Ziel der Arbeit ist es, das Mentalisierungsinteresse von in Deutschland lebenden Afghanen und Deutschen vergleichend anhand der Attributional Complexity Scale zu untersuchen.
Die Untersuchung erfolgt aufbauend auf dem Verständnis von Bindung und Erziehung in Afghanistan, so dass eine kulturspezifische Untersuchung gegeben ist. Somit dient diese Forschung nicht der Demonstration der Universalität des Mentalisierungskonzeptes. Stattdessen soll, ganz im Sinne der Kritik KELLERS, überprüft werden, ob das Einbeziehen von Kultur in zukünftige Untersuchungen zur Mentalisierung notwendig ist. Durch eine statistische Analyse wird mit einer afghanischen und deutschen Stichprobe untersucht, ob die Faktoren Herkunft und Kultur einen signifikanten Einfluss auf das Mentalisierungsinteresse haben.
Zunächst werden Grundlagen des Mentalisierungskonzeptes geklärt. Hier werden ebenfalls die bereits erwähnten unterschiedlichen Dimensionen der Mentalisierungsfähigkeit erläutert. Anschließend wird beschrieben, wie sich die Mentalisierungsfähigkeit und das Mentalisierungsinteresse entwickeln und wodurch sie beeinflusst werden. Zusätzlich werden empirische Zugänge zur Bewertung des Mentalisierens und des Interesses daran genannt und kurz erläutert. Abschließend wird detaillierter auf die unterschiedlichen Theorien zum Einfluss von Kultur und Trauma eingegangen. Danach werden kulturspezifische Grundlagen und Erziehungsziele der afghanischen Gesellschaft vorgestellt.
Anschließend werden die Attributional Complexity Scale nach FLETCHER ET AL. und ihre Entwicklung erläutert, mit derer das Mentalisierungsinteresse quantitativ bewertet wird. Nachfolgend werden die unterschiedlichen Dimensionen von Attributionskomplexität näher beschrieben. Es werden die Probanden beider Stichproben vorgestellt und in den Testablauf eingeführt. Anschließend werden sowohl die Auswertungsmethoden der einzelnen ACS und der statistischen Analyse beschrieben. Darauf aufbauend erfolgt die Vorstellung der ACS-Ergebnisse. Ferner wird der Frage nachgegangen, ob und wie sich die Werte zum Mentalisierungsinteresse bei der deutschen und bei der afghanischen Stichprobe unterscheiden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Motivation
1.2 Zielsetzung
1.3 Aufbau
2 Mentalisierung
2.1 Definition und Begriffsbestimmung
2.1.1 Automatisches (implizit) vs. kontrolliertes (explizit) Mentalisieren
2.1.2 Internal fokussiertes (inneres) vs. extern fokussiertes (äußeres) Mentalisieren
2.1.3 Selbstorientiertes (Selbst) vs. fremdorientiertes (Andere) Mentalisieren
2.1.4 Kognitives vs. affektives Mentalisieren
2.2 Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit
2.2.1 Affektspiegelung
2.2.2 Bindung und Mentalisierung
2.2.3 Nichtmentalisierende und prämentalisierende Modi
2.2.4 Empirische Zugänge
2.2.5 Mentalisierungsinteresse
2.3 Einflussfaktoren auf die Mentalisierungsfähigkeit und das -interesse
2.3.1 Kultur
2.3.2 Trauma
3 Ausgewählte Grundlagen zu Afghanistan
3.1 Geographische Grundlagen
3.2 Kultur
3.3 Erziehung
4 Attributional Complexity Scale als Messinstrument
4.1 Entwicklung des Fragebogens
4.2 Darstellung des Fragebogens
4.3 Proband*innen und Durchführung
4.4 Ergebnisauswertung der ACS und statistische Analyse
4.5 Integration der Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand und Ergebnisinterpretation
4.6 Limitationen
5 Schluss
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Fazit
5.3 Ausblick
6 Quellenverzeichnis
7 Anhang
Anhang A: ACS Deutsch
Anhang B: ACS Persisch
Anhang C: ACS-Werte der afghanischen Proband*innen Anhang
D: ACS-Werte der deutschen Proband*innen
Anhang E: Einfaktorielle Varianzanalyse des Faktors Herkunft
Vorwort
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die durch ihre fachliche und persönliche Unterstützung zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.
Mein Dank gilt meiner Betreuerin, Frau Melanie Henter, die mir bei jeglichen Fragen mit ihren fachlichen und persönlichen Kompetenzen stets helfend zur Seite stand.
Ebenso möchte ich mich bei Ghafar Arief bedanken, der mir mit seinen Persischkenntnissen immer helfend zur Seite stand und von dem die persische Übersetzung der Attributional Complexity Scale stammt. Zusätzlich danke ich allen Proband*innen, die an meiner empirischen Studie teilgenommen und mich dadurch enorm unterstützt haben.
Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, insbesondere meinen Eltern und meinen Großeltern, die mir mein Studium ermöglicht und mich in all meinen Entscheidungen unterstützt haben.
Ebenso gilt mein Dank meiner besten Freundin Ramona und der Pomodoro-Methode, ohne die ich lange nicht so effektiv gewesen wäre und die sich alle meine Überlegungen angehört und mit durchdacht hat.
Herzlich danken möchte ich mich zusätzlich bei meinem Freund Khesrau, der mich bei all meinen Ideen unterstützt und mir fachlich zur Seite gestanden hat. Besonders in Zeiten, in denen das Ziel weit weg schien, war er für mich da.
Vielen Dank.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2: Effektdiagramm des Faktors Herkunft
Abbildung 3: ACS-Werte der einzelnen Proband*innen beider Stichproben um den Gesamtmittelwert
Abbildung 4: ACS-Mittelwert der afghanischen Stichprobe verglichen mit anderen Stichproben (angelehnt an Anhang C; Anhang D;
TAUBNER/MUNDER/MÖLLER/HANKE/KLASEN 2014, 219; TAUBNER/CURTH/UNGER/KOTTE 2014, 751)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Deskriptive Stichprobenmerkmale
Tabelle 2: Mittelwerte beider Stichproben, aufgeteilt nach Herkunft und Geschlecht.
1 Einleitung
1.1 Motivation
Seit 2015 hat sich die Zahl der in Deutschland lebenden Afghan*innen1 stetig erhöht, bis auf 257.110 in 2018 (STATISTA 2019). Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte in Kindertagesstätten und Schulen werden immer häufiger mit unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen von Erziehung und Bindung konfrontiert. Meinungen über sichere Bindung, Affektregulierung oder das Interesse an Erklärungsweisen für menschliches Verhalten, die dem Mentalisierungskonzept zugrunde liegen, variieren kulturspezifisch. Mentalisierung wird nicht als theoretisches Bewusstsein verstanden, sondern als „die Art und Weise, wie Bindungsbeziehungen interpretiert werden“ (vgl. TAUBNER 2015, 15). Beziehungen begleiten Menschen ein Leben lang. Angefangen von der Schwangerschaft, der Geburt, frühen Erfahrungen mit Eltern und/oder anderen Bezugspersonen, der Kindertagesstätte oder auch der Schule. Somit ist eine genauere kulturspezifische Betrachtung dieses Konzepts für den zwischenmenschlichen und pädagogischen Alltag unumgänglich. Das Mentalisierungskonzept geht auf den Psychologen Peter Fonagy und die Psychologin Mary Target zurück, die auf Grundlage der Bindungstheorie ein Konzept über das Reflektieren mentaler Zustände von sich selbst und anderen bildeten. Mentalisierung beschreibt die prozesshaft erworbene Fähigkeit, bei der die inneren kognitiven und affektiven Zustände und das Verhalten der eigenen Person und anderer in zwischenmenschlichen Interaktionen beteiligten Personen wahrgenommen sowie interpretiert werden (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 76). Dass eine kulturspezifische Betrachtung zum Bindungs- oder Mentalisierungskonzept nicht auf das Verständnis der jeweiligen Kultur ausgerichtet ist, „sondern dazu dient, Universalität zu demonstrieren“ (KELLER 2019, 59), wird der alltäglichen pädagogischen Arbeit in einer multikulturellen Gesellschaft wie in Deutschland nicht gerecht. Immer wieder führt die ethnozentrierte Betrachtung von richtiger Erziehung, Bindung oder Mentalisierung auf Grundlage der Vorstellung euroamerikanischer Mittelschichtsfamilien zu Unverständnis oder Missverständnissen in der pädagogischen Arbeit.
