Büchners Werk Lenz, welches in dem Zeitraum „Sommer 1835 und Frühjahr 1836“1 in Straßburg entstand und die einzige Erzählung im Repertoire des Autors darstellt2, basiert zum größten Teil auf den Aufschriften des Pfarrers Friedrich Oberlin, in dessen elsässisches Heimatdorf der Sturm und Drang – Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz im Jahre 1778 gelangte und wo es zum Ausbruch seiner geistigen Krankheit kam.3 „Der Pfarrer Oberlin [...] hat die Schreie, Ausrufe, Erschütterungen, Selbstmordversuche eines vom Wahnsinn Bedrohten aufgezeichnet“4. Büchners Werk wird auch als „erste klinisch exakte Fallbeschreibung der Schizophrenie“5 betrachtet. Diese Arbeit soll die Leidensgeschichte Lenzens, seine innere Zerrissenheit aufzeigen, wobei auch untersucht werden soll, inwieweit sich dies in der sprachlichen Gestaltung von Büchners Erzählung niederschlägt.
Inhaltsverzeichnis:
1. Vorwort
2. Stationen des Leidens
2.1. Der Wanderer
2.2. Lenz und Oberlin
2.3. Die Predigt
2.4. Das Kunstgespräch
2.5. Das kranke Mädchen
2.6. Die gescheiterte Wiederauferweckung
2.7. Der „Riss“
3. Die Sprache/Erzählsituation
3.1. Syntax
3.2. Wortfelder
3.3. Erzählperspektive
4. Nachwort
5. Bibliographie
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur
1. Vorwort:
Büchners Werk Lenz, welches in dem Zeitraum „Sommer 1835 und Frühjahr 1836“[1] in Straßburg entstand und die einzige Erzählung im Repertoire des Autors darstellt[2], basiert zum größten Teil auf den Aufschrieben des Pfarrers Friedrich Oberlin, in dessen elsässisches Heimatdorf der Sturm und Drang – Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz im Jahre 1778 gelangte und wo es zum Ausbruch seiner geistigen Krankheit kam.[3] „Der Pfarrer Oberlin [...] hat die Schreie, Ausrufe, Erschütterungen, Selbstmordversuche eines vom Wahnsinn Bedrohten aufgezeichnet“[4]. Büchners Werk wird auch als „erste klinisch exakte Fallbeschreibung der Schizophrenie“[5] betrachtet. Diese Arbeit soll die Leidensgeschichte Lenzens, seine innere Zerrissenheit aufzeigen, wobei auch untersucht werden soll, inwieweit sich dies in der sprachlichen Gestaltung von Büchners Erzählung niederschlägt.
2. Stationen des Leidensweges:
2.1. Der Wanderer:
„Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“[6] (S.225) Das Bedürfnis Lenz`, auf dem Kopf gehen zu wollen und damit die Umwelt aus einer verkehrten Perspektive zu betrachten, zeigt dem Leser, schon von Anfang an, eine Orientierungslosigkeit beim Protagonisten Lenz. Über das „Motiv des Kopfgangs“[7] ist bereits vielfach diskutiert worden. Die Interpretationen reichen von Lenzens Verlangen, „die in seinen Augen mißratene Welt nach den eigenen Ideen umzugestalten“[8] bis zu der Theorie, dass ein Kopfstand durch die „verminderte Augenhöhe und der damit notwendigen Bodenperspektive“[9] die Umwelt gewaltig schrumpfen ließe, was durch den Glauben des Wanderers, „er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können“(S.225), unterstrichen wird. Auch ein realistisches zeitliches Vorstellungsvermögen scheint nicht vorhanden, ist es Lenz doch nicht nachvollziehbar, „dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen“(S.225). Auch die Naturbeschreibungen zu Beginn der Erzählung vermitteln ein verzerrtes, unrealistisches Bild, welches Lenz bei seinem Marsch in das Dorf Waldbach wahrnimmt. So erscheint die Natur zunächst wie eine trostlose, lebensfeindliche Landschaft:
„Es war naßkalt,[...]. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.“(S.225)
Wenig später im Text lässt sich das Gegenteil aufzeigen – prachtvolle Naturschilderungen lassen ein romantisches Panorama erahnen, das sich vor Lenz erstreckt. Die Wolken werden als „wiehernde Rosse“(S.225), die Sonnenstrahlen wie ein „blitzendes Schwert“(S.225) beschrieben, der Wind erklingt „wie ein Wiegenlied und Glockengeläute“(S.225). Angetan von diesem Schauspiel natürlicher Kräfte, fühlt sich Lenz zur Natur hingezogen. War er anfangs eher unbefriedigt von der unwirtlichen winterlichen Umgebung, „es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts“(S.225), so möchte sich Lenz nun den Sturm einverleiben und eins mit der Natur werden: „[E]r meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen“(S.226). Gepackt von Begierde, versucht Lenz „einen Zugang zur Landschaft und Umwelt zu gewinnen“[10] und „wühlte sich in das All hinein“(S.226).
