Was macht die Suizidprävention zur pädagogischen Herausforderung? Um darauf eine Antwort zu geben, möchte ich zunächst einen Überblick über Zahlen und Fakten (1), sowie Theorien zum Suizid geben und damit eine Vorstellung der Selbsttötung als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand vermitteln. Anschließen stelle ich dar, inwiefern das Individuum mit der Gesellschaft (2) verbunden ist, welche Probleme durch diese Verbindung entstehen können und warum der Mensch dabei zur Lösung von Schwierigkeiten, oder an ihrer Statt, sich das Leben nimmt. Gerüstet gegen Herausforderungen im Leben ist der Mensch durch Widerstandsfähigkeiten, die ihm helfen, nicht den Sinn des Lebens (3) aus den Augen zu verlieren. Fehlt der gesellschaftliche Rückhalt, oder scheint er nicht mehr zu bestehen, und kann der Mensch nicht auf ihm Kraft spendende Quellen zurückgreifen, ist er prädisponiert für einen Zusammenbruch. Wirken an solcher Stelle ungewöhnliche Lebensveränderungen oder gar schwerwiegende Ereignisse auf den Menschen ein, können sie eine Krise auslösen. In diesem Zustand erscheint alles schwarz und ohne Hoffnung. Kann sich der Mensch an nichts Lebenswertes mehr klammern, mag der Suizid als Ausweg (4) aus der Verzweiflung angesehen werden. Der Mensch befindet sich in einer akuten Suizidalität. Auf fachliche Kompetenz kann nicht verzichtet werden, wenn der Betroffene eine ihn am Leben erhaltende oder ihn dahin zurückführende Hilfe (5) erhalten soll. Ob der Verzweifelte tatsächlich sterben will, und man ihm nicht doch seinen Willen lassen sollte, ist eine wichtige Überlegung, die der Motivation zu einer eingreifenden und verhindernden Suizidarbeit vorausgeht. Antwort darauf findet sich in der Bedeutung des Suizidversuchs.
Suizidprävention (6) gestaltet sich als ein langer Prozess, der den Menschen ein Leben lang begleitet. Er besteht darin, den Menschen dahingehend zu unterstützen, dass er erst gar nicht auf den Gedanken der Selbsttötung kommt. Doch – und das soll meine Arbeit in Bewusstsein eines jeden rufen – ist es von größter Wichtigkeit, dass unsere Gesellschaft umdenkt und begreift, dass Suizidprävention nicht einzig eine pädagogische oder medizinische Aufgabe ist. So verdeutlichen Schlusswort (7) und die im Anhang (8) stehenden Äußerungen, dass uns alle das Menschensein verbindet, welches uns dazu verpflichtet, füreinander da zu sein.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Suizide mitten unter uns
1.1 Begriff
1.2 Suizid als Phänomen unserer Gesellschaft
1.3 Historisches zum Suizid
1.4 Statistik
1.5 Risikokonstellationen
1.6. Motive
1.7 Theorien
1.8 Kritik an der Krankheitsthese des Suizids
2.Der Suizid ist die Abwesenheit des anderen (Paul Valéry)
2.1 Individuum und Gesellschaft
2.2 Integration oder Randposition?
2.3 Individualität und Sozialisation
3. Auseinandersetzung mit dem Ich
3.1 Das Konstrukt der Resilienz
3.2 Protektive Faktoren
3.3 Coping
3.4 Entwicklung von Widerstandfähigkeiten in der Kindheit
3.5 Belastungen
3.6 Social Readjustment Rating Scale
3.7 Krise
3.8 Krisentheorie nach Golan
4. Der Mensch am Ende seiner Kräfte
4.1 Ausweg Suizid?
4.2 Akute Suizidalität
4.2.1 Das Präsuizidale Syndrom
5. Hilfe
5.1 Intervention
5.2 Mindestziel der Krisenbehandlung
5.3 Will der Lebensmüde tatsächlich sterben?
5.4 Appell und Suizidversuch
6. Suizidprävention als pädagogische Herausforderung
6.1 Suizidprävention
6.2 Vorurteile
7. Schlusswort
8. Anhang
9. Literatur
EINLEITUNG
Meine Motivation für diese hier vorliegende Arbeit ergibt sich aus persönlicher Betroffenheit.