Das (familiäre) Umfeld und deren Interpretation von Erziehung, Bindung und Mentalisierung ist Grundlage für die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit, aber auch für das Interesse am Mentalisieren. Verschiedene Kulturen haben unterschiedlichen Einfluss auf Bindung und Erziehung. Das zeigen bereits mehrere theoretische und empirische Forschungen der letzten Jahre (vgl. KELLER 2019; MOUSAVI/MAZAHERI/ASLAFI/KHALIGHI/POORGANJI 2018; OTTO/KELLER 2012; FUNK/RÖTTGER-RÖSSLER/SCHEIDECKER 2012). Infolgedessen ist davon auszugehen, dass die Herkunft einer Person, somit auch ihre Kultur, Einfluss auf das Entwickeln der Mentalisierungsfähigkeit und das Mentalisierungsinteresse hat. Da bisher keine empirischen, und vor allem keine vergleichenden, Studien zum Einfluss von Kultur auf das Mentalisierungsinteresse bestehen, wird Letzteres in der vorliegenden Arbeit genauer am Beispiel von in Deutschland lebenden Afghan*innen und Deutschen überprüft. Der nach wie vor aktuellen, jedoch nicht neuen Kritik, dass das Mentalisierungskonzept ebenso wie die Bindungstheorie kulturspezifisch auf die euroamerikanische Mittelschichtsfamilie ausgelegt ist (vgl. KELLER 2019, 48), wird somit empirisch nachgegangen. Mentalisierung beinhaltet auch das Berücksichtigen von Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen, weshalb eine wertschätzende Haltung im Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen von Bindung und Erziehung Grundlage eines respektvollen Umgangs im pädagogischen Alltag und auch dieser Arbeit ist. Kulturspezifisches Wissen ermöglicht das Einbeziehen von weiteren Faktoren in Maßnahmen oder im Unterricht, was die pädagogische Arbeit ergänzt und bereichert. Dies soll Konflikten im pädagogischen Alltag für Erzieher*innen, Lehrkräfte, Eltern und Kindern vorbeugen. Zusätzlich ermöglicht eine wissenschaftliche Betrachtung des Kultureinflusses eine mögliche Ergänzung des Mentalisierungskonzeptes, so dass verschiedene Faktoren mit einbezogen werden und die Fähigkeitsentwicklung, aber auch das Interesse, zukünftig noch detaillierter erforscht werden können. Da afghanische Kinder in einer kollektivistischen Gesellschaft aufwachsen und eindeutig stärker zum „Wir“-Denken als zum „Ich-Denken“ erzogen werden (vgl. MOUSAVI ET AL. 2018, 3), ist eine Abweichung bezüglich des Mentalisierungsinteresses aufgrund des interdependenten Erziehungsstils zu erwarten.
1.2 Zielsetzung
Wie bereits erläutert, ist davon auszugehen, dass die durch Herkunft und Kultur geprägten unterschiedlichen Auffassungen über Erziehung, Bindung und das Reflektieren der Ursachen menschlichen Verhaltens Einfluss auf das Mentalisierungsinteresse zeigen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher zunächst, das Mentalisierungsinteresse von in Deutschland lebenden Afghan*innen und Deutschen vergleichend anhand der Attributional Complexity Scale2 zu untersuchen. Die Untersuchung erfolgt aufbauend auf dem Verständnis von Bindung und Erziehung in Afghanistan, so dass eine kulturspezifische Untersuchung gegeben ist. Somit dient diese Forschung nicht der Demonstration der Universalität des Mentalisierungskonzeptes. Stattdessen soll, ganz im Sinne der Kritik KELLERS (2019, 59), überprüft werden, ob das Einbeziehen von Kultur in zukünftige Untersuchungen zur Mentalisierung notwendig ist. Dies beruht auf der angenommenen Prämisse, dass sich das Mentalisierungsinteresse kulturspezifisch aufgrund unterschiedlicher Erziehungsziele unterscheidet (vgl. KELLER 2019, 48). Diese gilt es daher besonders zu berücksichtigen, denn „ohne genaue Kenntnisse der Kultur und ihrer Deutungs- und Bedeutungssysteme sind Verhaltensanalysen jedoch bedeutungslos“ (EBD., 58). Vor allem die Unterscheidung zwischen kollektivistischen und individualistischen Erziehungszielen (vgl. RARICK ET AL. 2013, 29) birgt Potenzial für unterschiedliches Mentalisierungsinteresse. Das ist damit zu begründen, dass Kinder zum „Wir-Denken“ oder zum „Ich-Denken“ erzogen werden, was ebenfalls kulturell bedingt ist.
Durch eine statistische Analyse wird mit einer afghanischen und deutschen Stichprobe untersucht, ob die Faktoren Herkunft und Kultur einen signifikanten Einfluss auf das Mentalisierungsinteresse haben. Es ergibt sich folgender Arbeitstitel, um eine vergleichende kultursensible Untersuchung von Mentalisierungsinteresse zu ermöglichen:
„Mentalisierungsinteresse - eine vergleichende quantitative Studie von in Deutschland lebenden Afghan*innen und Deutschen anhand der Attributional Complexity Scale“ Unabhängig davon, ob die Faktoren Herkunft und Kultur einen signifikanten Einfluss haben, liefert die statistische Analyse keine Aussagen über die Ursachen der Ergebnisse. Weil diese Forschung quantitativ das Mentalisierungsinteresse misst und nicht in Form von qualitativen Bindungsinterviews mögliche individuelle Ursachen erforscht, sind nur Ursachenhypothesen für mögliche Ergebnisse und Effekte aufstellbar.
1.3 Aufbau
Aufgeteilt ist die vorliegende Arbeit in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Zunächst werden im einführenden Kapitel 2 Grundlagen des Mentalisierungskonzeptes in Form von Definitionen, Begriffszuordnungen und Einflussfaktoren geklärt. Hier werden ebenfalls die bereits erwähnten unterschiedlichen Dimensionen der Mentalisierungsfähigkeit erläutert. Anschließend wird beschrieben, wie sich die Mentalisierungsfähigkeit und das Mentalisierungsinteresse entwickeln und wodurch sie beeinflusst werden. Zusätzlich werden empirische Zugänge zur Bewertung des Mentalisierens und des Interesses daran genannt und kurz erläutert. Abschließend wird detaillierter auf die unterschiedlichen Theorien zum Einfluss von Kultur und Trauma eingegangen, die sowohl die Mentalisierungsfähigkeit, als auch das Interesse daran, beeinflussen. Danach wird die notwendige Grundlage für eine kulturspezifische Untersuchung von Mentalisierungsinteresse gelegt, indem kulturspezifische Grundlagen und Erziehungsziele der afghanischen Gesellschaft vorgestellt werden.
