In zahlreichen Visionen und ekstatischen Erlebnissen erlangte Franziskus von Assisi Klarheit darüber, dass und wie Jesus nachzufolgen ist. Das heutige Interesse an Jesus und Franziskus läuft Gefahr, beide Positionen miteinander zu vermischen. Es wird häufig nicht zwischen den beiden Persönlichkeitsprofilen unterschieden. Dies liegt zum Teil daran, dass die kirchliche Institution manchen Ideen des Franziskus die „Spitzen kappte“ und sie in kirchenverträgliche Kanäle lenkte. Andererseits sieht man die für Franziskus so typische liebevolle Zuwendung zur gesamten Schöpfung oft schon bei Jesus angelegt oder gar umgesetzt. Folge einer solchen Vermischung ist, dass beide Personen - aufgrund übergeordneter religiöser Autorität Jesu vor allem aber die des Heiligen aus Assisi - ihr eigenständiges Profil verlieren. Trotz dem Streben des Heiligen Franziskus, sich ganz und gar an das Leben Jesu anzupassen, könnte sein Leben doch auch ganz andere, neue (religiöse) Gedanken in die Welt gebracht haben, von denen wir heute lernen könnten.
Diese Vermengung verschiedener Positionen wird in dieser Arbeit aufgebrochen. Sowohl von Franziskus als auch von Jesus wird ein eigenständiges Profil entworfen. Anschließend werden diese Positionen im Hinblick auf einige ausgewählte zentrale Aspekte einander gegenübergestellt. Am Ende dieser Arbeit erscheint Franziskus als eigenständiger Charakter.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I Leben und Wirken des Franz von Assisi
1 Der kulturelle und religiöse Hintergrund
1.1 Die Waldenser
1.2 Die Katharer
1.3 Assisi im 12. Jahrhundert
2 Die Quellen
3 Kurze Lebensbeschreibung
4 Das Verlassen der Welt
4.1 Die Visionen
4.2 Die Aussätzigen
4.3 Die Trennung vom Vater
4.4 Diskussion
5 Religiöse Grundeinstellung
5.1 Gott und seine Schöpfung
5.2 Erlösung
5.3 Das Selbstverständnis des Franziskus von Assisi
6 Die Ideale
6.1 Armut
6.2 Friedfertigkeit
II Leben und Verkündigung des Jesus von Nazareth
1 Welches Jesusbild?
1.1 Tiefenpsychologische Hermeneutik
1.2 Historisch-kritische Exegese
1.2.1 Das Differenzkriterium
1.2.2 Das Plausibilitätskriterium
2 Die Gottesherrschaft - Zentrum der Verkündigung Jesu
3 Der Wille Gottes (Ethik Jesu)
4 Das Selbstverständnis des Jesus von Nazareth
III Franziskus von Assisi und Jesus von Nazareth
1 Das Problem
2 Das Böse
3 Die Erlösung
4 Die Ethik
5 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er [Jesus, d. V.] zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgabe, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist.“[1]
Sicher teilte Franziskus nicht den Standpunkt der Leben-Jesu-Forschung zu Zeiten Albert Schweitzers, dass über den historischen Jesus kaum Aussagen getroffen werden können. Franziskus unterschied wie seine Zeitgenossen nicht zwischen dem, was in den Evangelien stand, und dem historischen Jesus. Darüber hinaus lag ihm jeglicher wissenschaftlicher Umgang mit der Bibel fern. Aber auch an ihn erging das Wort: „Du aber folge mir nach!“ Und er versuchte von dieser Zeit an, Jesus nachzufolgen und ihm zu gehorchen. In zahlreichen Visionen und ekstatischen Erlebnissen erlangte er Klarheit über seine Nachfolge, die oft von Kämpfen und Leiden, aber eben auch von Friedenstiften und heilendem Wirken gezeichnet war. Das heutige Interesse an Jesus und Franziskus läuft Gefahr, beide Positionen miteinander zu vermischen. Es wird häufig nicht zwischen den beiden Persönlichkeitsprofilen unterschieden. Dies liegt zum Teil daran, dass die kirchliche Institution manchen Ideen des Franziskus die „Spitzen kappte“ und sie in kirchenverträgliche Kanäle lenkte.[2] Andererseits sieht man die für Franziskus so typische liebevolle Zuwendung zur gesamten Schöpfung oft schon bei Jesus angelegt oder gar umgesetzt. Folge einer solchen Vermischung ist, dass beide Personen - aufgrund übergeordneter religiöser Autorität Jesu vor allem aber die des Heiligen aus Assisi - ihr eigenständiges Profil verlieren. Trotz dem Streben des Heiligen Franziskus, sich ganz und gar an das Leben Jesu anzupassen, könnte sein Leben doch auch ganz andere, neue (religiöse) Gedanken in die Welt gebracht haben, von denen wir heute lernen könnten.