Jedes Gespräch, jede Meldung in Medien über einen „Selbstmord“ ruft Bestürzung in mir aus. Ich kann aufgrund der fachlichen Auseinandersetzung mit der Suizidthematik nachvollziehen, was einen Menschen dazu bringt, sein Leben beenden zu wollen. Doch das Ungewisse nach einem Suizid bleibt die Frage, ob niemand Anzeichen dafür wahrgenommen hat, dass die betroffene Person dringend Hilfe von außen braucht, oder ob niemand diese Hinweise realisieren wollte. Einen weiteren Anstoß gibt die öffentliche Wirkung einer Selbsttötung. Reaktionen auf eine solche Tragödie, die von Unverständnis und Gereiztheit zeugen, machen mich wütend. Was kann ein Suizident für die Umstände, die ihm das Leben schwer machen! möchte ich dem mit äußerstem Nachdruck entgegnen. Befremdliche Äußerungen zum selbst gewählten Tod eines Mitmenschen bringen mehreres zum Ausdruck: zum einen reagieren die Menschen nur dann unangebracht, wenn das Todesopfer ihnen nicht bekannt ist bzw. war. Erst eine eigene Verbindung zum Geschehen lässt das Schreckensausmaß dahinter begreifen. Schließlich zeigen abfällige Kommentare über Suizidenten die Ausblendung persönlicher Ängste und Probleme. Nur in einer eigenen Verzweiflungslage scheint im Menschen Verständnis für die Ausweglosigkeit anderer zu entstehen. Generell besteht wenig Wissen über Ursachen und Bedeutung von Lebenskrisen und Suizidalität und darüber, wie wichtig es ist, den Suizid eines Mitmenschen zu verhindern und der betroffenen Person ein anderes, neues Leben zu zeigen.
Um in der Position eines Pädagogen – in die ich mich hineindenke – eine sensible Suizidpräventivarbeit zu leisten, ist ein erster und unentbehrlicher Schritt die Aufklärungsarbeit. Sie soll helfen, Unwissen und Vorurteile aus der Welt zu schaffen, und letztlich den Betroffenen helfen, sich andern anzuvertrauen und Unterstützung zu suchen, ohne sich derer schämen zu müssen. Leider gibt es eine Vielzahl an Faktoren, die eine weitgreifende Suizidprävention behindern. Geschieht in unserer Gesellschaft ein Suizid, wird er manchmal durch die Presse zu einem unglaublichen Skandal heraufbeschworen. Daraufhin schweigt das öffentliche Organ wieder, als sei nichts geschehen, bis es wieder Interesse hat, ein persönliches Schicksal zu einem großen Aufmacher auf der Titelseite zu machen. Sicher ist eine Selbsttötung entsetzlich, doch ist dies nicht nur der einzelne Fall, über welchen in der Zeitung berichtet wird. Tausende ignorierte Suizide kommen auf einen, auf welchen sich die Medien stürzen, sodass der Eindruck entstehen könnte, Suizide seien selten.
Doch Suizide sind nicht selten. Sie geschehen nur oft still und heimlich.
Was macht die Suizidprävention zur pädagogischen Herausforderung? Um darauf eine Antwort zu geben, möchte ich zunächst einen Überblick über Zahlen und Fakten (1), sowie Theorien zum Suizid geben und damit eine Vorstellung der Selbsttötung als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand vermitteln. Anschließen stelle ich dar, inwiefern das Individuum mit der Gesellschaft (2) verbunden ist, welche Probleme durch diese Verbindung entstehen können und warum der Mensch dabei zur Lösung von Schwierigkeiten, oder an ihrer Statt, sich das Leben nimmt. Gerüstet gegen Herausforderungen im Leben ist der Mensch durch Widerstandsfähigkeiten, die ihm helfen, nicht den Sinn des Lebens (3) aus den Augen zu verlieren. Fehlt der gesellschaftliche Rückhalt, oder scheint er nicht mehr zu bestehen, und kann der Mensch nicht auf ihm Kraft spendende Quellen zurückgreifen, ist er prädisponiert für einen Zusammenbruch. Wirken an solcher Stelle ungewöhnliche Lebensveränderungen oder gar schwerwiegende Ereignisse auf den Menschen ein, können sie eine Krise auslösen. In diesem Zustand erscheint alles schwarz und ohne Hoffnung. Kann sich der Mensch an nichts Lebenswertes mehr klammern, mag der Suizid als Ausweg (4) aus der Verzweiflung angesehen werden. Der Mensch befindet sich in einer akuten Suizidalität. Auf fachliche Kompetenz kann nicht verzichtet werden, wenn der Betroffene eine ihn am Leben erhaltende oder ihn dahin zurückführende Hilfe (5) erhalten soll. Ob der Verzweifelte tatsächlich sterben will, und man ihm nicht doch seinen Willen lassen sollte, ist eine wichtige Überlegung, die der Motivation zu einer eingreifenden und verhindernden Suizidarbeit vorausgeht. Antwort darauf findet sich in der Bedeutung des Suizidversuchs.