In Kapitel 4 wird zunächst die Attributional Complexity Scale nach FLETCHER ET AL. (1986) und ihre Entwicklung erläutert, mit derer in der vorliegenden Arbeit das Mentalisierungsinteresse quantitativ bewertet wird. Infolgedessen werden die deutsche Übersetzung (ZIMMERMANN/TAUBNER 2010) und die persische Übersetzung3 der ACS vorgestellt und beschrieben. Nachfolgend werden die unterschiedlichen Dimensionen von Attributionskomplexität, die im Gesamten nach FLETCHER ET AL. (1986) das Mentalisierungsinteresse ergeben und in der ACS überprüft werden, näher beschrieben. Es werden die Proband*innen beider Stichproben vorgestellt und in den Testablauf eingeführt. Anschließend werden sowohl die Auswertungsmethoden der einzelnen ACS und der statistischen Analyse beschrieben. Darauf aufbauend erfolgt die Vorstellung der ACS-Ergebnisse. Hierbei werden die Ergebnisse und die Auswertung der ACS der afghanischen und deutschen Proband*innen grafisch dargestellt, miteinander verglichen und im späteren Verlauf bezüglich möglicher Ursachen ebenfalls interpretiert. Ferner wird der Frage nachgegangen, ob und wie sich die Werte zum Mentalisierungsinteresse bei der deutschen und bei der afghanischen Stichprobe unterscheiden. In Form einer statistischen Analyse wird anhand der Ergebnisse der Attributional Complexity Scale der afghanischen und deutschen Stichprobe geprüft, ob Herkunft bzw. Kultur signifikant für die jeweiligen Ergebnisse sind oder diese einer Zufallsstreuung unterliegen. Die Ergebnisse dieser statistischen Analyse werden vorgestellt und auf der Grundlage der Ausarbeitung über die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit, des Mentalisierungsinteresses und des kulturell bedingten Erziehungsverhaltens in Afghanistan interpretiert. Anschließend werden diese Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand integriert und kritisch betrachtet. Abgeschlossen wird der empirische Teil mit dem Aufzeigen der Betrachtungsgrenzen, in denen die Ergebnisse dieser Arbeit ihre Gültigkeit haben bzw. ihre Gültigkeit verlieren.
In Kapitel 5 werden als Schlussteil die wichtigsten Ausarbeitungen und Ergebnisse zusammengefasst und ein abschließendes Fazit gezogen. Aufbauend auf den bereits in Kapitel 4 genannten Limitationen dieser Forschungen werden im Ausblick neue Forschungsbereiche für weitere Arbeiten definiert. Es werden neue und ungelöste Bereiche genannt, um Ansatzpunkte für Anschlussforschungen aufzuzeigen.
2 Mentalisierung
Im folgenden Kapitel werden der aktuellen Forschungsstand der Mentalisierungsfähigkeit, des Mentalisierungsinteresses und deren Einflussfaktoren vorgestellt. Zunächst erfolgt die Definition und Begriffsbestimmung des Mentalisierens, innerhalb derer die verschiedenen Dimensionen der Mentalisierungsfähigkeit beschrieben werden. Nachfolgend werden die Begriffe und Theorien rund um Bindung und Affektspiegelung erläutert. Hierbei wird speziell auch auf stärker werdende Kritik innerhalb der Literatur eingegangen. So wird der alleinige Bezug auf die vier Bindungstypen nach AINSWORTH für den weiteren Verlauf der Mentalisierungsfähigkeit kritisiert, da hierfür mehr als eine strikte Einteilung in vier unveränderbare Bindungstypen notwendig ist. Anschließend werden die prämentalisierenden Modi vorgestellt, um darauf aufbauen die empirischen Zugänge zu Mentalisierung und Mentalisierungsinteresse zu schildern. Abschließend wird in dem Kapitel Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit erläutert, aus welchen Komponenten sich das Mentalisierungsinteresse zusammenstellt und wie sich dieses von der Mentalisierungsfähigkeit unterscheidet. Das Kapitel wird mit der Beschreibung der Einflussfaktoren der Mentalisierungsfähigkeit und des -interesses abgeschlossen. Diese beinhalten auch Einschränkungen, beispielsweise aufgrund von Flucht, Trauma oder psychischen Krankheiten.
2.1 Definition und Begriffsbestimmung
Mentalisieren wird als prozesshaft erworbene Fähigkeit betrachtet, bei der die inneren kognitiven und affektiven Zustände (mental states) und das Verhalten der eigenen Person und des anderen wahrgenommen und interpretiert werden. Es ist daher eine „gleichermaßen interpersonale wie eine intrapersonale Fähigkeit“ (LUYTEN ET AL. 2015, 76). Ein Individuum sieht sich selbst von außen und die anderen von innen (vgl. EBD., 13; BROCKMANN/KIRSCH 2010, 280; FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 31). So wird das Vorhersagen und Interpretieren von sozialen Interaktionen ermöglicht (vgl. BROCKMANN/KIRSCH 2010, 279). Jedoch kann ein Individuum immer nur Überlegungen über die mentalen Zustände anderer Menschen tätigen, denn ein exaktes Wissen darüber ist nicht möglich. Mentalisieren wird nicht als statische, sondern als dynamische Fähigkeit verstanden. Stress- und Belastungssituationen erschweren bzw. verhindern das Mentalisieren, da ab einem bestimmten Stresslevel die Fähigkeit zur Reflektion kurzzeitig aussetzt (vgl. FONAGY ET AL. 2015, 41; TAUBNER 2015, 57f.; BROCKMANN/KIRSCH 2010, 279).
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird auf diesen Mechanismus bei der Beschreibung des automatischen und kontrollierten Mentalisierens genauer eingegangen.
Menschen können unterschiedlich kompetent mentalisieren, denn jedes Individuum erwirbt diese Fähigkeit intersubjektiv (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 22; TAUBNER 2015, 57). Mentalisieren ist daher als „Form der sozialen Kognition“ zu verstehen (FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 23), weil menschliches Verhalten auf der Grundlage von intentionalen mentalen Zuständen interpretiert wird. Kompetentes Mentalisieren ermöglicht das „Innehalten, Aufschieben und Nachdenken in affektiv aufgeladenen Situationen“ (OBERLERCHNER 2017, 130).
Aus der Multidimensionalität der Fähigkeit, die im weiteren Verlauf detailliert aufgezeigt wird, ergeben sich Überschneidungen mit weiteren Begriffen und Konzepten wie Reflexionsfähigkeit, Feinfühligkeit, Empathiefähigkeit, emotionale Intelligenz oder auch Theory of Mind4 (vgl. OBERLERCHNER 2017, 130). Diese Begriffe sind als Teilbereich der Mentalisierungsfähigkeit zu betrachten, dürfen jedoch keinesfalls untereinander gleichgesetzt werden. Stattdessen ist die Mentalisierungstheorie als dynamische ToM zu betrachten, die jedoch die individuellen Entwicklungsbedingungen und -voraussetzungen in den frühen Bindungsbeziehungen des Individuums detaillierter untersucht (vgl. FONAGY/GERGELY/JURIST/TAGERT 2018, 79f.). Das Konzept der Mentalisierung baut auf psychoanalytischen Überlegungen, unter anderem von Sigmund und Anna Freud auf, da es Anteile der Ich-Instanz, wie die bewusste und ausgleichende Funktion, beinhaltet (vgl. TAUBNER 2015, 37).
