Diese Seminararbeit beschäftigt sich mit der kurzen Erzählung „Erstes Leid“, die im Zuge des Schreibprozesses des „Schloss“-Romans entstanden ist und beispielhaft für die Editions- und Interpretationsprobleme sein soll. Trotz aller Schwierigkeiten möchte ich ganz bewusst eine mögliche Lesart bereitstellen, die sowohl editionstheoretische als auch inhaltliche Herangehensweisen verbindet. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, inwiefern die Selbstreflexion eines Künstlers den Schaffensprozess negativ beeinflusst bzw. andererseits auch die Quelle neuer Inspirationen sein kann. Sowohl periphere Fragen ästhetischer Art sollen Berücksichtigung finden, als auch Überlegungen hermeneutischer Sachverhalte, die das Problem eines Editors aufzeigen, welcher den Versuch unternimmt, eine wahrheitstreue Genese im Druck zu verdeutlichen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Editorische Schwierigkeiten
2.2 Problem der Drucke zu Lebzeiten
2.3 Dialektik des leeren Blattes
2.4 Selbstreflexion als Selbstzerstörung
2.5 Über das Marionettentheater
3 Schluss
Literatur
1 Einleitung
„Die Furcht zu irren, das wäre: der Irrtum selbst.“[1]
Franz Kafkas Werk fasziniert. Nicht nur seine spezifische Handschrift scheint unverkennbar zu sein, auch sein Schreibstil wird oftmals als unverwechselbar tituliert und ist einer der Gründe, weshalb Kafka als einer der begnadetsten und wichtigsten Romanciers des 20. Jahrhunderts verstanden wird.
Dieses Verdikt übersieht allerdings die Polyvalenz seines „Stils“, der sich erst durch eine Vielzahl anderer Schichten herauskristallisiert. Aus welchen Bestandteilen dieser Stil seine Konsistenz erfährt, kann nur deutlich werden, indem man jene Schichten eruiert, die sich unter dem gedruckten Ergebnis verbergen.
Das vorangestellte Zitat entstammt aus der Zeitschrift TEXT und wurde von Roland Reuß verfasst, der als Wegbereiter einer „Franz Kafka Edition“[2] gilt, die sich durch eine neue Editionsmethode aufdeckender Polyvalenzen auszeichnet.
Diese Seminararbeit beschäftigt sich mit der kurzen Erzählung „Erstes Leid“, die im Zuge des Schreibprozesses des „Schloss“-Romans entstanden ist und beispielhaft für die Editions- und Interpretationsprobleme sein soll. Trotz aller Schwierigkeiten möchte ich ganz bewusst eine mögliche Lesart bereitstellen, die sowohl editionstheoretische als auch inhaltliche Herangehensweisen verbindet. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, inwiefern die Selbstreflexion eines Künstlers den Schaffensprozess negativ beeinflusst bzw. andererseits auch die Quelle neuer Inspirationen sein kann. Sowohl periphere Fragen ästhetischer Art sollen Berücksichtigung finden, als auch Überlegungen hermeneutischer Sachverhalte, die das Problem eines Editors aufzeigen, welcher den Versuch unternimmt, eine wahrheitstreue Genese im Druck zu verdeutlichen.
