Medien- und Kulturwissenschaftler wie Marshall McLuhan, Theodor W. Adorno oder Michael Giesecke haben unlängst festgestellt, dass Medien wie Film, Fernsehen oder Literatur einem stetigen Wandel unterworfen sind, der mit einem kulturellen und gesellschaftlichen Umdenken in engem Zusammenhang steht. Auch das Theater als mediale Ausdrucksform hat sowohl seine Gestalt als auch seinen Inhalt seit der Antike wesentlich verändert. In dieser Arbeit soll es darum gehen, den Prozess der Veränderung anhand eines ausgesuchten Theaterstücks aufzuzeigen und im Detail zu durchleuchten.
Im Zentrum der Untersuchung steht Henrik Ibsens dramatisches Meisterwerk „Ein Puppenheim“ aus dem 19. Jahrhundert. Dieses kritisch-realistische Werk wurde rund 120 Jahre später von dem jungen Intendanten der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, auf zeitgenössische Weise umgesetzt und mit postdramatischen Elementen versehen – ohne dabei jedoch den dramatischen Kern des Theaterstücks außer Acht zu lassen. Mein Anliegen ist es nun, den Originaltext sowie die Bühnengestaltung von Ibsen mit der postmodernen Inszenierung von Thomas Ostermeier zu vergleichen. Dazu werde ich zunächst eine entstehungsgeschichtliche sowie eine dramentheoretisch Grundlage für die Analyse von Ibsens „Ein Puppenheim“ schaffen, um ausgehend davon die Ostermeier-Inszenierung von „Nora“ analytisch zu durchleuchten. Ich möchte aufzeigen, mit welchen Mitteln aus dem postdramatischen Theater es Ostermeier gelingt, trotz enger Bezugnahme zu Henrik Ibsens Dramentext eine glaubwürdige und international von Erfolg gekrönte zeitgenössische Theaterinszenierung zu gestalten. Dabei werde ich mich im Detail an der postdramatischen Dramentheorie von Hans-Thies Lehmann orientieren, um Text und Sprache der Schauspieler, ihre Gesten und Bewegungen, das Bühnenbild sowie die räumliche Beziehung von Theater- und Zuschauerraum, die zeitliche Dimension von Fiktion und Realität des Theatergeschehens sowie die Medienrelevanz von Ostermeiers „Nora“ untersuchen zu können. Eine persönliche Stellungnahme zu Ostermeiers „Nora“-Inszenierung in Hinblick auf die Theatersituation des 21. Jahrhunderts soll die Analyse des Stücks schließlich abrunden.
INHALT
1. Themenübersicht: Ziele und Absichten dieser Arbeit
2. Das Drama um „Nora“
2.1 Henrik Ibsen: Zu seiner Person
2.2 „Ein Puppenheim“ – Entstehungsgeschichte
2.3 Dramentheoretische Grundlage: Aristoteles „Poetik“
3. „Nora“ oder „ein Puppenheim“? Ibsens Drama im 21. Jahrhundert
3.1 Ausgangspunkt: Die Dramenhandlung nach Henrik Ibsen
3.2 Thomas Ostermeier und seine „Nora“
3.2.1 Inszenierung der Schaubühne Berlin – Hintergrundinformation
3.2.2 Postdramatische Elemente: eine Detailanalyse
3.2.2.1 Der sprechende Körper
3.2.2.2 Der bewegte Körper
3.2.2.3 Das „Bühnenbild“: Die Inszenierung im Raum
3.2.2.4 Zeit, Fiktion und Realität im Theatergeschehen
3.2.2.5 Neue Medien – Musik – Fotografie
4. Fazit: Persönliche Stellungnahme
5. Quellen
1. Themenübersicht: Ziele und Absichten dieser Arbeit
Medien- und Kulturwissenschaftler wie Marshall McLuhan, Theodor W. Adorno oder Michael Giesecke haben unlängst festgestellt, dass Medien wie Film, Fernsehen oder Literatur einem stetigen Wandel unterworfen sind, der mit einem kulturellen und gesellschaftlichen Umdenken in engem Zusammenhang steht. Auch das Theater als mediale Ausdrucksform hat sowohl seine Gestalt als auch seinen Inhalt seit der Antike wesentlich verändert. In dieser Arbeit soll es darum gehen, den Prozess der Veränderung anhand eines ausgesuchten Theaterstücks aufzuzeigen und im Detail zu durchleuchten.