Die Charakterisierung der Umwelt erfährt an dieser Stelle einen deutlichen Wandel. Die Natur erscheint anfangs bedrohlich und aufdringlich. „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß“(S.225) und dem Leser wird beinahe schon der Eindruck vermittelt, dass sich selbige dem Protagonisten in den Weg stellen möchte: „[D]as Wasser [...] sprang über den Weg.“(S.225) Nun jedoch wenden sich die natürlichen Elemente von Lenz ab: „[D]ie Erde wich unter ihm, sie wurde klein“(S.226). Auch Lenz` Reaktionen auf das ihm Dargebotene erfahren an dieser Stelle einen Umbruch. Zu Beginn des Textes zeigt sich Lenz uninteressiert und nur wenig motiviert am Schauspiel der Natur teilhaben zu wollen – „Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht´s am Weg“(S.225) – was sich dann, wie schon beschrieben, schlagartig ändert. Aber auch dieser Zustand hält nicht sehr lange an. Lenz erhebt sich vom Erdboden, als wäre nichts geschehen, „ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen“(S.226). Lenz´ Fähigkeit einer realistischen Wahrnehmung seines Umfelds wird weiter reduziert, als er einen Verlust des Erinnerungsvermögens feststellt: „[E]r wußte von nichts mehr“(S.226). Doch seine Situation wird sich noch weiter verschlimmern, ein Hineinsteigern in wahnhafte Zustände ist nicht mehr von der Hand zu weisen, sie werden zum erstenmal sogar beim Namen genannt: „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“(S.226). Vorausgegangen ist eine panische Angst, „es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts“(S.226), die wiederum ausgelöst wird durch die Erkenntnis Lenz´ allein auf weiter Flur zu stehen. Die hereinbrechende Dunkelheit und die Stille tragen zu dem Grauen bei, welchem der Protagonist ausgesetzt ist. „[A]lles so still, grau, dämmernd; es wurde ihm entsetzlich einsam“(S.226). Irre vor Angst eilt er dem Dorf Waldbach entgegen. „Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter“(S.226), die Rettung in Form von Zivilisation scheint gekommen. Deutlich an dieser Stelle wird der Gegensatz von Finsternis und Licht, bzw. die jeweiligen Auswirkungen auf den Protagonisten. Für Lenz stellt das Dorf und dessen Bewohner zunächst einen Ruhepol dar. Im krassen Gegenteil zu Lenz´ abgehetztem Zustand – „die blonden Locken hingen ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen“(S.227) – stehen „ruhige, stille Gesichter, es war ihm als müsse Licht von ihnen ausstrahlen“(S.226), wobei die Mut und Hoffnung gebende Kraft des Lichtes nochmals betont wird. Die Gegenüberstellung von Licht, welches auf Lenz eine beruhigende Wirkung erzielt und Finsternis, die bei ihm regelmäßig Furcht und Angstgefühle auslöst, kommt während der gesamten Erzählung zur Geltung.