Um die Multidimensionalität des Mentalisierungsbegriffs sowohl im empirischem als auch im klinischen Gebrauch zu erläutern, werden im Folgenden die vier verschiedenen Dimensionen automatisches vs. kontrolliertes Mentalisieren, internal fokussiertes vs. external fokussiertes Mentalisieren, selbstorientiertes vs. fremdorientiertes Mentalisieren und kognitives vs. affektives Mentalisieren nach LUYTEN ET AL. (2015) vorgestellt. Durch die Einteilung in verschiedene Dimensionen wird das Erstellen prototypischer Mentalisierungsprofile für spezifische Krankheitsbilder wie der Borderline- Persönlichkeitsstörung5 oder der narzisstischen Persönlichkeitsstörung möglich. Anhand der Defizite in den verschiedenen Dimensionen wird eine spezifisch abgestimmte Therapie und Förderung möglich. So zeigen Menschen mit BPS zum Beispiel typischerweise hohes extern fokussiertes Mentalisieren und sehr niedriges internal fokussiertes Mentalisieren, wenn sie sich in Belastungssituationen befinden und ihr Bindungssystem aktiviert ist. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung dagegen zeigen typischerweise durchschnittliches internal fokussiertes und niedriges extern fokussiertes Mentalisieren (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 86ff.; SEVECKE/TAUBNER 2015, 176). Die vier Dimensionen ergeben sich durch jeweils zwei gegensätzliche Pole, die innerhalb einer normalen Entwicklung bei gelungenem Mentalisieren wechselhaft verwendet werden können und ausgeglichen sind. Sie bedingen sich gegenseitig, allerdings bedeutet eine Diskrepanz zwischen zwei Polen in einer Dimension nicht linearkausal Defizite in den anderen drei Dimensionen. Die verschiedenen Dimensionen zeigen Überlappungen mit anderen Konzepten wie Achtsamkeit, Theory of Mind oder auch Empathie (vgl. FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 41). Die Zusammenhänge und Überlappungen werden im Folgenden innerhalb der einzelnen Dimensionen vorgestellt und erläutert. Neben der verschiedenen Mentalisierungsdimensionen unterteilen TAUBNER/FRITSCH/LÜCK/VESTERLING/BÖHMANN/STUMPE (2014, 699ff.) die Mentalisierungsfähigkeit zusätzlich in online und offline Mentalisieren. Diese Unterscheidung wird im späteren Verlauf dieses Kapitels bei der Beschreibung der Affektspiegelung vorgestellt.
2.1.1 Automatisches (implizit) vs. kontrolliertes (explizit) Mentalisieren
Das automatische und kontrollierte Mentalisieren ist nach FONAGY/BATEMAN/LUYTEN (2015, 41) die wichtigste der vier Dimensionen. Weil ein ständiges kontrolliertes (explizites) Mentalisieren in alltäglichen Situationen für Menschen eher hinderlich und zu zeitintensiv ist, wird im Alltag mehrheitlich automatisch (implizit) und nur in sehr bewussten Situationen kotrolliert (explizit) mentalisiert (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 77). Die verschiedenen Pole benötigen eine Aktivierung in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken, was durch KEYSERS/GAZZOLLA (2007) in empirischen Studien bestätigt wurde (zit. n. FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 43). Zu häufiges automatisches Mentalisieren wird als Hypermentalisieren bezeichnet und kann die Interaktion in sozialen Beziehungen einschränken bzw. behindern (vgl. EBD. 2015, 42). Bei erhöhtem Stress oder Arousal und emotionaler Erregtheit erfolgt entweder ein Umschalten der Mentalisierungsdimensionen von kontrolliert in automatisch, oder aber das Zugreifen auf die Mentalisierungsfähigkeit bleibt dem Individuum ab einem spezifischen Umschaltpunkt vollständig verwehrt. Dieses Umschalten zieht einen Wechsel von „vorwiegend präfrontalen, kontrollierten und exekutiven Funktionsmodi zu vorwiegend automatischen Funktionsmodi“ nach sich (LUYTEN ET AL. 2015, 68).
Der Umschaltpunkt ist bei jeder Person individuell und von drei Faktoren abhängig. Zuerst der Punkt, an dem das Umschalten von kontrollierendem auf automatisches Mentalisieren stattfindet, weiterhin die Intensität des Zusammenspiels zwischen Stress und Umschaltung und als letzter Faktor die Erholungsdauer, bis die Rückschaltung von automatischem zum kontrollierten Mentalisieren stattfinden kann (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 68ff.). Automatisches Mentalisieren basiert auf „verzerrten Annahmen über das Selbst und andere“ und wird durch Stress- und Belastungssituationen, insbesondere in Bindungsbeziehungen, hervorgerufen (LUYTEN ET AL. 2015, 79ff.; FONAGY ET AL. 2015, 41). Kontrolliertes Mentalisieren dagegen ist bei „geringer bis mittlerer Erregung“ ideal möglich (KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 36). Es umfasst bewusste, reflektierte Entscheidungen, verbale Prozesse und Affektregulierung (vgl. TAUBNER 2015, 61; TAUBNER/SEVECKE 2015, 176). Um bewusst und kontrolliert zu reflektieren, wird hierfür Aufmerksamkeit benötigt (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 77). Beim automatischen Mentalisierens entscheidet sich ein Individuum zwischen einer Kampfoder einer Fluchtreaktion, welche sich in der phylogenetischen Entwicklung des Menschen begründet und in besonders herausfordernden Situationen zur Selbstregulation aufgrund der eigenen emotionalen Instabilität verwendet wird (vgl. EBD., 36). Das Individuum begibt sich dann entweder in eine aggressive Kampfposition und stellt sich der Situation, oder flüchtet aus der Situation und entzieht sich vollständig. Entscheidungen im Kampf- oder Fluchtmodus basieren nicht auf Intentionalität oder reflektierten Entscheidungen, sondern lediglich Reflexen (vgl. TAUBNER 2015, 61f.). Bei sehr hohem Arousal/Stress ist ein vollständiger Verlust der Mentalisierungsfähigkeit möglich, wodurch in prämentalisierenden Modi gehandelt wird (vgl.LUYTENET AL. 2015, 69). Diese werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels detailliert vorgestellt.
2.1.2 Internal fokussiertes (inneres) vs. extern fokussiertes (äußeres) Mentalisieren
Für internal und extern fokussiertes Mentalisieren ist das bewusste uns sensible Wahrnehmen für innere und äußere Eigenschaften von anderen, aber auch der eigenen Person, sowie deren wechselseitige und komplexe Beziehung, eine grundlegende Voraussetzung. Äußere direkt ablesbare Eindrücke, wie z.B. Mimik oder Handlungen, werden wahrgenommen und interpretiert. Extern fokussiertes Mentalisieren findet mehrheitlich automatisch statt (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 78). Bei innerem und äußerem Mentalisieren sind die neuronalen Netzwerke nicht identisch (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 87; TAUBNER 2015, 62). Innere mentale Zustände sind Gedanken, Gefühle, Meinungen und Wünsche. Diese werden von anderen oder der eigenen Person, ebenfalls kognitiv, hinsichtlich der mentalen Innenwelten erörtert (vgl. TAUBNER/SEVECKE 2015, 176). In der Regel erfolgt dieser Vorgang kontrolliert (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 78).
Inneres und äußeres Mentalisieren ist nicht zu verwechseln mit dem Mentalisieren des Selbst und der Anderen, da hier nicht Personen oder Subjekte im Fokus des Reflektierens stehen, sondern das Innere und das Äußere von sich selbst und anderen (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/FONAGY 2016, 44f.).