Im Zentrum der Untersuchung steht Henrik Ibsens dramatisches Meisterwerk „Ein Puppenheim“ aus dem 19. Jahrhundert.[1] Dieses kritisch-realistische Werk wurde rund 120 Jahre später von dem jungen Intendanten der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, auf zeitgenössische Weise umgesetzt und mit postdramatischen Elementen versehen – ohne dabei jedoch den dramatischen Kern des Theaterstücks außer Acht zu lassen. Mein Anliegen ist es nun, den Originaltext sowie die Bühnengestaltung von Ibsen mit der postmodernen Inszenierung von Thomas Ostermeier zu vergleichen. Dazu werde ich zunächst eine entstehungsgeschichtliche sowie eine dramentheoretisch Grundlage für die Analyse von Ibsens „Ein Puppenheim“ schaffen, um ausgehend davon die Ostermeier-Inszenierung von „Nora“[2] analytisch zu durchleuchten. Ich möchte aufzeigen, mit welchen Mitteln aus dem postdramatischen Theater es Ostermeier gelingt, trotz enger Bezugnahme zu Henrik Ibsens Dramentext eine glaubwürdige und international von Erfolg gekrönte zeitgenössische Theaterinszenierung zu gestalten. Dabei werde ich mich im Detail an der postdramatischen Dramentheorie von Hans-Thies Lehmann orientieren,[3] um Text und Sprache der Schauspieler, ihre Gesten und Bewegungen, das Bühnenbild sowie die räumliche Beziehung von Theater- und Zuschauerraum, die zeitliche Dimension von Fiktion und Realität des Theatergeschehens sowie die Medienrelevanz von Ostermeiers „Nora“ untersuchen zu können. Eine persönliche Stellungnahme zu Ostermeiers „Nora“-Inszenierung in Hinblick auf die Theatersituation des 21. Jahrhunderts soll die Analyse des Stücks schließlich abrunden.
2. Das Drama um „Nora“
2.1 Henrik Ibsen: Der Künstler und seine Zeit
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Betty Hennings tanzt Noras Tarantella (Quelle: www.ibsen.net) bauen und regelmäßig kleine Vorstellungen vor seinen Freunden zu geben. Außerdem nimmt sie ihn zu einigen Theatervorstellungen mit, was in Ibsens Kindheit ein seltenes Vergnügen darstellt, da das Theater in Norwegen Anfang des 19. Jahrhunderts wenig entwickelt ist und erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Gastspiele von Tourneetheatergruppen an Beliebtheit gewinnt. In dem jungen Ibsen reift der Entschluss, Künstler zu werden. Seine Pläne werden jedoch durchkreuzt, als der Vater aus finanziellen Nöten sein Geschäft aufgeben muss und der Grundbesitz versteigert wird. Ibsen soll nun auf Wunsch seiner Eltern schnellstmöglich auf eigenen Beinen stehen und wird als Apothekerlehrling nach Grimstad geschickt. Die Begeisterung für das Drama lässt ihn jedoch auch während seiner Lehrzeit nicht los: Kurz vor Beendigung seiner Lehre stellt er schließlich sein erstes Stück „Catilina“ fertig.
Im Frühjahr 1850 siedelt Ibsen nach Kristiana (Oslo) über: er holt dort sein Abitur nach und besucht Vorlesungen für Philosophie und Ästhetik. Die folgenden Jahre bis 1864 verbringt Ibsen die meiste Zeit in Norwegen, wobei er zahlreiche Reisen unternimmt und zwischen Bergen und Kristiana hin und her pendelt. Mit der schwierigen gesellschaftspolitischen Lage in seinem Heimatland und dem bürgerlich-kapitalistischen Aufschwung, die die bäuerlich-demokratische Gesellschaft abzulösen beginnt, kann sich Ibsen jedoch nicht auf Dauer anfreunden. Er begibt sich deshalb für die nächsten 27 Jahre ins Exil und lebt abwechselnd in Deutschland und Italien. Ibsen kehrt erst fünf Jahre vor seinem Tod, am 23. Mai 1906, nach Norwegen zurück.