Diese Vermengung verschiedener Positionen wird in dieser Arbeit aufgebrochen. Sowohl von Franziskus als auch von Jesus wird ein eigenständiges Profil entworfen. Anschließend werden diese Positionen im Hinblick auf einige ausgewählte zentrale Aspekte einander gegenübergestellt. Am Ende dieser Arbeit erscheint Franziskus als eigenständiger Charakter.
I Leben und Wirken des Franz von Assisi
Eine Annäherung an das Leben und Wirken des Franziskus kann nicht bei einer Darstellung der einzigartigen Handlungen wie beispielsweise seiner Predigt an die Vögel einsetzen. Für ein umfassendes und tiefes Verständnis des Heiligen aus Assisi ist es wichtig, sich Schritt für Schritt seiner Persönlichkeit anzunähern. Ein Umweg über die gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten seiner Zeit zeigt sich in diesem Zusammenhang ebenso als erforderlich wie ein Blick auf die Quellen, die von ihm zeugen. Erst dann können vernünftigerweise seine Biographie, seine religiöse Grundeinstellung und seine Ideale thematisiert werden.
1 Der kulturelle und religiöse Hintergrund
Schon lange vor der Geburt des Franziskus hatte das Christentum in Europa Fuß gefasst. Im 11. und 12. Jahrhundert erfuhr es jedoch aus verschiedenen Gründen eine Krise, die den Ruf nach Reformen innerhalb der Kirche laut werden ließ. In dieser Zeit tauchten verschiedene religiöse Strömungen auf, die mitunter der päpstlichen Inquisition zum Opfer fielen. Wie kam es zu dieser religiösen Krise?
Die Komplexität der gesellschaftlichen und religiösen Zusammenhänge des Mittelalters verlangt an dieser Stelle eine starke Vereinfachung, die nur einige wenige für die Krise verantwortlichen Faktoren umfassen kann. Für den Zweck dieser Arbeit reicht eine solche Darstellung aus.
Zu Beginn des 1. Jahrtausends führten verbesserte Ackerbauverfahren zu einer beachtlichen Produktivitätssteigerung im landwirtschaftlichen Sektor.[3] Anteil an diesem landwirtschaftlichen Aufschwung hatten in großem Maße Klöster. Galt zu Zeiten geringer Ernteerträge der klösterliche Grundbesitz noch als relativer Reichtum, der sogar von Armutsbewegungen mitgetragen werden konnte,[4] änderte sich diese Sichtweise mit den verbesserten Agrartechnologien. Klöster erwirtschafteten sich als Großgrundbesitzer einen bedeutenden materiellen Reichtum, von dem die Landbevölkerung nur in geringem Umfang profitierte.[5]
Parallel zu dieser Entwicklung kam es zu einem Wiederaufleben des Stadtwesens.[6] Zum Stand der Landwirte gesellte sich infolge dieser Entwicklung ein weiterer Stand, nämlich der des Bürgertums. Der Handel in der Stadt basierte in erster Linie nicht auf dem Austausch von Naturalien, sondern auf der Geldwirtschaft. Aus beiden Aspekten erwuchsen der Kirche Probleme. Güter wie Bildung gewannen innerhalb einer städtischen Bevölkerung ein stärkeres Gewicht, was letztlich gerade auch gegenüber der Kirche zu einem Emanzipationsstreben führte.[7] Andererseits hatte sich die Kirche einem Zinsverbot verschrieben, an dem sie trotz Erstarken der Geldwirtschaft festhielt.
Zu diesen Problemen kam weiterhin Kritik an der Amtsführung des Klerus aufgrund von Vernachlässigung der Seelsorgepflicht, Simonie,[8] Spielleidenschaft und sexuellen Kontakten von Nonnen mit Klerikern und Gönnern.[9]
Im Sog dieser Missstände formierten sich mehrere religiöse Gruppierungen, die teilweise nur eine Rückbesinnung auf die Evangelien bzw. Jesus forderten, teilweise aber auch das Christentum in seinen Grundfesten infrage stellten.