2.1.3 Selbstorientiertes (Selbst) vs. fremdorientiertes (Andere) Mentalisieren
Beim Mentalisieren des Selbst und der Anderen werden im Gegensatz zu den anderen drei Dimensionen keine unterschiedlichen neuronalen Netzwerke aktiviert, da diese nahezu identisch sind (vgl. LIEBERMAN 2007, zit. n. TAUBNER 2015, 62). Diese Mentalisierungsdimension wird auch als „Fähigkeit, verkörpertes Wissen mit stärker reflektiertem Wissen über das selbst und andere zu integrieren“ bezeichnet (LUYTEN ET AL. 2015, 87). Obwohl sich die beiden Pole gegenseitig stark bedingen, ist ein extremes Ungleichgewicht in Form von mangelnder Selbst-Objekt-Abgrenzung möglich (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 78). Bei einer eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeit innerhalb dieser Dimension wird im klinischen Bereich von einer Dissoziation oder Unausgeglichenheit der neuronalen Systeme ausgegangen (vgl. BLATT/LUYTEN 2009, zit. n. TAUBNER 2015, 62). Depressive Menschen können Wünsche und Intentionen anderer kompetent einschätzen, während sie zum Teil große Defizite beim Mentalisieren und Wahrnehmen der eigenen mentalen Zustände zeigen. Im Gegenzug ist bei einer narzisstischen Persönlichkeit aufgrund des Egozentrismus der Pol des selbstorientierten Mentalisierens stark ausgeprägt, während die mentalen Zustände aufgrund fehlenden fremdorientierten Mentalisierens nicht wahrgenommen oder interpretiert werden können (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 78). Insgesamt sind drei verschiedene Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit beim Selbst und bei anderen festzustellen. Als erstes eine fehlende Mentalisierungsfähigkeit bei sich selbst und bei anderen, als zweites eine fehlende Ausgeglichenheit dieser beiden Pole und als letztes eine Unausgeglichenheit bezüglich der anderen Mentalisierungsaspekte, das heißt automatisches/kontrolliertes, inneres/äußeres und kognitives/affektives Mentalisieren beim Mentalisieren des Selbst und der anderen (vgl. FONAGY ET AL. 2015, 47f.). Fokussiert eine Person ausschließlich extern und nicht internal, dann wird sich diese Unausgeglichenheit ebenfalls auf das selbstorientierte und fremdorientierte Mentalisieren auswirken. Eine signifikante Unausgeglichenheit der beiden Pole in Form von fehlendem Mentalisieren von anderen ist empirisch bei gewalttätigen Straftätern im Vergleich zu nichtgewalttätigen Straftätern durch FONAGY ET AL. (1997) belegt worden (zit. n. TAUBNER et al. 2010, 316).
Das selbstorientierte Mentalisieren zeigt Überlappungen mit dem Konzept der Achtsamkeit, in der eigene mentale Zustände in Form von Affekten, aber auch Wünschen und Intentionen, wahrgenommen werden. Dieses Konzept ist als Sensibilität für sich selbst zu verstehen (vgl. TAUBNER 2015, 22).
2.1.4 Kognitives vs. affektives Mentalisieren
Innerhalb der letzten Dimension wird zwischen kognitivem und affektivem Mentalisieren differenziert. Hier finden sich erneut Überschneidungen mit anderen psychologischen Konstrukten und Konzepten. Kognitives Mentalisieren beinhaltet die Überlegungen der Theory of Mind-Forschung. Menschen nehmen an, dass nicht nur sie selbst, sondern auch andere Personen Gedanken und Gefühle haben und diese nicht zwangsläufig mit den eigenen übereinstimmen. Nach FONAGY ET AL. (2015, 32) meint dies die eigene Vorstellung über die Gedanken, Wünsche und Meinungen anderer Personen. Dies sind jedoch immer nur subjektive Vermutungen. Interpretationen entsprechen nicht zwangsläufig objektiven Tatsachen (vgl. ALLEN ET AL. 2008, zit. n. TAUBNER 2015, 17). Das affektive Mentalisieren zeigt starke Überschneidungen mit dem Konzept der Empathie oder auch der emotionalen Theory of Mind (vgl. Taubner 2015, 22f.). Ein Individuum nimmt die Affekte einer anderen Person nicht nur wahr oder interpretiert sie, sondern empfindet sie bis zu einem gewissen Punk nach (vgl. Fonagy et al. 2015, 145). Einschränkungen bezüglich dieser Mentalisierungsdimension lassen sich bei Menschen mit narzisstischer, antisozialer Persönlichkeitsstörung oder Borderline- Persönlichkeitsstörung feststellen. So ist es möglich, eine Vorstellung über mentale Zustände anderer zu haben, ohne jedoch die die dazu passenden Emotionen nachzuempfinden (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 79). Die Gründe für Einschränkungen in dieser Mentalisierungsdimension, z.B. bei Menschen mit Depression oder BPS, sind empirisch noch ungeklärt. Hierbei ist eine andauernde Unausgeglichenheit, eine „dynamische Abwehrstrategie oder ein entwicklungsbedingtes
Defizit“ als Grund möglich (TAUBNER/SEVECKE 2015, 177). Die „mentalisierte Affektivität“ gilt als Ziel und somit Dynamik innerhalb dieser Pole (KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 79). Mit dieser Fähigkeit ist ein Individuum in der Lage, sein Wissen (Kognition) und seine Affekte (Gefühle) miteinander zu verbinden und zu integrieren. FONAGY/BATEMAN/LUYTEN (2015, 52f.) ergänzen als vollständiges Mentalisieren die Fähigkeit, Aspekte des Verstehens von Überzeugungen, Gedanken und Intentionen mit einem kontrollierten Perspektivwechsel in Form der ToM und einer ergänzenden allgegenwärtigen affektiven Empathie kombinieren zu können.
2.2 Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit
Nachfolgend wird das Konzept der Affektspiegelung und dessen Bedeutung für die Entwicklung einer Mentalisierungsfähigkeit vorgestellt und detailliert beschrieben. Darauf aufbauend erfolgt eine Beschreibung der verschiedenen Bindungsmuster und Bindungsrepräsentationen, die sich in Abhängigkeit der Affektspiegelung durch die Bezugsperson bei einem Kleinkind entwickeln können. Die Zusammenhänge zwischen der klassischen Bindungstheorie nach BOWLBY und dem Mentalisierungskonzept werden danach erläutert und kritisch betrachtet. Die prämentalisierenden Modi, die der Mentalisierungsfähigkeit entwicklungspsychologisch vorausgehen, werden zusätzlich beschrieben. Abschließend werden verschiedene empirische Zugänge zur Mentalisierungsfähigkeit und zum Mentalisierungsinteresse genannt. Abgeschlossen wird mit der Beschreibung des Mentalisierungsinteresses. Nachfolgend wird kurz aufgezeigt, welche Unterschiede zwischen Mentalisierungsinteresse und der Mentalisierungsfähigkeit bestehen, da ersteres die Voraussetzung für das Entwickeln der Mentalisierungsfähigkeit ist.