2.2 „Ein Puppenheim“ – Entstehungsgeschichte
Seinem rastlosen Wesen hat Ibsen auch sein künstlerisches Lebenswerk zu verdanken, das insgesamt 26 Dramen und einen Gedichtband umfasst. Zu seinen Werken äußert sich Ibsen in einem Brief an Ludwig Passarge wie folgt: „Alles, was ich gedichtet habe, hängt aufs engste zusammen mit dem, was ich durchlebt – wenn auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich selbst den Zweck, als geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozeß zu dienen. Denn man steht niemals ganz über aller Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, der man angehört.“[5] Diese Aussage Ibsens bekommt in Hinblick auf sein Drama „Ein Puppenheim“ einen besonderen Stellenwert. Dem Stück liegt eine wahre Begebenheit zu Grunde, sie sich in Ibsens Freundeskreis zugetragen hat:[6] Es handelt sich hierbei um Ibsens Bekannte Laura Kieler, die ohne Wissen ihres an Tuberkulose erkrankten Mannes einen Kredit aufnimmt, um seine Genesung im Süden finanzieren zu können. Als sie ihre Schulden nicht zurückzahlen kann, fälscht sie (wie später Nora in „Ein Puppenheim“) einen Wechsel, um an Geld zu gelangen. Als die Wechselfälschung entdeckt wird, lässt sich ihr Mann von ihr scheiden, woraufhin sie einen Zusammenbruch erleidet und in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird. Mit dieser zwischenmenschlichen Tragödie wird Ibsen konfrontiert, als in ihm die Idee zu „Ein Puppenheim“ heranreift. In seiner ersten schriftlichen Äußerungen zu „Ein Puppenheim“ vertritt er den Standpunkt, dass die „Frau [... ] im praktischen Leben nach dem Gesetz des Mannes beurteilt“ wird – eine Kernaussage, die die Grundlage seines Stückes bilden sollte: „In der heutigen Gesellschaft kann eine Frau sich nicht als Frau, und nur als Frau behaupten. [... ] Verwirrt und unterdrückt vom Autoritätsglauben, verliert sie den Glauben an ihr moralisches Recht und ihre Kraft, die Kinder selbst zu erziehen. [... ] Alles muß allein ertragen werden. Die Katastrophe nähert sich erbarmungslos, unabwendbar.“[7] In der ursprünglichen Konzeption bildet diese Katastrophe den Selbstmord Noras. Ibsen entscheidet sich jedoch für den Aufsehen erregenden Schluss, dass Nora ihren Mann und ihre Kinder verlässt, um sich selbst zu verwirklichen. Da besonders deutsche Theaterbühnen nicht mit diesem Schluss einverstanden waren, gestaltete Ibsen eine alternative Schlussszene, in der Nora der Kinder Willen bei ihrem Mann bleibt.[8]
Auch eine dritte Fassung ist bekannt: Hier findet nach der Trennung ein Wiedersehen mit anschließender Versöhnung zwischen den Eheleuten statt.[9] Dieser versöhnliche Schluss fand jedoch beim Publikum keinen Anklang und man verlangte vielerorts nach dem Original. Das Theaterstück war ein großer Erfolg: Bereits wenige Wochen vor der Premiere, am 4. Dezember 1879, veröffentlichte Hegel den Text von „Ein Puppenheim“ in einer Großauflage von 8000 Exemplaren, die bereits nach kurzer Zeit ausverkauft waren. Die Uraufführung von „Ein Puppenheim“ am 21. Dezember 1879 am Königlichen Theater in Kopenhagen sollte Ibsen schließlich den Weg zu einer internationalen Karriere ebnen.
