschauer als passiv-reaktionären Empfänger des Leinwandterrors isoliert auf seinem Sitz. Deleuze hingegen begreift Blick und Bild als einen gemeinschaftlichen, komplexen Körper. Also werden Zuschauer und Film während des gemeinsamen Erlebnisses gleichzeitig zu Bewegung und Bild. Die Verbindung von Publikum und Leinwand ist ein dynamischer process of becoming.47 Die ästhetische Argumentation aufgreifend, fordert Nichols, dass die Anthropologie, dieses „Bauchwissen“, also somatische Erfahrungen durch und Reaktionen auf ethnographische Filme, nicht mehr ignorieren dürfe, sondern bestätigen und in ihren Arbeitsprozess mit einbeziehen solle.48 Somatische Reaktionen überschreiten oft das intellektuelle Verstehen, oder sie produzieren widersprüchliche Reaktionen im Verhältnis zum kognitiven Verstehensprozess. Die Reaktionen der Eingeweide des Publikums sind im vorherrschenden erklärenden oder beschreibenden Raster der ethnographischen Filme meist nicht angelegt. Die Affekte sind sowohl für die Zuschauer als auch für die Filmpraktiker im Feld essentielle Bereiche der Repräsentationen, die verdrängt, ignoriert oder als marginal betrachtet wurden. Solange aber diese affektiven Reaktionen wie Begierde, Abneigung oder Ekel mittels disziplinarischen oder methodischen Trainings überwunden werden sollen, untersucht der Forscher-Verstand einen Nexus von Körper und Geist, Erfahrung und Einsicht, den er gar nicht begreifen kann.49
„Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point“ 50
Nichols postuliert einen Paradigmen-Wechsel. Die Anthropologie müsse von einer social science zu einer cultural science werden, um sich solchen Herausforderungen wie Dialog, Polyphonie, Heteroglossie und Reflexivität zu stellen. Ein solcher Wechsel müsse ebenso Antworten darauf beinhalten, wie man die repräsentativen Hierarchien unterlaufen und den Nutzen der wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Repräsentierten erhöhen könne. Eine Möglichkeit zur Innovation sieht Nichols in der Phänomenologie. Sie teilt mit dem ethnographischen Film ein Interesse für die spezifische Erscheinung der Dinge. Allerdings adressiert sie das Thema sensorischer Erfahrung direkt und bietet einen Rahmen für die Diskussion der Dynamik von professioneller Bebachtung und Interaktion. Anstelle weiterhin kulturelle Oberflächen quasi-repräsentativ zu perforieren, um Kategorien zu extrahieren, sollte der ethnographische Film sich der Evokation widmen. Statt anhand der Interpretation von Daten „Wissen“ über fremde Kulturen zu produzieren, sollte man implizite, symptomatische Bedeutungen untersuchen, die unsere eigene Kultur betreffen. Die Schlucht zwischen der Interpretation von Filminhalten und der Interpretation von Diskursinhalten soll überwunden werden, indem man sich dem anthropologischen Unbewussten zuwendet und dessen Verhältnis zur anthropologischen Disziplin aufbereitet. „Die Anderen“ müssen nicht mehr repräsentiert werden, sie sprechen, auch dank der Videotechnik, bereits für sich selbst. Sie finden „eigene“, innovative Mittel, wenden jene an und erschließen sich ethnographische Zwischenräume wie Migration oder Diaspora, sowohl formal als auch thematisch.51
Anschließend an die vier modes of representation 52 stellt Nichols fest, dass diese nicht mehr ausreichen, um den ethnographischen Film zu fassen. Im Zuge der schleichenden Demokratisierung um und durch die ethnographische Repräsentation hat sich ein neuer Modus herausgebildet – performative documentary. Dieser lenkt die Aufmerksamkeit weg von den referentiellen Qualitäten des Filmtexts, welche in den anderen Modi noch am dominantesten waren. Im performativen Modus verschwimmen auch die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation. Hier ist der Zuschauer der Referent, nicht mehr die Realität. Dieser Modus adressiert nicht mit Imperativen, sondern konzentriert sich auf ein empathisches Engagement der Zuschauer. Er zielt auf dialektische, transformative Weise in Richtung social subjectivity, wo sich das Besondere mit dem Allgemeinen, das Abstrakte mit dem Konkreten und das Individuelle mit dem Kollektiven verbinden.53