Suizidprävention (6) gestaltet sich als ein langer Prozess, der den Menschen ein Leben lang begleitet. Er besteht darin, den Menschen dahingehend zu unterstützen, dass er erst gar nicht auf den Gedanken der Selbsttötung kommt. Doch – und das soll meine Arbeit in Bewusstsein eines jeden rufen – ist es von größter Wichtigkeit, dass unsere Gesellschaft umdenkt und begreift, dass Suizidprävention nicht einzig eine pädagogische oder medizinische Aufgabe ist. So verdeutlichen Schlusswort (7) und die im Anhang (8) stehenden Äußerungen, dass uns alle das Menschensein verbindet, welches uns dazu verpflichtet, füreinander da zu sein.
1. Suizide mitten unter uns
1.1 Der Begriff
Der Suizid. Lateinisch: sui caeders, was in der Bedeutung für „zu Fall bringen des eigenen Ichs“ steht. Geläufiger als ‚Suizid’ ist die Bezeichnung ‚Selbstmord’. Sie stellt eine stark negative Wertung dar und stammt noch aus Zeiten, zu denen die christliche Kirche die Tötung der eigenen Person dem Mord gleichsetzte und hart bestrafte. Ist ein Mensch in solch schlechter seelischer Verfassung, dass er Hand an sich legt, sollte man dieses schlimme Schicksal nicht noch vergrößern, indem man es (begrifflich) mit einem Verbrechen gleichsetzt. Finzen schreibt dazu:
„Das Wort ‚Mord’ ist so negativ besetzt, dass seine Verwendung im Zusammenhang damit, dass ein Mensch sich das Leben nimmt´, nicht zur Klärung beiträgt, sondern gewollt oder nicht gewollt eine Abwertung enthält“ (Finzen 1996, 16).
Ich sehe daher davon ab, den Begriff ‚Selbstmord’ zu verwenden, ebenso wenig, wie ich von ‚Freitod’ sprechen werde. Diese Bezeichnung wiederum führt zu der Illusion, dass ein Suizident generell fest entschlossen sei zu sterben und dass er aus allein ihn betreffenden Beweggründen aus dem Leben scheiden wolle. In den seltensten Fällen liegt ein solcher endgültig gewollter Suizid vor. Ein solcher kalkulierter Suizid könnte als ‚Bilanzsuizid’ bezeichnet werden kann, ein Begriff, der auf Hoche zurückgeht. Nach dessen Auffassung geschieht ein Bilanzsuizid mit ausgeprägter Rationalität und ohne die Erwägung eines anderen Auswegs; jeglicher Zweifel an der Handlung ist „kühler und klarer Besonnenheit“ (Hoche, zitiert in Haenel 1989, 101) gewichen. Die Annahme, dass ein Mensch, der kurz davor steht, sich das Leben zu nehmen, jede Möglichkeit einer alternativen Reaktion bedacht hat, und aus freien Stücken geht, kann nur falsch sein, denn es gibt immer eine andere Lösung als sich umzubringen, wenn der Ausweg auch lange und beschwerlich ist. Nicht, dass es den ‚Freitod’ nicht tatsächlich gibt, doch die Wissenschaft geht davon aus, dass dies die Ausnahme ist. Holderegger schreibt dazu:
„Die suizidologische Forschung stellt nun keineswegs in Abrede, dass es den wirklich frei gewählten Tod und den aus einer nüchtern erstellten Lebensbilanz erfolgten Freitod gibt, doch jenseits von subtilen Unterscheidungen und Positionen um Krankheit und Freiheit geht die suizidologische Praxis davon aus, dass der Suizidgefährdete in der Regel im Augenblick nicht imstande ist, an seinem Leben festzuhalten, und dass es enormer pathologischer Tendenzen bedarf, um die vitalen Antriebskräfte zu überwinden“ (Holderegger, zitiert a.a.O. , S. 2) .