[11] Allmählich regeneriert sich Lenz, „er wurde ruhig“(S.227) Das Erinnerungsvermögen scheint ebenfalls wieder hergestellt zu sein: „[E]s war ihm als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf“(S.227). Doch wie schon auch im Gebirge, schlägt Lenzens seelischer Zustand vehement um, als er sich alleine in seiner Unterkunft befindet. Wie auch im Gebirgsszenario ist es im Pfarrhaus still, leer, kalt und finster, eine Umgebung, die für den blitzartigen Wechsel von Lenz´ Emotionen verantwortlich ist. „[E]s war kalt oben, [...], leer, [...], das Licht war erloschen, die Finsternis verschlang Alles; eine unnennbare Angst erfaßte ihn“(S.227). Eine stille und ruhige Naturidylle führt bei Lenz nicht etwa, wie man erwarten würde, zu einer inneren Ausgeglichenheit oder einem inneren Frieden, sondern wirkt als Unruheherd, der bei Lenz Gefühle wie Angst, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, später dann auch Langeweile auslöst.[12] Die panische Angst Lenzens nimmt durch einen versuchten Selbstmord ein jähes Ende. Vom Wahn getrieben fügt sich Lenz selbst Schmerzen zu, was beinahe schon an eine Selbstgeißelung denken lässt: „[E]r stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben“(S.228). Rasend stürzt er sich in den Brunnen, wo ihn das kalte Wasser wieder zu Vernunft bringt. Dem Leser wird an dieser Stelle glaubhaft gemacht, dass es innere Triebe sind – „ein dunkler Instinkt trieb ihn“(S.228), die ihn beinahe zum Suizid gebracht hätten und denen sich Lenz nicht bewusst ist.[13]
2.2. Lenz und Oberlin:
Tags darauf unternimmt Lenz mit Oberlin einen Ausflug in die Umgebung des Dorfes. Auffallend ist an dieser Stelle die überdeutliche Betonung der ruhigen Atmosphäre, die die beiden Reiter umgibt. Es sind vor allem die Beschreibungen der Natur, wie z.B. „kein Lärm, keine Bewegung, kein Vogel, nichts als das [...] Wehn des Windes“(S.228), die ausschlaggebend für dieses Bild sind. Aber auch die Dorfbewohner zeigen sich in ihrem Verhalten extrem geruhsam und sind „schweigend und ernst, als wagten sie die Ruhe ihres Tales nicht zu stören“(S.228). Lenz, der sich schon zu Beginn des Ausrittes vom vorherigen Abend erholt zu haben scheint, ergötzt sich an dieser herrlichen Gebirgskulisse und genießt die Stille in vollen Zügen: „Es wirkte alles wohltätig und beruhigend auf ihn“(S.229). Das positive Bild der Natur wird außerdem durch die intensive Beschreibung des Sonnenlichts verstärkt: „Gewaltige Lichtmassen, die manchmal aus den Tälern, wie ein goldener Strom schwollen“(S.228). Diese Idylle währt aber nicht lange; als die Nacht hereinbricht, wird einmal mehr die tragende Funktion des Gegensatzes „Licht“ – „Finsternis“ ins Spiel gebracht: „Aber nur so lange das Licht im Tale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiehl ihn eine sonderbare Angst“(S.229). Die aufkommende Dunkelheit verhindert den Blickkontakt des Protagonisten mit Oberlin, der ihm wie ein Ruhepol erscheint: „[E]r mußte Oberlin oft in die Augen sehen, [...] diesem ruhigen Auge“(S.229). Auch auf die Bewohner des Tales hat der Pfarrer diese beruhigende, vertauensvolle Wirkung: „[M]an drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rat, tröstete; überall zutrauensvolle Blicke“(S.228) und es scheint, als ob das warme und zuneigungsvolle Wesen Oberlins zumindest kurzfristig auf Lenz übergreift.[14]