Der performative Text stellt innerhalb des nüchternen Diskurses der Anthropologie eine erhebliche Erschütterung dar. Er spricht nicht über etwas, sondern versucht dieses formal und thematisch zu evozieren. Anstatt die Annahme von Historizität zu stützen, ist er darum bemüht, spezifische Qualitäten, wie diskrete Ereignisse oder bestimmte Menschen, für den Zuschauer affektiv erfahrbar zu machen. Er entmachtet dadurch die referentiellen Aspekte der Texte und stellt die realistische Epistemologie deutlich in Frage. Der Text wird von seiner übergeordneten Logik befreit. Er suggeriert eher, als zu argumentieren, gibt zu verstehen, impliziert, und versucht eben nicht, zu erklären oder zu generalisieren. Die Bilder haben eher ikonischen Charakter, als indexikalisch zu authentifizieren. Der Text spricht nearby, nicht about, und wird so zur Evokation, anstatt nur Beschreibung zu sein. Sich von Empirismus, Realismus und konventioneller Narration entfernend, versucht dieser Modus jeglichen theoretischen Reduktionismus zu vermeiden. Dadurch, dass seine Priorität auf der affektiven Dimension der Begegnung von Zuschauer und Text liegt, versucht er die Dichotomien us and them und self and other zu überwinden.54 Nichols sieht in diesem Modus eine angemessene Wahl in Zeiten der Auflösung von traditionell-repräsentativen master narratives. 55
„Performative documentary attempts to reorient us – affectively, subjectively – toward the historical, poetic world it brings into being.” 56
II.III Überdachtes - Unterwegs zu neuen Ufern
„ (…) the transcultural makes possible an overlapping of experiential horizons, where certain indirect and interpretive leaps of understanding can take place. It suggests a shift from general ethnographies or studies of emblematic cultural events such as rituals, to studies of the experience of individual social actors in situations of wide cross-cultural relevance.” 57
Die gegenwärtige, angloamerikanische Vergleichende Sozial- und/oder Kulturanthropologie, sozusagen eine Mutterdisziplin der Visuellen Anthropologie, untersucht common sense in seinen kulturellen Ausprägungen und sozialen Auswirkungen. Common sense, als das Verständnis davon, wie die Welt funktioniert, ist jedoch keine universelle Kategorie, sondern divergent, inkonsistent und immer eingebettet in sensorische Wahrnehmung und praktische Politik. Die anthropologische Praxis konzentriert sich auf die kritische Auseinandersetzung mit der Welt, nicht auf eine distanzierte, autoritative Erklärung dieser.58 Daher sollte die Herangehensweise an visuelle, kommunikative Systeme, oder weiter gefasst, die Medien, auch von einem Fokus auf Praxis und Agenda geprägt sein.59 Dem voran steht ein bestimmtes Konzept von kultureller Praxis. Für die Anthropologie ist Kultur nicht mehr nur Text. Durch die Hinwendung zu Verkörperung und Affekten in Bezug auf Erkenntnis, sind Signifikanz und Bedeutung von kultureller Praxis nicht mehr rein linguistisch zu fassen. Der Körper ist mehr und weniger als Text. Der strukturalistische Gebrauch linguistischer Modelle basierte auch darauf, semiotische Systeme als total und damit statisch zu verstehen. Diese Annahme wird von agency und practice ernsthaft untergraben, denn beide betonen den vergänglichen Aspekt scheinbar realer Permanenz. Beide sind Werkzeug und Produkt kultureller Prozesse, Kultur wiederum ist emergent in performance.60
Die Verlagerung von System zu Aktion verlangt dennoch danach, den Systembegriff zu rekonzeptualisieren. Soziale Ordnung benennt nicht nur die Mittel, welche die Aktionen organisieren, sondern soziale Ordnung wird gleichzeitig ebenso durch diese Mittel produziert. Wendet man sich also sozialer Praxis zu, muss man sich neue Fragen zur sozialen Ordnung stellen. Wer ist für sie verantwortlich, wie entsteht sie, verändert sie sich und wie dauerhaft ist sie? Begreift man Kultur als Performanz, lädt dies dazu ein, sie als mehrschichtig zu betrachten und das bedeutet, dass Analysen sowohl Produzenten, Konsumenten als auch die physischen Gegebenheiten kultureller Performanzen betrachten müssen.61