2. Hauptteil
2.1 Editorische Schwierigkeiten
Die Erzählung „Erstes Leid“ wurde auf einem Blatt verfasst, welches - wie die letzten vier Blätter des vierten Kapitels des „Schloss“-Romans - aus dem zwölften Tagebuch stammt. Die Editoren der „Kritischen Kafka Ausgabe“ (KKA)[3] gehen aufgrund von Tagebuchaufzeichnungen davon aus, dass der Zeitraum der Fertigstellung um den 10. März 1922 datiert werden muss. Diese These untermauern die Herausgeber mit dem Hinweis, dass sowohl die Schriftart Kafkas mit vorigen Texten übereinstimmt, als auch diverse Tagebucheinträge verdeutlichen, dass ein Stocken in der Romanfortführung den Autor Kafka zur Niederschrift jener Geschichte verleiteten, um schlussendlich eine Möglichkeit zu finden, die eigene Krisensituation zu thematisieren.[4]
Hier ergibt sich schon das erste wesentliche Problem, nämlich der zu benennende Entstehungszeitraum des Textes. Sehr wohl kann man die These aufstellen, dass Probleme bei der Fortsetzung des Romans Auslöser für die Niederschrift waren. Dies spiegelt sich inhaltlich in der Erzählung wider. Allerdings scheint die Wahl eines Datums doch eher Spekulation zu sein, welches Gefahr läuft, als Faktum angenommen zu werden. Im Apparatband der KKA wird außerdem hinzugefügt, dass Kafka später eine Reinschrift anfertigte. Kafka sah sich wahrscheinlich aufgrund der gedrängten Schrift am Schluss des Textes und einer Vielzahl von Korrekturen, die eine Übersichtlichkeit erschwerten, dazu veranlasst.[5] Die Herausgeber benennen die erste Handschrift mit dem Kennzeichen „H1“ und die Reinschrift mit dem Zeichen „h2“. Roland Reuß weist in seinem Aufsatz „Franz Kafkas ‚Erstes Leid’. Notizen zu einem Problem der Textkritik“ lediglich auf die Handschrift H1 hin, eine weitere Reinschrift wird nicht erwähnt. Des Weiteren spricht Reuß von zwei anderen Textzeugen: einmal vom Erstdruck (in der von Carl Georg Heise und Hans Mardersteig herausgegebenen Zeitschrift „Genius“ (1922)) D1 und dem einleitenden Druck des „Hungerkünstler“-Bandes von 1924 D2.[6]
Interessanterweise ergibt sich im Vergleich mit den beiden Drucken und der Handschrift H1 eine Problematik, die auch interpretatorisch zu Unstimmigkeiten führt. In D1 und D2 heißt es: „Allen seinen, übrigens sehr geringen Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener entsprochen, welche unten wachten und alles, was oben benötigt wurde, in eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabgezogen.“ Der Leser stößt auf eine Verständnisschwierigkeit, die mit dem Wort „hinabgezogen“ ihren Ursprung findet. Scheinbar ist das Partizipialsuffix „ge“ fälschlicherweise dazwischen gekommen. Der Editor sieht sich nun in einer Neuauflage dazu veranlasst, diese Unstimmigkeit zu kaschieren und das Suffix wegzulassen, was Max Brod übrigens später auch so getan hat.
Soweit ist Klarheit gegeben, besonders wenn man auf jene Korrekturen hinweist. Allerdings ist in diesem Fall die Sachlage schwieriger, denn in der Handschrift H1 Kafkas heißt es tatsächlich „hinabzogen“ (also ohne das „ge“). Außerdem ist ein „oder“ vorangestellt anstatt eines im Erstdruck gezeichneten „und“. (H1: „[…] Gefäß hinauf oder hinabzogen“.)
Das Problem der „Drucke zu Lebzeiten“, wohin diese Erzählung gehört, ergibt sich aus der Prämisse, dass sich der Autor in den Druckablauf mit eingebracht hat. Kafka soll vor dem Druck des „Hungerkünstler“-Bandes seine Erzählung „Erstes Leid“ Korrektur gelesen haben.[7] So kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein anderer Text, anstatt H1, als Druckvorlage diente. Da Kafka darüber hinaus als sehr penibler Korrekturleser galt, kann angenommen werden, dass dieser – scheinbar versehentlich gemachte – Fehler als solcher gar nicht gelten darf. In diesem Falle kann rein gar nichts ausgeschlossen werden, da die Kette der Genese lang und kompliziert ist. Folglich bleibt einem wahrheitstreuen Editor nichts anderes übrig, als alle Varianten kenntlich zu machen und auf jene Umstände hinzuweisen, da diese auch bei der Interpretation des Textes behilflich sein können.
[...]
[1] Roland Reuß. Franz Kafkas „Erstes Leid“. Notizen zu einem Problem der Textkritik. In: Text. Kritische Beiträge. Heft 1. Frankfurt am Main 1995, S. 14.
[2] Erschienen im Stroemfeld Verlag.
[3] Franz Kafka. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. New York / Frankfurt am Main 1982.
[4] Diese Informationen befinden sich im Apparatband zu: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband. (Hrsg.) Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, Gerhard Neumann. Frankfurt am Main 1996, S. 408.
[5] Ebd.
[6] Roland Reuß. Franz Kafkas „Erstes Leid“. Notizen zu einem Problem der Textkritik. In: Text. Kritische Beiträge. Heft 1. Frankfurt am Main 1995, S. 11.
[7] Roland Reuß. Franz Kafkas „Erstes Leid“. Notizen zu einem Problem der Textkritik. In: Text. Kritische Beiträge. Heft 1. Frankfurt am Main 1995, S. 16.
- Citation du texte
- Tomasz Kurianowicz (Auteur), 2005, Zu Franz Kafkas "Erstes Leid" - Selbstreflexion, Inspiration, Selbstzerstörung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53228
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