1.1 Die Waldenser
Aus dem im 12. Jahrhundert bestehenden Geflecht religiöser und sozialer Probleme gingen die von Waldes, einem Kaufmann aus Lyon, gegründeten Waldenser hervor. Waldes veräußerte im Anschluss an die Predigt eines Spielmanns und nachdem er den Rat eines Theologen eingeholt hatte seinen gesamten Besitz, um weiterhin ein Leben gemäß des Evangeliums zu führen.[10] Neben streng gelebter Armut und starker Rückbindung an die Bibel verschrieb sich dieser Bußprediger einem Wanderleben.[11]
Schon bald gerieten Waldes und seine Anhänger in Konflikt mit der kirchlichen Autorität. Der Grund lag in ihrer Auffassung des apostolischen Auftrags, die keine Bindung an die sakramentale Ordination vorsah. Während es trotz zahlreicher Konflikte im Jahre 1208 zu einer Aussöhnung von Kirche und einem Teil der Waldenser kam,[12] erfuhren andere waldensische Gruppierungen dauerhaft die kirchliche Ablehnung bis hin zu gewalttätigen Verfolgungen.
1.2 Die Katharer
Eine Armutsbewegung im weiteren Sinne stellen die aus dem Balkan stammenden Katharer dar. Wesentliches Merkmal ihrer Lehre ist ein starker Dualismus. In ihrer Lehre gilt Gott als „Haupt des geistigen Reiches und Satan als Haupt des stofflichen Reiches.“[13] Diese Grundeinstellung erklärt auch, warum sie eine Abscheu gegenüber allem haben, was in Verbindung mit der materiellen Welt steht. Die „Vollkommenen“ (perfecti), wie sie sich nannten, heirateten nicht, praktizierten eine strenge sexuelle Enthaltsamkeit, aßen keine Speisen, die aus einer geschlechtlichen Vereinigung hervorgingen, und verfochten eine rigorose Moral.[14] Erlösung „der in Materie und Finsternis eingeschlossenen Seele“ erhofften sie sich durch den guten Gott und Jesus, dessen Auftrag es war „die Seelen in die himmlische Heimat“ zurückzuführen.[15] Sie verwarfen die kirchliche Taufe und die Eucharistie. Holze bezeichnet sie als „radikale christliche Sekte“ und Bredero betont, dass die neutestamentlichen Schriften für sie Gültigkeit besaßen, wenngleich sie diese meist gegen die kirchliche Institution ausspielten.[16],[17] Die Spannungen zwischen Klerus und der weit verbreiteten katharischen Bewegung führte zwischen 1209-1229 in Südfrankreich zu brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen, den Albigenserkriegen. Die Katharer hielten sich jedoch bis ins 14. Jahrhundert.[18] Noch bevor Franziskus das Licht der Welt erblickte, machten sich im Tal von Spoleto, in welchem auch Assisi gelegen ist, katharische Gedanken breit.[19]
1.3 Assisi im 12. Jahrhundert
Rund um und in Assisi tobten im 12. Jahrhundert erbitterte Kämpfe, weswegen die Stadt immer wieder den Herrschaftsbereich wechselte. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts erlangte die Stadt jedoch eine weitgehende Autonomie. Die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen gründeten teilweise in der wirtschaftlichen Lage der Stadt. Ebenso wie andere Städte erfuhr auch Assisi zu dieser Zeit einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der auf den Märkten, welche landwirtschaftliche Produkte des Umlandes, wie Getreide, Früchte, Wein und Olivenöl anboten, sichtbar wurde. Zudem etablierten sich zusehends das Handwerk und Berufsgruppen, wie Ärzte, Notare, Baumeister und Tuchhändler. An diesem wirtschaftlichen Aufschwung hatte auch der Klerus Anteil. Deswegen kann mit hoher Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass ähnlich wie in anderen Regionen auch in Assisi Spannungen - zwischen Klerus und Laien bestanden, die den Ruf nach Reformen provozierten.