Man geht also davon aus, dass die Mehrzahl der Suizidenten sich vor der Suizidhandlung eben nicht eingehend mit der Abwägung zwischen Leben und Tod befasst hat, sodass der Akt der Selbsttötung nicht in fester Absicht geschieht, den körperlichen Tod tatsächlich zu bewirken. Dass der Suizid weder frei verübt wird, noch nach eindeutigem Entschluss geschieht, wird genauer im Abschnitt zum Suizidversuch (siehe S.53) betrachtet werden.
Aufgrund dieses Sachverhalts sehe ich in „Selbstmord“ und „Freitod“ Bezeichnungen, welche jeglicher sachlichen Argumentation entgegenstehen. Für sich stehend deuten sie bereits an, dass das allgemeine Verständnis über den selbst inszenierten Tod nicht ohne Probleme ist und es einer Sensibilisierung für die Ernsthaftigkeit des Themas bedarf. Sie stehen für eines von vielen Vorurteilen, welche die Suizidprävention belasten (vgl. Haenel 1989, 134/135). Ich ziehe aus diesem Grunde Begriff „Suizid“ vor und wähle für meine Ausführungen ebenso „Selbsttötung“, um auf diese Weise einen ersten Schritt zu tun auf dem Weg zu mehr Besonnenheit im Umgang mit der Problematik der Suizidalität.
1.2 Suizid als Phänomen unserer Gesellschaft
Der Suizid ist kein Phänomen unserer modernen Gesellschaft, sondern vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Aber hat sich unser Dasein nicht erheblich erleichtert im Laufe der Jahrhunderte? Leben wir nicht in Freiheit, in Luxus, ist das Leben im 21.Jahrhundert denn so beklagenswert, dass manche Menschen es zurückweisen müssen? Hatte die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten nicht sehr viel mehr gelitten unter Hunger, Kälte, Kriegen oder Tyrannei? Ich möchte die Annahme, dass das Leben heute wesendlich einfacher ist als in früheren Zeiten, nicht grundsätzlich widerlegen, doch können wir uns in erster Linie äußerlichen Annehmlichkeiten erfreuen. Auf psychosozialer Ebene, so behaupte ich, sind unsere Existenz und die Behauptung dieser schwieriger geworden. Ich möchte den Schwerpunkt der menschlichen Belastungen in einer enormen Schnelllebigkeit begründet sehen, welche durch ein gewandeltes und spannungsreiches Verhältnis von Individuum und Gesellschaft entsteht.
Seit Entstehung des Menschen hat sich dieser reproduziert, es wurde geboren und gestorben; ersteres mehr als letzteres, wodurch sich die Bevölkerung stark vermehrt hat und sich auf der ganzen Erde ausgebreitet hat. Auch in frühester Zeit sind Menschen nicht immer eines natürlichen Todes gestorben, Krankheit - man bedenke immer wiederkehrende Epidemien von Grippe oder Pest - und Unfälle rafften sie dahin. Gleichfalls haben Menschen immer schon einander getötet, zu tausenden in Kriegen, wie auch in Einzelfällen. Parallel dazu geschahen seit jeher Suizide. Schon in der griechischen Antike (ca. 440 v. Chr.) schrieb Sophokles über das Schicksal der Königstochter Antigone, welche trotz herrschaftlichen Verbotes den Leichnam ihres als Verräter verschmähten Bruders begräbt und dafür lebendig eingemauert wird. Sie nimmt sich das Leben und auch ihr Geliebter tötet sich daraufhin aus ihm unerträglichem Kummer und Kram. Antigones Tod wird zur Heldentat. Das eigene Leben als Tribut für die brüderliche Ehrerweisung.