Widmet sich die Anthropologie den populären Massenmedien, hat sie sich zunächst zwei grundlegenden Problemen zu stellen. Zuallererst steht sie als diagnostische Wissenschaft, die sich intime Felder mit „realen“ Informanten erschließen möchte, völlig paralysiert vor dem schier unendlichen Ausmaß der modernen Medienwelt(-en). Weiterhin steht sie sich in ihrer Sehnsucht nach dem Besonderen und Exotischen selbst im Wege und verweigert sich so, aus einer scholastischen Arroganz heraus, die Untersuchung des Populären.62 Dies jedoch ist eine fatale Form der Ignoranz. Abgesehen davon, dass auch die Anthropologie nicht frei von den Entwicklungen und Auswirkungen der Massenmedien ist, ist es absurd, jene deshalb als unwichtig zu betrachten, weil sie populär sind. Massenmedien, wie TV, Radio, Video, Internet oder Werbung sind so beständig und allgegenwärtig wie Fast Food. Sie sind kulturelle Produkte, sie durchdringen den Alltag, und deshalb liefern sie oft verlässlichere Indizien für die Analyse kultureller Praxis als es z. B. scheinbar höherwertige, zerebrale Kulturprozesse wie „Kunst“ tun. Populäre Massenmedien sind eine bedeutsame Komponente der Realität. Sowohl für die Konsumenten als auch für die Produzenten. Ihre Analyse ist wichtig, auch um soziale Dichotomien zu überwinden und um herauszufinden für wen, unter welchen Umständen, welche Form von Realität entsteht.63
Das Problem des Ausmaßes der Medien heutzutage ist ebenso kein unüberwindbares. Betrachtet man die Interaktion von Produzenten und Konsumenten mit den populären Medienerzeugnissen, so kann festgestellt werden, dass die traditionelle community letztlich eine elektronische Erweiterung erfahren hat.64 Widmet sich die Anthropologie also medialen Feldern, so hat sie sowohl Anlass als auch eine Disposition dafür. Jedoch sollte ihre Aufgabe nicht darin bestehen, die Medien an sich zu analysieren, sondern sollte jene als alltägliche Komponente von und für social agents begreifen.65 Da insbesondere die Themen Rezeption und Agenda von Interesse sind, gilt es, die Massenmedien auf Wechselspiele von Produzenten und Konsumenten hin zu durchleuchten. Diese befinden sich in einem Prozess miteinander und um das mediale Produkt herum angeordnet, dies wird in der Werbung eindeutig. Will man die Bedeutung des medialen Produkts für die Konstruktion von Realität analysieren, können also die media participants nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Anthropologie untersucht Positionen der Produzenten, subjectivities der Konsumenten und Kontext des Gebrauchs von populären Massenmedien. Sie möchte ergründen, welche sozialen Prozesse im Zusammenhang mit Medien entstehen und wie sie funktionieren.66
„At the most general level there is a duality of focus: on the one hand visual anthropology concerns the use of visual material in anthropological research (…) and on the other hand it is the study of visual systems and visual culture (…) – it both produces visual texts and consumes them.“ 67
So oder so beinhaltet die anthropologische Praxis, wie erläutert, immer auch das Thema der Repräsentation der gewonnenen Daten. Eine weitere Aufgabe der Visuellen Anthropologie ist es, die Eigenschaften visueller Systeme zu analysieren, zu benennen (wobei die Reflexion des Interpretationsvorgangs eine erhebliche Rolle spielt) und einzuordnen in jenes soziale System, von dem sie ein Teil sind.68 Die Dominanz der Datengewinnung mittels visueller Medien hatte es sich in der Visuellen Anthropologie für lange Zeit recht gemütlich eingerichtet und darüber wurde möglicherweise das Studium visueller Systeme vernachlässigt. Jenseits des ethnographischen Films gibt es unzählige Bereiche, die durch die Visuelle Anthropologie erschlossen werden können. Dazu gehören solche Prozesse, die sich aus der Produktion sichtbarer Objekte ergeben ebenso, wie jene sozialen Prozesse, die an diverse Formen visueller Kommunikation gebunden sind.69 Visuelle Systeme bewegen sich heutzutage in globalen Bahnen, weshalb auch die dadurch ausgelösten Transformationen der cross-cultural Repräsentationen zum Forschungsobjekt werden können. Gerade weil das Thema Reflexivität in der Anthropologie so vordergründig ist, eignet sie sich methodisch, um die Wanderschaft der Repräsentationen durch die verschiedenen kulturellen Kontexte hindurch zu beobachten. So erschließen sich unerforschte Perspektiven sowohl auf interkulturelle Verschiebungen von Bedeutungen oder Nachrichten, als auch auf missverständliche Repräsentationen.70