2 Die Quellen
Franz von Assisi hinterließ eine Vielzahl verschiedener Schriften. Briefe, Ermahnungen, Gebetstexte stammen ebenso aus seiner Feder wie Regeln für seine Mitbrüder und schließlich sein Testament. Schon bald nach seinem Tod verfasste Thomas von Celano die erste Lebensbeschreibung. Dieser sollten noch weitere Biographien folgen (z.B. Drei-Gefährten-Legende).
Die vorliegende Ausarbeitung greift im Wesentlichen auf die wissenschaftlichen Abhandlungen von Raoul Manselli und Helmut Feld zum Leben des Franz zurück.[20],[21] Neuere Forschung geht davon aus, dass die uns vorliegenden Quellen einerseits durch idealistische Überzeichnung gekennzeichnet sind, andererseits aber auch an einer Vereinnahmung und Neutralisierung aufgrund mönchischer und kirchlicher Interessen leiden.[22] Beide hier berücksichtigten Werke versuchen, die Quellen von den unhistorischen Zutaten zu befreien und auf ihre Weise ein Bild von Franziskus zu zeichnen. Feld geht in seiner Arbeit sicher noch einen Schritt weiter als Manselli, indem er sich verstärkt mit den Zusammenhängen hinter den Quellen befasst. Während Manselli aufgrund des Inhalts der Quellen die Kirchenkonformität des Franziskus betont, vermutet Feld dahinter häufig glättende „nachfranziskanische“ Tendenzen. Deutlich wird die unterschiedliche Vorgehensweise Mansellis ebenfalls am Vorgang der Stigmatisation, welcher in den Quellen nicht näher beschrieben und deshalb von ihm nicht erläutert wird.
3 Kurze Lebensbeschreibung
Unklar ist, ob Franz im Jahre 1181 oder 1182 zur Welt kam. Klarheit hingegen herrscht darüber, dass er der Sohn eines sehr reichen Tuchhändlers, des Pietro di Bernardone, war. Der Name der Mutter lautete vermutlich Pica, dies belegen allerdings nur zwei ältere Quellen. Während seiner Kindheit und Jugend lebte Franziskus in großem Reichtum, was Berichte über ausschweifende Fress- und Saufgelage belegen. Es ist davon auszugehen, dass er gemäß dem Wunsch seines Vaters eine Ausbildung genoss, die ihn später zur Ausübung des Kaufmannberufs befähigen sollte. Wie die Quellen zeigen, war Franz der lateinischen Sprache - wenngleich grammatikalisch nicht immer sicher - mächtig. Zudem besaß er Französischkenntnisse auf etwa gleichem Niveau. Manselli schreibt sein detailliertes Bibelwissen hauptsächlich der Zeit nach seiner Bekehrung zu,[23] wohingegen Feld annimmt, dass Franz, wie im Mittelalter üblich, anhand des Psalters lesen und schreiben lernte.[24] Weiterhin glaubt Feld, in seinen Gleichnissen Einflüsse von Rittersagen und französischen Epen zu erkennen. Nachdem Franz im Anschluss an seine einjährige Kriegsgefangenschaft in Perugia eine lange Krankheit durchlitten hatte, kam es infolge von Begegnungen mit Aussätzigen und Visionen zu seiner Bekehrung. Diese veranlasste ihn schließlich dazu, sein bisheriges Leben als Tuchhändler im Kreise seiner Familie aufzugeben. Endgültig vollzog sich die Trennung von der Familie beim öffentlichen Konflikt zwischen Franz und seinem Vater vor dem Bischof der Stadt. Nach diesem Schritt „aus der Welt hinaus“, sah er seine Aufgabe in der Wiederherstellung verschiedener Kirchen. In dieser Zeit wurde er sich darüber klar, wie gemäß des Evangeliums zu leben sei und es schlossen sich ihm erste Gefährten an. Zusammen mit diesen machte er sich im Jahre 1209 auf den Weg nach Rom, um die Bestätigung seiner Regeln durch Papst InnocenzIII. zu erreichen. Dieser bestätigte nach längeren Gesprächen seine Regeln mündlich. Anschließend kehrte er mit seinen Mitbrüdern nach Assisi zurück und ließ sich bei der Portiuncula-Kirche nieder. Die erste Frau, Klara von Assisi, schloss sich der Bewegung 1211 an. Rund fünf Jahre später begann Franz, in Mittelitalien zu predigen. 1217 wurde er von Kardinal Hugolino daran gehindert, sein Predigerdasein auf Frankreich auszuweiten. Auf seine weiteste Missionsreise begab er sich rund zwei Jahre später. Im Gefolge von Kreuzrittern reiste er nach Ägypten, wo es zu einem Treffen zwischen ihm und dem Sultan Melek el-Kamil kam. Nach einer alles in allem erfolglosen Missionierung der Muslime begab sich Franz über Syrien wieder auf den Weg nach Italien. Umstritten ist, ob er dabei die Heiligen Stätten besuchte. In der Folgezeit beschränkte er sich auf Predigtreisen innerhalb Italiens. Vor allem in den letzten Jahre vor seinem Tod musste Franz seiner extremen Lebensführung Tribut zollen und er sah ein, dass er sich an „Bruder Körper“ schwer versündigt hatte. Als er im Jahre 1224 nach der Vision des Seraphen vom Berg La Verna herabstieg, trug er die Wundmale Christi. Kurz zuvor kam es zur Abfassung einer neuen und endgültigen Ordensregel.[25] Sechs Jahre nach seinem Aufenthalt im Orient stirbt Franz seinem Wunsch entsprechend bei der Portiuncula-Kirche.