Die folgende Nachrichtenmeldung dagegen gibt Zeugnis über eine Selbsttötung in unserer Zeit:
30.12.2004, 19.30 Uhr. ‚Hessenschau’ im Hessenfernsehen:
„Limburg. Die ICE-Strecke Köln-Frankfurt war am Donnerstagmorgen nach einem Freitod drei Stunden gesperrt. Ein älterer Mann hatte sich gegen 6.45 Uhr vor einen Schnellzug aus Montabaur geworfen, teilte die Polizei mit“.
Wie diese Meldung gehen täglich zahlreiche Berichte durch die Medien, doch nimmt man sie überhaupt richtig wahr? Begreift der Zuschauer des Nachrichtenberichts, der Leser der Zeitung, welche Tragödie hinter ‚Bahn erfasst Passanten’ steckt? So freizügig und ungebremst mit Themen, die noch vor wenigen Jahrzehnten bzw. Jahren kaum hinter vorgehaltener Hand angesprochen wurden, umgegangen wird, muss es wundern, dass, wenn ein Mensch sich dazu entschieden hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, geschwiegen wird, man peinlich berührt ist, oder möglicherweise - um ‚diskret’ mit diesen Schicksälen umzugehen - eine regelrechte Ignoranz an den Tag gelegt wird. Weshalb gibt es heute Meinungen, welche den sogenannten „Freitod“ als eine übermütige Reaktion abstempeln, als Zeichen fehlender Anforderungen in unserer Zeit? Geschehen Suizide aus reiner ‚Langeweile’, reinem ‚Übermut’, purer ‚Unanständigkeit’? Wie vielen Menschen wäre dann in diesem (engstirnigen) Sinne ‚langweilig’, wie vielen fehlte lediglich eine richtige ‚Lektion’, damit sie sich ‚zusammenreißen’. Suizid kann jeden treffen und genauso sollte jedem Menschen daran gelegen sein, etwas dagegen zu tun. Falsche Einstellungen zu Suizidenten dürfen nicht hingenommen werden.
1.3 Historisches zum Suizid
Die verurteilende Haltung
In der Geschichte der Menschheit hat es den Suizid immer schon gegeben, doch je nach Gesellschaftsform und ethischer Auffassung stand der Suizid stets zwischen der Ansicht auf Selbstbestimmungsrechts oder einer orthodoxen „moraltheologischen Überzeugung“ (Kaiser 1986, 30), zwischen Akzeptanz, wenn nicht gar Befürwortung auf der einen Seite und moralischer, kirchlich-weltlicher Verurteilung auf der anderen Seite. Aristoteles und Platon (um 400-350 v. Chr.) bekunden die strikte Ablehnung der Selbsttötung, da diese als Verstoß gegen die Götter angesehen wurde (Holderegger 1989, 128); zugleich erhielt der Suizid Zuspruch von Seiten der Stoiker, deren berühmtester Vertreter Seneca ihn als höchsten Ausdruck freiheitlichen Handelns des Menschen ansah (Microsoft Encarta Enzyklopädie 2003: Suizid). Bei den Konzilen von Arles 452 und von Prag 563 wurde der Suizid als Verbrechen verabscheut und als ein Beweis des Einflusses des Teufels, woraufhin die Verweigerung eines ehrenvollen Begräbnisses des Betroffenen beschlossen wurde (Durkheim 1973, 382) - diese harte Verurteilung hielt sich sehr lange, wie sich zeigen sollte. Im späten Mittelalter gibt Thomas von Aquin Zeugnis von der kirchlichen Ächtung der Tat: „Wer sich des Lebens beraubt, sündigt gegen Gott, so wie der, der einen Sklaven tötet, gegen den Besitzer des Sklaven sündigt“ (Otzelberger 1999, 23). Im 18.Jahrhundert überwog die Verurteilung des Suizids, wie sie von den Philosophen Kant und Hegel bekräftigt wurde, wohingegen zur etwa gleichen Zeit der schottische Kollege Hume die Selbsttötung als ein „der menschlichen Natur gestiftetes Recht“ (Holderegger 1989, 129) betrachtete.