2.2.1 Affektspiegelung
Verschiedene fördernde und hemmende Faktoren beeinflussen die Mentalisierungsentwicklung eines Individuums, auf die im Folgenden eingegangen wird. Die Fähigkeit zur Mentalisierung entwickelt sich ab einem Alter von neun Monaten bis ins Alter der Adoleszenz (vgl. KÖHLER 2004, 160). Prägend sind jedoch bereits die ersten Lebensmonate. Besonders relevant für die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit sind die kindlichen Erfahrungswerte darüber, ob die eigenen Emotionen durch eine Bezugsperson angemessen gespiegelt wurden. Ein Säugling oder Kleinkind empfindet Emotionen in Form von Affekten (Wut, Freude, Traurigkeit) und kann diese „im Sinne mimisch-gestischer, physiologischer und motorischer Schablonen“ (OBERLERCHNER 2017, 130) ausdrücken. Allerdings kennt der Säugling die dazugehörigen emotionalen Ursprünge nicht. Hierfür benötigt erdie markierte Spiegelung durch eine Bezugsperson, z.B. durch die Eltern. Erkennen die Eltern die Emotionen des Kindes und reagieren angemessen auf diese, indem sie die Emotion Wut z.B. überzeichnet und mit beruhigenden Affekten spiegeln, wird dies als markierte Spiegelung bezeichnet (vgl. EBD.,131f.).
Die markierte Affektspiegelung kann durch verschiedene Kommunikationsstrategien, wie zum Beispiel Motorik, Mimik oder Körperkontakt stattfinden. Das Kleinkind erkennt im Gesicht der empathischen Bezugsperson durch diese übertriebene und entfremdete Spiegelung (sekundäre Repräsentanz eines primären Affektzustandes) die eigene Emotion (primäre Repräsentanz) und somit sich selbst von außen (vgl. BROCKMANN/KIRSCH 2015, 16; KÖHLER 2004, 166; DORNES 2004, 186). Hierdurch lernt das Kind, zwischen den eigenen Emotionen und denen der Bezugsperson zu unterscheiden. Dadurch entwickelt sich diese sekundäre mentale Repräsentanz seiner selbst (vgl. KÖHLER 2004, 166). Diese Unterscheidung wird nach der „Theorie des sozialen Feedbacks“ durch elterliche Affektspiegelung (GERGELY/WATSON 1999) nur möglich, wenn die Bezugsperson markiert und nicht direkt identisch die Emotionen des Kleinkindes spiegelt (zit. n. BROCKMANN/KIRSCH 2010, 280). Durch wiederholte gelungene Affektspiegelung als soziales Feedback der kindlichen Emotionen durch die Bezugsperson erlernt das Kleinkind im späteren Entwicklungsverlauf die Fähigkeit zur Selbstregulation, um nicht von den eigenen Emotionen überwältigt zu werden (vgl. OBERLERCHNER 2017, 131; BROCKMANN/KIRSCH 2010, 280). Eine einfühlsame und unterstützende Umwelt des Kindes fördert die Ausprägung des Interesses an inneren Zuständen und somit das Mentalisierungsinteresse (vgl. FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 31). TAUBNER (2015, 37) beschreibt die „Entwicklung des Erlebens und Zugang zum Selbst als zentralen Bestandteil der Entwicklungstheorie der Mentalisierung“.
Als hemmender Einfluss auf die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit gilt die unmarkierte oder fehlende Spiegelung der kindlichen Affekte. Bei unangemessener Markierung ist das Kleinkind nicht in der Lage, die primäre Repräsentanz, das heißt den eigenen Affekt, von der sekundären Repräsentanz, das heißt der Spiegelung durch die Bezugsperson, zu unterscheiden. Dies führt dazu, dass lediglich die Affekte und Emotionen der Bezugsperson im Kleinkind repräsentiert werden, wodurch sich ein fremdes Selbst im Kleinkind entwickelt (vgl. BROCKMANN/KIRSCH 2015, 16). Laut OBERLERCHNER (2017, 131) kann sich das Kleinkind dann selbst nicht als autonomes und „kohärentes Wesen“ wahrnehmen. Markierung und Kongruenz sind Voraussetzungen für eine gelungene Affektspiegelung. Eine kongruente Spiegelung erfolgt inhaltlich adäquat und zeitlich passend zum Affekt des Säuglings oder des Kleinkindes. Die Markierung bezeichnet das Wiedergeben des kindlichen Affekts mit einer eigenen Aktion, zum Beispiel dem Abmildern des Affektes als Trösten (vgl. KÖHLER 2004, 166f.). Erfolgt gar keine Spiegelung des kindlichen Affekts, so erfährt der Säugling oder das Kleinkind auch keine Affektregulierung. Dies kann besonders bei negativen Affekten schwerwiegende Auswirkungen haben. Fehlende oder stark eingeschränkte Affektspiegelung kann als Folge eine schizoide oder psychosomatisch orientierte Selbstwahrnehmung des Kindes mit sich bringen. Als Folge eines Fremden Selbst ist eine narzisstische Persönlichkeit in späteren Lebensabschnitten möglich (vgl. OBERLERCHNER 2018, 131). Beides ist als hemmender Faktor für die Entwicklung einer multidimensionalen Mentalisierungsfähigkeit zu verstehen.
Für eine prompte und adäquate Affektspiegelung ist sowohl mütterliche6 Mentalisierungsfähigkeit (offline), als auch Mind-Mindness (online) notwendig. Als online-Mentalisierung gilt die Fähigkeit der Bezugsperson, in einer Interaktion die Affekte und geistigen Zustände des Säuglings/Kleinkindes verbalisieren zu können, während die Offline-Mentalisierung die Mentalisierungsfähigkeit beschreibt. Diese ist durch verschiedene empirische Verfahren messbar, auf die im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer eingegangen wird. Die Unterscheidung zwischen online und offline Mentalisierung ist notwendig, da die reine Fähigkeit zur Mentalisierung keine Aussage darüber zulässt, ob die Bezugsperson diese in affektiven Bindungssituationen dem Säugling/Kleinkind angemessen verbalisiert (vgl. TAUBNER/FRITSCH/LÜCK/VESTERLING/BÖHMANN/STUMPE 2014, 697ff.). Somit ist die mütterliche Feinfühligkeit nach AINSWORTH nicht alleine ausschlaggebend für die Qualität der Affektspiegelung, sondern auch die Fähigkeit, die markierten Affekte zu verbalisieren und so mit dem Säugling/Kleinkind in Interaktion zu treten. MEINS ET AL. (2001) vertreten sogar die Auffassung, dass die mütterliche Mind-Mindness wesentlich relevanter für eine gelungene Mentalisierungsentwicklung ist als die mütterliche Feinfühligkeit nach AINSWORTH (zit. n. EBD., 701ff.). Die Qualität der Online- und Offline-Mentalisierung der Mütter ist beeinflussbar durch Faktoren wie Bindungsrepräsentation und Mentalisierungsinteresse. Ein höheres Mentalisierungsinteresse erhöht die Online- und Offline-Mentalisierung (vgl. TAUBNER/FRITSCH/LÜCK/VESTERLING/BÖHMANN/STUMPE 2014, 701ff.).
2.2.2 Bindung und Mentalisierung
Im Gegensatz zu klassischen psychoanalytischen Theorien befasst sich Mentalisierung nicht mit Unbewusstem, sondern mit aktuellen Situationen, Prozessen und insbesondere Bindungsbeziehungen zu Bezugspersonen. Die Überlegungen über das Mentalisieren basieren auf den Forschungsergebnissen aus der Bindungstheorie nach BOWLBY und AINSWORTH, da die jeweilige Bindungsrepräsentationen bisher Grundlage für den jeweiligen Verlauf späterer sozialer Beziehungen ist (vgl. FONAGY/BATEMAN/LUYTEN 2015, 24ff.; KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 25). Das Mentalisierungskonzept ist nicht nur als Ergänzung und Weiterführung der ToM-Forschung, sondern auch des Bindungskonzepts zu verstehen. Denn Mentalisierung beinhaltet nicht nur die Entwicklung des Selbst, sondern auch das Einbeziehen von Motiven, Gefühlen und Vorstellungen (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/FONAGY 2016, 25).