4 Das Verlassen der Welt
Der Gang des Franziskus aus der „Welt hinaus“ vollzog sich in mehreren Stufen. Am Beginn des Bekehrungsprozesses stand die Vision des waffengefüllten Palastes. Den Abschluss fand dieser Prozess in der öffentlichen Trennung vom Vater. Was aber veranlasste Franz dazu, die „Welt“ zurückzulassen?
4.1 Die Visionen
Kurz vor seiner Reise nach Apulien, wo Franziskus das Rittertum erlangen wollte, ereilte ihn ein Traum: Eine Stimme rief ihn in den waffengefüllten Palast einer schönen Braut und teilte ihm mit, dass der Palast mitsamt seinem Inhalt ihm und seinen Rittern gehöre. Während dieser stark von ritterlichen Motiven gekennzeichnete Traum noch eine weltliche Deutung zulässt, ist eine solche Deutung beim Traum von Spoleto nicht mehr möglich. Während einer Rast am ersten Tag seiner Reise nach Apulien vernahm Franz im Halbschlaf die Stimme des Herrn, die ihn dazu auforderte, nach Assisi zurückzukehren. Dieser Anweisung folgte er. In seiner Heimatstadt fristete er zunächst wieder ein gewöhnliches Leben bis er eines Tages bei einem prozessionsartigen Umzug im Anschluss an ein festliches Mahl in Ekstase geriet. Dieser ekstatische Zustand gab den Anstoß zu einer “tiefen inneren Krise“,[26] die vermutlich im Zusammenhang mit der heranreifenden Entscheidung, die Welt zu verlassen, zu sehen ist. Als die folgenreichste Vision des Franz muss man sicher den sprechenden Christus von San Damiano bezeichnen. In der außerhalb der Stadtmauern liegenden Kirche San Damiano richtete ein auf Holz gemalter Christus folgende Worte an den Heiligen:
„Franziskus, siehst du nicht, dass mein Haus in Verfall gerät? Geh also hin und stelle es mir wieder her.“[27]
Zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums spricht ein Crucifixus zu einem Menschen. Franz deutet die Worte des Kreuzes vorerst wörtlich, weshalb er in der Folgezeit damit begann, Kirchen wieder in Stand zu setzen. Auf diese Vision wird im Zusammenhang mit dem Erlösungsverständnis des Franziskus nochmals zurück zu kommen sein. Sehr wahrscheinlich ist, dass das innige Streben des Franziskus, sich dem Leben Jesu und seinem Erlösungsauftrag anzunähern, in dieser Erfahrung wurzelt.
Feld verfechtet in seinen Studien die These, dass letztlich die Visionen - und unter ihnen besonders die von San Damiano - den entscheidenden Faktor der Bekehrung ausmachen. Zu diesem Schluss kommt Feld trotz dessen, dass Franz in seinem Testament seine Erfahrung mit den Aussätzigen für seine Umkehr verantwortlich macht. Ausgangspunkt der These Felds ist der Zeitpunkt der Testamentsverfassung und die damit verbundenen Umstände: Franz war krank, geschwächt und deprimiert und blickte vermutlich fast schon nostalgisch auf die Anfänge der Bewegung zurück, die stark unter dem Zeichen der Hinwendung zu den Aussätzigen stand.