Die Ahndung eines Suizids richtete sich sowohl gegen den Verstorbenen oder den Überlebenden als auch gegen die Angehörigen, obwohl diese - wie man annehmen sollte - durch Trauer und mögliche Selbstvorwürfe bereits genug Leid zu tragen hatten. Den Angehörigen wurde demzufolge das Erbe abgesprochen, was nach dem Wegfall der zur Familienernährung notwendigen Arbeitskraft des Suizidenten zusätzliche ökonomische Schwierigkeiten auslösen konnte. Adlige Familienmitglieder verloren ihren Status, Leichen wurden geschändet, indem man sie öffentlich aufhängen und ihrem Schicksal überließ, sie verbrannte, sie durchbohrte und ihnen grundsätzlich ein kirchliches Begräbnis verweigerte (siehe Otzelberger 1999, Durkheim 1973); im schlimmsten Fall bestrafte man die überlebenden Suizidenten damit, dass man sie hinrichtete.
Seit der Revolution wurde die staatliche Bestrafung der Tat in Frankreich abgeschafft, nachdem man diesen Schritt in Preußen bereits 1751 gemacht hatte, doch hielten sich die Sanktionen in Österreich bis 1850 und in England sogar bis 1961 (siehe z.B. Kaiser 1986, Pohlmeier 1980). Kaiser verweißt in diesem Zusammenhang daraufhin, dass in Italien, Japan, den Niederlanden, Spanien und auch Ungarn selbst bis vor wenigen Jahren die Beteiligung an einer Suizidhandlung unter Strafe stand. Hat sich denn in damaliger Zeit niemand Gedanken darüber gemacht, was die Beweggründe für eine solche Tat sind, hat niemand versucht, dieser widersprüchlichen und an Unmenschlichkeit kaum zu übertreffenden Bestrafung Einhalt zu bieten? In heutiger Zeit besteht neben Ignoranz gegenüber der Thematik eine völlig entgegengesetzte Stellung zum Wunsch des Sterbens.
Erlaubnis zur Selbsttötung?
Ob professionelle Auseinandersetzung oder Laienwissen - die Haltungen aus neuerer Zeit zur Problematik des selbstgesetzten Endes sind unterschiedlich geblieben. In der Literatur finden sich zahlreiche Abhandlungen darüber, ob der Suizid nun als ethischer Verstoß gilt oder es ein ‚Recht auf den Freitod’ gibt. Unter den Befürwortern des letzteren finden sich Joachim Wagner (1975) oder Julius Hackethal (1988), der den Suizid als selbstverständliches Menschenrecht ansieht. Bekannter ist Jean Améry (1976) welcher in seinem Werk ‚Hand an sich legen’ eine sehr radikale Haltung einnimmt und sich dafür ausspricht, dass dem Menschen das Recht auf ein Leben ohne Würde, Menschlichkeit und Freiheit zustehe. Wilhelm Kamlah (1976) spricht von einer moralischen Erlaubnis sich umzubringen, die jeder erhalte, dessen Leben überschwer geworden und weder zukünftig erfüllt sein wird, noch wiederherzustellen ist. Guillon und le Bonniec (1982) geben sogar eine ‚Gebrauchanweisung zum Selbstmord`, einem Buch, welches großen Aufruhr hervorrief. Darin fassen die Autoren die Selbsttötung als Widerstandsrecht gegen eine vom Leistungsdruck gekennzeichnete Gesellschaft, deren ‚ inhumane Zwangsmechanismen Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung nahezu vollkommen einschränkten. Es sei dahingestellt, ob man aus dieser Sicht heraus eine Anleitung zum Suizid schreiben darf, jedoch unterstreichen die beiden Autoren in ihrer Abhandlung, wie sehr die Gesellschaft durch die Schaffung widriger Umstände und gegenseitige Unterdrückung Verantwortung für den selbstbewirkten Tod eines Individuums hat. Vielen Fürsprechern ist gemeinsam, dass sie die Selbsttötung als Ausdruck von Freiheit darstellen. Hervorzuheben ist hierbei, dass diese Autoren zumeist schwer kranke Menschen im Blick haben, die nach medizinischer Abschätzung keine Hoffnung mehr auf gesundheitliche Besserung haben. Diese Situation stellt eine Sonderposition dar, die nicht übertragbar ist auf alle Suizidenten.