Massenmedien sind kein Tabu mehr für die Anthropologie. Sie sind reichhaltige Felder für die Erforschung kultureller Praktiken und multipler Ebenen der Identifizierung, innerhalb welcher Gesellschaften und Kulturen ihre Subjekte produzieren. Zum einen widmet man sich intensiv dem Studium von indigenous media, zum anderen untersucht man die Rolle der Massenmedien in westlichen Gesellschaften, um nachzuvollziehen, wie z. B. die Idee der Nation medial reproduziert und dadurch bestätigt wird. Darüber hinaus spielt auch die Auseinandersetzung mit der medienspezifischen Hapsis eine Rolle, denn allein die Rezeptionsvorgänge zu untersuchen, wird der Beziehung von Medien und Gesellschaft nicht gerecht. Die taktilen, physischen Qualitäten der modernen Medien erfordern ebenso eine Auseinandersetzung mit ihnen, weil sich ihre spezielle Physis unmittelbar auf das Verhältnis zu den Produzenten und Konsumenten medialer Produkte auswirkt.71
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1 „Agonie des Realen“, Jean Baudrillard, Merve Verlag, Berlin, 1978, S. 14-15
2 siehe Anhang, S. 47
3 URL: www.welt.de/wissenschaft/article2053781/Wir_lassen_die_lieber_so_wie_sie_sind.html (02.06., 18:07)
4 „Anthropology – Theoretical Practice in Culture and Society“, Michael Herzfeld, Blackwell Publishers, Malden/Oxford, 2001, S. 18
5 die tageszeitung vom 28./29. Juli 2008, online ist auch eine Falschmeldung geschaltet, die sich auf den eigenen Artikel der taz bezieht, welche jene aufgrund der dpa -Meldung veröffentlichte: URL: www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/wilde-kontroverse/ (05.06.,08:48)
6 URL: www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,561686,00.html (30.06., 19:15)
7 URL: www.tehrantimes.com/index_View.asp?code=171588 (30.07., 09:20), der Artikel des OBSERVER war nicht mehr online, die Tehran Times hat jedoch diesen Artikel übernommen. Schließlich zeigt dies auch die weltweite Pressereaktion ein Stück weit auf.
8 URL: www.survival-international.org/news/3400 (01.07., 21:15)
9 Ebd.
10 URL: www.soziale-systeme.de/docs/sosydebul014.pdf, „Beobachtete Beobachter“, Massenmedien II, Richard David Prech, Buchkritik: Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien (02.07., 08:15)
11 Vgl.: „Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie“, Ansgar Nünning (Hg.), Metzler, Stuttgart, 2008, S. 618, rechte Spalte
12 „Documentary – a History of the Non-Fiction Film”, Erik Barnow, Oxford University Press, Oxford/New York, 1993, S. 348
13 Die Wolof sind ein Volk in Westsenegal, Mauretanien und Gambia, etwa 4 Mio.; sie sind Feldbauern, betreiben Viehhaltung, Fischfang und Handwerk. Quelle: Meyers Online Lexikon, URL: http://lexikon.meyers.de/meyers/Wolof, (02.07.; 09:15)
14 „The History of Ethnographic Film”, Emilie de Brigard, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S.15 & „Ciné-Ethnography“, Jean Rouch, University of Minnesota Press, Minneapolis/London, 2003, S. 30
15 Ebd.; & Vgl.: „Film Verstehen”, James Monaco, Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg, 2004 (Erstauflage 1974), S. 235 ff
16 „Visual Anthropology in a Discipline of Words”, Margaret Mead, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S.3
17 Ebd., S.4
18 Ebd., S. 5 ff
19 Vgl.: „Präsenz und Repräsentation – Die Anderen und das anthropologische Schreiben”, Johannes Fabian, in: „Kultur, soziale Praxis, Text – die Krise der ethnographischen Repräsentation”, Eberhard Berg & Martin Fuchs (Hg.), Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1993, S. 335 ff
20 „Conclusion: Ethnographic Filming and Anthropological Theory”, Paul Hockings, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S. 520
21 Vgl.: „Matters of Fact”, Roger Sandall, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S. 465 ff & diese Arbeit, Kapitel II.II S. 9 ff
22 „Visual Anthropology in a Discipline of Words”, Margaret Mead, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S. 8-10
23 „Conclusion: Ethnographic Filming and Anthropological Theory”, Paul Hockings, in: „Principles of Visual Anthropology”, Paul Hockings (Hg.), Mouton de Gruyter, Berlin/New York, 2003 (Erstauflage 1974), S. 513 ff
24 „Representing Reality – Issues and Concepts in Documentary”, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington, 1991, S. 32