4.2 Die Aussätzigen
Die Drei-Gefährten-Legende berichtet von einer Situation, in welcher Franz einem Leprosen zu Pferd begegnete, abstieg, ihm ein Almosen gab und dem Kranken die Hand küsste. Inspiriert von dieser Erfahrung begab er sich einige Tage später in das Hospital der Aussätzigen, verteilte Geld und küsste jedem einzeln die Hand. In seinem Testament beschreibt er, wie ihn - nachdem er die Aussätzigen verlassen hatte - ein seelisches Wohlbehagen überkam und das obwohl ihm der Umgang mit Aussätzigen bisher immer sehr unangenehm war. Franz lebte in dem Glauben einer gottgewirkten „wundersamen“ Umpolung seiner Wahrnehmung.
An dieser Stelle setzt Manselli mit seiner Argumentation ein, der die Darstellung des Franziskus in vollem Maße unterstützt. Für ihn ist diese Erfahrung der Punkt an dem Franziskus klar wurde, dass sein früheres Leben ein Leben „in Sünden war“.[28] Der körperliche Aussatz der Leprosen schärfte ihm den Blick für seinen seelischen Aussatz. Der Bekehrung musste die Einsicht, in Sünde zu leben, vorausgehen. Erst von da an war ein Leben in Buße und somit eine gottgewollte Neugeburt möglich. Teil des neuen Lebens war - wie für das Mittelalter typisch - das Aufgeben der Welt. Sein ausgeprägter Ehrgeiz - der sich sehr gut an seinem Streben nach dem Rittertum, was dem Erlangen eines höheren gesellschaftlichen Standes gleichkommt, ablesen lässt - war von da an die Hülle, in welcher sich neue Werte entfalten konnten. Es fand eine Wertumpolung statt, die sich des bereits vorhandenen Ehregeizes bediente.
[...]
[1]
Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher, 1302) 1984 (9. Aufl., Nachdruck der 7. Aufl.), S. 629.
[2] Feld, Helmut: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
[3] Bredero, Adriaan H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter: über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 27.
[4] ebd., S. 26.
[5] Bredero, Adriaan H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter: über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 25.
[6] ebd., S.29.
[7] ebd., S. 33.
[8] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 73.
[9] Holze, Heinrich: Die abendländische Kirche im hohen Mittelalter (12./13.Jahrhundert), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. I/12), S. 63.
[10] Bredero, Adriaan H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter: über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 30.
[11] Holze, Heinrich: Die abendländische Kirche im hohen Mittelalter (12./13.Jahrhundert), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. I/12), S. 155.
[12] Denzler, Georg und Andresen, Carl: Wörterbuch Kirchengeschichte, Freiburg: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (5. aktual. Aufl.), S. 624.
[13] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 15.
[14] Holze, Heinrich: Die abendländische Kirche im hohen Mittelalter (12./13.Jahrhundert), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. I/12), S. 160.
[15] ebd., S. 161.
[16] ebd., S. 159.
[17] Bredero, Adriaan H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter: über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 32.
[18] Denzler, Georg und Andresen, Carl: Wörterbuch Kirchengeschichte, Freiburg: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 (5. aktual. Aufl.), S. 308.
[19] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 74.
[20] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe).
[21] Feld, Helmut: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994 und Feld, Helmut: Franziskus von Assisi, München: Beck 2001 (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe, Band 2170).
[22] Bredero, Adriaan H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter: über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft, Stuttgart: Steiner 1998, S. 36.
[23] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 41.
[24] Feld, Helmut: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 107.
[25] Während Feld, Helmut: Franziskus von Assisi, München: Beck 2001 (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe, Band 2170), S. 90f. den Standpunkt vertritt, dass dieses in manchen Punkten abgeschwächte Regelwerk nicht im vollen Umfang dem Willen des Heiligen entspricht, sondern ihm in Folge seiner körperlichen Schwäche teilweise abgerungen wurde, betont Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 271f. ausdrücklich, Franz habe diesen Regeln mit innerer Überzeugung und Einsicht zugestimmt.
[26] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 58.
[27] ebd., S. 63.
[28] Manselli, Raoul: Franziskus: Der solidarische Bruder, Freiburg: Herder 1989 (Sonderausgabe), S. 48.
- Quote paper
- Stephan Abele (Author), 2005, Franz von Assisi im Spiegel moderner Jesusforschung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52712
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