Wieder einmal befällt Lenz grenzenlose Angst, allerdings in bisher unbekanntem Ausmaße, so dass eine deutliche Steigerung seiner Verhaltensweise ins Krankhafte festzustellen ist. Zunächst, wie auch schon vor seiner Ankunft im Dorf, taucht das Motiv des Schattens auf, was symbolisch für einen Realitätsverlust steht, da die Umwelt in der Dunkelheit verschwindet und die Konturen unrealistisch erscheinen, als „die Gegenstände nach und nach schattiger [werden]“(S.229).[15] Um wieder Herr der Lage zu werden, konzentriert sich Lenz auf alltägliche Dinge, die ihm helfen sollen den Bezug zur Realität zu wahren:
„Er sprach, er sang, er rezitierte Stellen aus Shakespeare, er griff nach Allem, was sein Blut sonst hatte rascher fließen machen, er versuchte Alles, aber kalt, kalt.“(S.229)
Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht er seinen Wahnanfällen entgegenzutreten, um letztendlich ohne den gewünschten Erfolg in den Brunnen zu springen. Lenz möchte seine psychischen Probleme ignorieren und schiebt die Ursache des Übels daher auf das Physische: „auch hatte er eine geheime Hoffnung auf eine Krankheit“(S.229). Nach der Theorie von Miladinovic könnte man das Baden im kalten Wasser als körperliche Abhärtung im Kampf gegen eine Krankheit werten.[16] Für Pilger stellt der Sprung in den Brunnen den verzweifelten Versuch des Protagonisten dar, „durch konkrete Erfahrung der realen Außenwelt“[17], das mag in diesem Fall die Berührung des eiskalten Wassers bedeuten, die unrealistischen Einbildungen zu verdrängen.[18]
[...]
[1] Hasselbach, Karlheinz: Georg Büchner. Stuttgart 1997. (Literaturwissen für Schule und Studium) S.66.
[2] Ebda., S.66.
[3] Ebda., S.66ff.
[4] Mayer, Hans: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1972. (suhrkamp Taschenbuch 58) S.272.
[5] Hasselbach: Georg Büchner. (Literaturwissen) S.69.
[6] Dieses, wie auch die folgenden Zitate der Primärliteratur sind entnommen aus:.
Büchner, Georg: Lenz. In: Georg Büchner sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Bd.1: Georg Büchner Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 1992. (Bibliothek deutscher Klassiker 84) S.225-250.
[7] Pilger, Andreas: Die „idealistische Periode“ in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz. In: Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990-94) S. 104-125. Hier: S.111.
[8] Ebda., S.111.
[9] Erb, Andreas: Georg Büchner. Lenz eine Erzählung. München 1997. (Oldenbourg Interpretationen 87) S.55.
[10] Fischer, Heinz: Georg Büchner. Untersuchungen und Marginalien. Bonn 1972. (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 14) S.37.
[11] Fischer: Untersuchungen und Marginalien. S.22.
[12] Kubitschek, Peter: Die tödliche Stille der verkehrten Welt – Zu Georg Büchners >>Lenz<<. In: Studien zu Georg Büchner. Hrsg. von Hans-Georg Werner. Berlin/Weimar 1988. S.86-104. Hier: S.92.
[13] Miladinovic, Mira: Georg Büchners „Lenz“ und Johann Friedrich Oberlins „Aufzeichnungen“. Frankfurt a. M. 1986. (Europäische Hochschulschriften Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur 879) S.39.
[14] Ebda., S. 41.
[15] Pilger: Die „idealistische Periode“. S.121.
[16] Miladinovic: G. B. „Lenz“ und J. F. Oberlins „Aufzeichnungen“. S.42.
[17] Pilger: Die „idealistische Periode“. S.122.
[18] Ebda., S.122.
- Citar trabajo
- Philipp Gaier (Autor), 2003, Zu: Georg Büchners "Lenz". , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53388
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