Eine hohe Qualität der Bindungsbeziehungen wirkt sich positiv auf die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit aus (vgl. OBERLERCHNER 2017, 130). Besonders relevant für die Mentalisierungsentwicklung sind nach KÖHLER (2004, 160ff.) die Bindungserfahrungen im ersten Lebensjahr im Sinne BOWLBYS, die Bindung selbst und der affektive Austausch mit der Bezugsperson durch (markierte) Affektspiegelung. Die gesamte kindliche Entwicklung, nicht nur die der Mentalisierungsfähigkeit, findet mehrheitlich im Kontext von Beziehungen statt. Nach BOWLBY (1980, zit. n. JULIUS 2014, 3f.) ist der Wunsch nach Nähe zur Bezugsperson durch den Säugling oder das Kleinkind nicht primär durch das Nahrungsbedürfnis zu begründen, sondern vielmehr durch das Bedürfnis der Affektregulierung, insbesondere in stressreichen oder belastenden Situationen. Anhand der Beziehungserfahrungen, geprägt durch die Qualität der Aufmerksamkeit in Form von Affektspiegelung, bilden sich Bindungsmuster in Form von internalen Arbeitsmodellen. Diese können in verschiedene Arbeitsmodelle von Bindung eingeordnet werden: sicher gebunden (B), unsicher-vermeidend gebunden (A), unsicherambivalent gebunden (C) und ein desorganisiertes Bindungsmuster (D), das nicht als organisiert gebunden kategorisiert wird (vgl. JULIUS 2014, 3f.). Mit Hilfe empirischer Zugänge können Bindungsmuster bei Kindern und Bindungsrepräsentationen bei Erwachsenen gemessen werden, so z.B. bei Kindern durch den Fremde-Situation-Test nach AINSWORTH (1985, zit. n. TAUBNER 2015, 30) oder bei Erwachsenen durch das Adult-Attachement-Interview (FONAGY ET AL. 1998, zit. n. TAUBNER 2015, 35), das im weiteren Verlauf durch empirische Zugänge zu Mentalisierung noch beschrieben wird.
Sicher gebundene Kinder erlebten ihre Bezugsperson nach JULIUS (2014, 5) als feinfühlig, zuverlässig und unterstützend durch gelungene markierte Affektspiegelung. Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster erlebten ihre Bezugsperson als nicht unterstützend, denn diese reagierte nicht mit einer adäquaten oder markierten Affektspiegelung bei negativen Effekten des Säuglings oder des Kleinkindes. Kinder mit diesem Bindungsmuster aktivieren ihr Bindungsverlagen in Stress- oder Belastungssituationen nicht.
Unsicher-ambivalent gebundene Kinder lernten durch zum Teil unmarkierte oder nur unregelmäßige Affektspiegelung, dass ihre Bezugsperson nicht immer zuverlässig verfügbar ist, um die eigenen Affekte zu regulieren. Dadurch sind sie auf der ständigen Suche nach Zuwendung. In Stress- oder Belastungssituationen kann das Kind seine Affekte jedoch nicht durch die Nähe zur Bezugsperson regulieren, da es in ständiger Verlustangst lebt und so dauerhaft ein erhöhtes Stresslevel aufweist. Zusätzlich zeigen ambivalent-gebundene Kinder starke negative Affekte gegenüber der Bezugsperson, da sie ständig um ihre Nähe fürchten müssen. Daraus resultiert das ambivalente Verhalten. Die drei organisierten Bindungsmuster sind als Anpassungsstrategien an das Verhalten der Bezugsperson zu verstehen (vgl. JULIUS 2014, 5). Das desorganisierte Bindungsmuster ist das einzige der vier Bindungsmuster, welches nicht als organisiert definiert wird und wurde nachträglich kategorisiert (vgl. MAIN 1997, zit. n. EBD., 3ff.). JULIUS (2014, 5f.) bezeichnet dieses Arbeitsmodell als die Folge eines „Zusammenbruchs organisierter Strategien in bindungsrelevanten Situationen“. Als Ursache für den Zusammenbruch sind Trennung, Vernachlässigung oder auch Missbrauch durch die Bezugsperson zu nennen (vgl. EBD., 6). Ausschlaggebend dafür, welches Bindungsmuster durch den Säugling ab ca. sieben Monaten internalisiert wird, ist die Erfahrungshaltung über die Verfügbarkeit der Bezugsperson. Sichere Bindung kann als Regulierungsmechanismus negativer Affekte durch das Kind verwendet werden, da dieses in der markierten Affektspiegelung die Regulierung durch die Bezugsperson erlernt (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 26f.). Diese und auch die folgende Beschreibung beruhen auf den Erkenntnissen der klassischen Bindungstheorie und werden im weiteren Verlauf der Arbeit kritisch betrachtet und auf ihre Aktualität hin überprüft.
Interne Arbeitsmodelle von Erwachsenen sind ähnlich einzuordnen wie die Bindungsmuster von Kindern und werden als Bindungsrepräsentation bezeichnet. Diese werden definiert als autonom, verstrickt, distanziert und unverarbeitete Bindungstypen und ähneln dem kindlichen Bindungsmustern sicher-gebunden, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend und desorganisiert (vgl. OBERLERCHNER 2017, 130). Unsicherverstrickt gebundene Erwachsene verhalten sich ähnlich wie unsicher-ambivalent gebundene Kinder: bei Stress wird ihr Bindungssystem aktiviert, sie suchen nach der Bezugsperson und zeigen gleichzeitig negative Affekte ihr gegenüber (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 34). Ihr Bindungsverhalten ist hyperaktivierend (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 70).
Erwachsene mit unsicher-vermeidender Bindungsrepräsentation wechseln bei Stress unter Aktivierung ihres Bindungssystems schnell von kontrolliertem zu automatischem Mentalisieren, ihr Bindungsverhalten ist deaktivierend (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 70). Sie wechseln dann innerhalb der Mentalisierungsdimension kognitiv vs. affektiv zum reinen kognitiven Mentalisieren. Sie deaktivieren ihr Bindungssystem bei steigendem emotionalen Arousal (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 34f.). „Je unsicherer die grundlegende Bindung, desto schwieriger wird die Verarbeitung stressvoller Erfahrungen“ (EBD., 35) und desto schneller findet ein Umschalten von kontrolliertem zu automatischem Mentalisieren statt. Wie schnell die Kontrolle über das Mentalisieren in Stress- und Belastungssituationen zurückgewonnen wird, bedingt sich durch die Bindungsrepräsentation des Individuums. Eine sicher gebundene Person zeigt einen hohen Grenzbereich für die Umschaltung und kann schnell wieder auf kontrolliertes Mentalisieren zurückgreifen. Stattdessen kann eine Person mit einer unsicher-verstrickten Bindungsrepräsentation schnell in Situationen mit einem hohen emotionalen Arousal von kontrolliertem in automatisches Mentalisieren wechseln und nur langsam wieder die Kontrolle darüber gewinnen. Kinder mit einem desorganisierten Bindungsverhalten werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Erwachsenen, deren deaktivierende und hypermentalisierende Bindungsstrategien immer wieder wechseln (vgl. LUYTEN ET AL. 2015, 79).