2.3 Dramentheoretische Grundlage: Aristoteles „Poetik“
Da sich Ibsens „Ein Puppenheim“ im Rahmen der aristotelischen Dramaturgie bewegt, halte ich es an dieser Stelle für wichtig, einige zentrale Gedanken und Vorgaben von Aristoteles „Poetik“[10] herauszuarbeiten, um anschließend ihre Anwendung auf Ibsens Drama hin zu überprüfen, damit in Ostermeiers „Nora“ die Veränderungen bezüglich der Theatermittel hin zum postdramatischen Theater besser veranschaulicht werden können.
Die Poetik von Aristoteles beschäftigt sich mit der Dichtkunst und ihren Gattungen, wobei das Hauptaugenmerk auf den mimetischen Künsten liegt: „Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie [... ] das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen.“[11] Die Tragödie nimmt dabei einen besonders hohen Stellenwert ein. Aristoteles unterteilt sie in sechs Teile: „Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik“.[12] Dem Mythos kommt eine große Bedeutung zu – er bildet „die Seele der Tragödie“.[13] Ein wichtiges Merkmal der Tragödendichtung ist die Geschlossenheit ihrer übersichtlich gestalteten Handlung, die einen „Anfang“, eine „Mitte“ und ein „Ende“ hat und „auf der Einheit des Gegenstandes“, d.h. der Fabel, beruht.[14] Außerdem soll die Tragödie über eine „Einheit der Zeit und des Ortes“ verfügt und sich hinsichtlich ihrer dargestellten Handlung „ innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs [... ] oder nur wenig darüber“ erstrecken.[15]
Die Fabeln, die Nachahmung der Handlung sind, ergeben in ihrem Verlauf „Peripetie und Wiedererkennung“, die einen Umschlag von „Glück in Unglück“ mit sich bringen, beim Publikum zu „Jammern oder Schaudern“ führen und „Furcht und Mitleid“ erwecken, was schließlich zur innere Reinigung (katharsis) führt, die das oberste Ziel der Tragödie darstellt.[16] Bei diesem Wendepunkt in der Handlung wird der Figur des Boten eine wichtige Rolle zuteil: Er trägt dazu bei, dass der vom Helden begangene Fehler in der Vergangenheit hinüber in das gegenwärtige Bühnengeschehen transportiert wird, sodass sich die unabwendbare Katastrophe durch die Wende ins Unglück vollziehen kann.[17]
[...]
[1] Im Folgenden zitiert aus: Ibsen, Henrik: Nora (Ein Puppenheim). Stuttgart: Philipp Reclam 1988.
[2] Im Folgenden zitiert aus:
[3] Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999.
[4] Die folgenden Angaben beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf: Ferguson, Robert: Henrik Ibsen: eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Schmidt. München: Kindler 1998, S. 8-50.
[5] Zitiert aus: Bien, Horst: Henrik Ibsens Realismus. Zur Genesis und Methode des klassischen kritisch-realistischen Dramas. Berlin: Rütten & Loening 1970, S. 104f. Vgl. auch: Ibsen, Henrik: Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Bd. 10, Berlin: S. Fischer 1898-1904, S. 290.
[6] Vgl. Ferguson, Robert: Henrik Ibsen, a.a.O., S. 304.
[7] zitiert aus: Rieger, Gerd Enno: Henrik Ibsen. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt 1981, S. 73. Vgl. auch: Arpe, Verner (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen: Henrik Ibsen. Bd. II, München: Heimeran 1972, S. 42f.
[8] Vgl. Ferguson, Robert: Henrik Ibsen, a.a.O., S. 313.
[9] Ebenda.
[10] Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1996.
[11] Ebenda, S. 5.
[12] Ebenda, S. 21.
[13] Ebenda, S. 23.
[14] Ebenda, S. 29.
[15] Ebenda, S. 17.
[16] Vgl. Ebenda, S. 33-37.
[17] Vgl. S. 35f und S. 57.
- Arbeit zitieren
- Amely Braunger (Autor:in), 2005, Die "neue" Nora. Eine zeitgenössische Inszenierung von Henrik Ibsens "Ein Puppenheim" aus dem 19. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53017
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