25 Ebd.
26 Ebd., S. 33-34
27 Ebd., S. 34
28 Ebd., S. 34-38
29 Ebd., S. 38-44
30 Ebd., S. 44-56
31 Ebd., S. 56-68, & Vgl.: „Ethnographic Film”, Karl G. Heider, University of Texas Press, Austin, 2006 (Erstauflage: 1976), S. 67 ff
32 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 1
33 Ebd., S. 63-64
34 Jean Rouch, 1973, zitiert in: „Ciné-Ethnography“, Jean Rouch, University of Minnesota Press, Minneapolis/London, 2003, S. 46
35 Ebd., S. 64-65, & Vgl.: „An introduction to theory in anthropology”, R. Layton, Cambridge University Press, Cambridge, 1997, S. 184
36 Vgl.: „Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes – Neuguinea 1914-1918“, Bronislaw Malinowski, Syndikat, Frankfurt/Main, 1985
37 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 65-66 & Vgl.: „The Ethnographer’s Eye – Ways of Seeing in Modern Anthropology“, Anna Grimshaw, Cambridge University Press, Cambridge, 2008, S. 44 ff
38 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S.67-69
39 Ebd., S. 73-74
40 Ebd., S. 74-75
41 Vgl.: „Film theory and spectatorship in the age of the ’posts’“, Robert Stam, Ella Habiba Shohat in: „Reinventing Film Studies“, (Hg.) Christine Gledhill, Linda Williams, Hodder Arnold, London, 2000, S. 397 ff & “Looking and subjectivity”, diverse, in: “Visual Culture: a reader”, Jessica Evans & Stuart Hall (Hg.), Sage, London, 1999, S. 307 ff
42 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 70 & S. 75
43 Vgl.: „Film theory and spectatorship in the age of the ’posts’“, Robert Stam, Ella Habiba Shohat in: „Reinventing Film Studies“, (Hg.) Christine Gledhill, Linda Williams, Hodder Arnold, London, 2000, S. 397 ff
44 „Sympathy for the Devil – das Konzept der Identifikation in der psychoanalytischen Filmtheorie“, Annemone Ligensa, in: „ Psyche im Kino“, Ballhausen et al (Hg.), filmarchiv austria, Wien, 2006
45 Vgl.: „Das Bewegungs-Bild / Kino 1”, Gilles Deleuze, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997 & „Francis Bacon: The Logic of Sensation“, Gilles Deleuze, continuum, London/New York 2005; (Anm: Deleuze bezieht sich dabei ebenso wie hier Nichols auf Pierce.)
46 „Deleuze and Horror Film“, Anna Powell, Edinburgh University Press Ltd., Great Britain, 2006, S. 4
47 „Deleuze and Horror Film“, Anna Powell, Edinburgh University Press Ltd., Great Britain, 2006, S. 4-5
48 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 75
49 Ebd., S. 78
50 Blaise Pascal, zitiert in: „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 2
51 Ebd., S. 79-91
52 Vgl. diese Arbeit, Kapitel I, S. 6-8
53 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 93-95
54 Ebd., S. 96-105
55 Ebd., & Vgl.: „Film theory and the revolt against master narratives“, Bill Nichols in: „Reinventing Film Studies“, (Hg.) Christine Gledhill, Linda Williams, Hodder Arnold, London, 2000, S. 34 ff
56 „Blurred Boundaries – Questions of Meaning in Contemporary Culture“, Bill Nichols, Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 1994, S. 98
57 „Transcultural Cinema“, David MacDougall, Princeton University Press, Princeton, 1998, S. 272
58 „Anthropology – Theoretical Practice in Culture and Society“, Michael Herzfeld, Blackwell Publishers, Malden/Oxford, 2001, S. 1 ff
59 Ebd., S. 17
60 Ebd., S. 52-54; & Vgl.: „An introduction to theory in anthropology“, Robert Layton, Cambridge University Press, Cambridge, 1997, S. 206 ff
61 „Anthropology – Theoretical Practice in Culture and Society“, Michael Herzfeld, Blackwell Publishers, Malden/Oxford, 2001, S. 254-255
62 Ebd., S. 296-297
63 Ebd., S. 297 & S. 304
64 Vgl. diese Arbeit, Kapitel III., S.18 ff
65 Ebd., S. 297-300
66 Ebd., S. 300-308
67 „Rethinking Visual Anthropology“, Marcus Banks & Howard Murphy (Hg.), Yale University Press, New Haven/London, 1997, S. 1
68 Ebd., S. 2
69 Ebd., S. 5, 17, 23 ff
70 Ebd., S. 28-31
71 „Media Worlds – Anthropology on New Terrain“, Ginsburg et al (Hg.), University of California Press, Berkeley/London, 2002, S. 1-27
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2008, Eine anthropologische Reise durch das Massenmedium Werbung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537057
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