Innerhalb der letzten Jahre verschärfte sich nicht nur die Kritik an der monokulturellen Grundlage der Bindungstheorie (vgl. KELLER 2019, 48ff.), sondern auch an ihrer reduktionistischen und mechanistischen Klassifizierung (vgl. FONAGY ET AL. 2017, 3). FONAGY ET AL. (2017, 3) kommen zu dem Schluss, dass kulturelle Differenzen und sich ändernde Umweltwelteinflüsse bei der Betrachtung von Bindung berücksichtigt werden müssen und fordern eine Erneuerung der Klassifikation. Sie schlagen stattdessen vor, die Bedeutung des epistemischen Vertrauens, welches als Brückenelement zwischen Bindungstheorie und Psychoanalyse funktioniert, hierbei stärker zu berücksichtigen. Statt der Einteilung in vier feste Bindungsmuster beanspruchen sie daher die Untersuchung des epistemischen Vertrauens. Dieses beinhaltet das Vertrauen, welches ein Individuum in die Aussagen einer anderen Person darlegt. Epistemisches Vertrauen wird benötigt für und entwickelt sich in Bindungsbeziehungen. Je höher dieses Vertrauen ist, desto fördernder wirkt sich dieses auf die Mentalisierungsfähigkeit und auch das Interesse aus. Durch das Mentalisieren ist eine Einschätzung und Interpretation der Aussagen der anderen Person möglich, wofür ebenfalls das epistemische Vertrauen benötigt wird (vgl. EBD. 2017, 5f.).
Das Konzept des epistemischen Vertrauens berücksichtigt, orientiert an WEISNER (2014, 266ff.), die Komplexität und Subjektivität der Bindungsbeziehung eines Individuums. Statt einzuteilen, wie sicher, unsicher, ambivalent oder vermeidend ein Kind gebunden ist, wird untersucht, ob ein Kind grundlegend unterscheidet, wem es trauen kann, wem nicht, und zu wem es eine soziale Beziehung aufbauen kann.
2.2.3 Nichtmentalisierende und prämentalisierende Modi
In diesem Abschnitt wird auf die verschiedenen Wahrnehmungsmodi eingegangen, die der Mentalisierungsfähigkeit entwicklungspsychologisch vorangehen. Innerhalb dieser Modi ist das Kind, beziehungsweise der Erwachsene, (noch) nicht fähig zu mentalisieren. Insgesamt sind drei Modi zu nennen, da zwei aufgrund von Überschneidungen in einem Modus zusammengefasst werden. Diese sind der teleologische Modus, der Äquivalenzmodus, der Als-ob-Modus und der reflektierende Modus (vgl. TAUBNER/SEVECKE 2015, 177). Der Modus der psychischen Äquivalenz und der Als-ob- Modus verlaufen wechselhaft zeitlich parallel und werden zusammenfassend als Modi des psychischen Funktionierens bezeichnet (vgl. TAUBNER 2015, 48). Die prämentalisierenden Modi sind in der Praxis nicht immer eindeutig voneinander zu trennen, sie haben eine stufenweise Verschmelzung und bedingen sich zusätzlich gegenseitig (vgl. KIRSCH/BROCKMANN/TAUBNER 2016, 82). Über die Altersangaben der Modiwechsel lassen sich unterschiedliche Angaben finden, weshalb die folgenden eher als Orientierung und nicht als starre Grenze für eine normale Entwicklung gelten.
Die drei Modi basieren auf verschiedenen physischen und sozialen Entwicklungsstufen. Bereits ab der Geburt bis zum neunten Monat nimmt der Säugling „präverbales Erleben von Urheberschaft“ wahr, indem z.B. Erfahrungen durch motorische Selbstwirksamkeit stattfinden (TAUBNER 2015, 39). In dieser Stufe entwickelt sich ein „physisches Selbst“ bzw. ein „sozialer Akteur“ (EBD., 39f.). Die Weiterentwicklung dieses Selbst vollzieht sich ein Leben lang und findet immer in Abhängigkeit von unterstützenden Erfahrungen statt (vgl. DLUGOSCH 2010, 325). Die Affektregulierung ist stark von der Bezugsperson abhängig. Ein Säugling befindet sich bis ca. zum neunten Monat noch nicht im teleologischen Modus, sondern lediglich in einer Vorstufe dessen (vgl. TAUBNER 2015, 38f).
Teleologischer Modus
Der erste Wahrnehmungsmodus, der teleologische Modus, beginnt in der kindlichen Entwicklung7 mit ca. neun Monaten bis zum zweiten Lebensjahr. Der Säugling kann hier bereits einfache präsymbolische Handlungen von sich selbst oder anderen zielorientiert wahrnehmen, erkennt allerdings keine intentionale mentale Grundlage dafür (vgl. TAUBNER/SEVECKE 2015, 177; TAUBNER 2015, 43f.). Es besteht noch keine Fähigkeit zur Attribution, weshalb nur die konkrete Folge von Handlungen für das Kleinkind relevant sind (vgl. OBERLERCHNER 2017, 131). Ab ca. neun bis zehn Monaten zeigt der Säugling die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit, welche anhand eines Beispiels erläutert wird. Zeigt eine Bezugsperson mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt, fokussiert der Säugling nicht mehr den Finger der Bezugsperson, sondern blickt in die Richtung des zeigenden Fingers. Zusätzlich schweift der Blick zurück zur Bezugsperson, um zu überprüfen, ob dies der gezeigte Punkt der Bezugsperson ist. Dieser Punkt wird als erster Schritt einer „Dezentrierung vom egozentrischen Blickpunkt auf die Einnahme der Perspektive des anderen“ definiert (KÖHLER 2004, 168), somit als ein erster Schritt zur Entwicklung der Theory of Mind (vgl. BROCKMANN/KIRSCH 2015, 15ff.). Eine vollständige ToM ist mit ca. 4,5 Jahren entwickelt. Diese Angaben variieren jedoch von Kind zu Kind und sind lediglich Richtwerte (vgl. KÖHLER 2004, 161). Der Säugling bzw. das Kleinkind nimmt die Urheberschaft des eigenen Handelns in sich selbst wahr. Innerhalb des teleologischen Modus ist die markierte Affektspiegelung durch die Bezugsperson das wichtigste Instrument zur Entwicklung des Selbst, sodass das Kleinkind sich selbst als intentional handelnd erleben kann (vgl. BROCKMANN/KIRSCH 2015, 15).
[...]
1 Dies ist unter anderem mit der Anzahl an geflüchteten Afghan*innen zu begründen. Es existieren keine zuverlässigen Statistiken darüber, wie viele Afghan*innen ohne deutschen Pass, Deutsche mit afghanischem Migrationshintergrund und afghanische Geflüchtete insgesamt aktuell in Deutschland leben.
2 Attributional Complexity Scale wird im weiteren Verlauf als ACS gekürzt dargestellt.
3 Diese wurde für die vorliegende Forschung in Zusammenarbeit mit einem Dolmetscher erstellt.
4 Im Folgenden als ToM bezeichnet
5 Im Folgenden als BPS bezeichnet
6 Im Folgenden wird der Begriff „Mütterliche Mentalisierungsfähigkeit“ verwendet, da dieser in den Studien untersucht und verwendet wurde. Innerhalb dieser Arbeit werden als Bindungsperson sowohl Mutter, als auch Vater oder andere wichtige Bindungspersonen bezeichnet, die innerhalb der Literatur auch als „Selbstobjekt“, „Bindungsperson“ oder Ähnliches betitelt werden.
7 Falls nicht näher erläutert, meint „Entwicklung“ in der vorliegenden Arbeit immer einen normalen Entwicklungsverlauf eines Kindes.
- Quote paper
- Klara Ventz (Author), 2019, Das Mentalisierungsinteresse von in Deutschland lebenden Afghanen und Deutschen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/535516
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