Ob der Suizid unheilbar kranker Menschen aus ethischer und moralischer Sichtweise vertretbar ist, werde ich an dieser Stelle nicht diskutieren, da diese Argumentation zu sehr von meinem Konzept anweichen würde. Durch die Ausführungen der Autoren wird jedoch klar, dass neue Problemkonstellationen und Betrachtungsweisen Haltungen aufbringen, die der lange währenden Verdammung entschieden entgegenstehen. Wie aber sollte die Suizidprävention dazu stehen? Ist die Lebenserhaltung eines zum Sterben entschlossenen nicht ein Verstoß gegen seine Würde, dem vielleicht einzigen, was ihm im Leben wertvoll (geblieben) ist?
1.4. Statistik
1979 gab es laut Pohlmeier (1980, 135) 1,5 Millionen Alkohol- und 60.000 Drogensüchtige in Deutschland und 600 Drogentote. Zahlen, die publik gemacht und in politischen und sozialen Diskussionsforen gründlich auseinander genommen werden. 14.000 Suizide würden dagegen nur marginal erwähnt, bemängelt der Autor. Es ist nun über 25 Jahre her, dass diese Anzeigen festgestellt wurden. Seit der seitdem vergangenen Zeit gibt es fast nichts, was sich nicht verändert hätte in unserer Welt. Dabei sind, wie unten stehend zu lesen, auch die Zahlen der Selbsttötungen zumindest ein wenig zurückgegangen. Nahezu gleich geblieben ist hingegen das öffentliche Schweigen zu dieser Thematik, welche eine nur geringfügige Lobby findet. Die Zeit, eine umfängliche Änderung einzuleiten, ist längst gekommen.
Eine genaue Statistik darüber, wie viele Menschen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben nehmen, liefert das statistische Bundesamt in Wiesbaden. Es verzeichnet folgende Fakten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt (www.gbe-bund.de); auch zu entnehmen auf:
www.neuhland.de/haupt/htmlip/in/df.htm
Diese Daten sprechen eine eindeutige Sprache. Sind die Suizidzahlen zwar insgesamt rückläufig, so bleiben sie dennoch von hoher Signifikanz. Denn zum einen bilden sie im Vergleich zu anderen nicht natürlichen Todesfällen eine recht beträchtliche Zahl. So starben im Jahre 2001 insgesamt 828.541 Menschen in Deutschland (siehe Geo-Magazin, 12/03), davon als ‚nicht natürliche Todesfälle’ verzeichnet 207.619 an Krebserkrankungen, 40.671 an Schlaganfall, Mord und Todschlag fielen 925 Menschen zum Opfer, durch Drogen kamen 1.835 Menschen ums Leben, durch Verkehrsunfälle 6.977. Und 11.156 gingen in jenem Jahr eigens verschuldet in den Tod, was nüchtern betrachtet ‚nur’ 1,35 % aller nicht altersbedingter Sterbefälle sind. Angegeben wird die Suizidrate für Deutschland mit 14,5 / 100.000, was eine ebenso ausdruckslose Ziffer ist. Doch auch wenn die Suizidrate vergleichsweise unscheinbar zu sein scheint, unterscheidet den Suizidenten eines ganz deutlich von allen andern Todesopfern: Den Tod kann man generell Gottes Willen, dem Schicksal oder auch Leichtsinn zuschreiben. Doch trifft das für eine Selbsttötung zu? Mitnichten, ein Suizid ist eine höchst emotionale und sensible Angelegenheit und kann nicht durch abstrahierte Maßnahmen eingegrenzt und aus der Welt geschafft werden. Man muss den Suizid anders als andere Sterbemöglichkeiten behandeln.
Geschlecht
Bezeichnend für die Statistik von Suiziden sind festgestellte Differenzen in Alter, Herkunft oder Geschlecht, um nur einige Beispiele der Forschungsschwerpunkte zu nennen. Wie aus oben stehender Tabelle des statistischen Bundesamts hervorgeht, suizidieren sich deutlich mehr Männer als Frauen, was kein länderspezifisches Phänomen ist. Man nimmt an, dass Frauen aufgrund ihrer engeren Bindung an Familie und Kinder stärker am Leben festhalten und davor zurückschrecken, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um für die Angehörigen da zu sein. Der Mann hingegen steht, wenn die traditionellen Familienstrukturen heutzutage auch nicht mehr allzu starr sind, deutlicher unter dem Druck, die Familie ernähren zu müssen (siehe Durkheim 1973) und kann sich in Anbetracht einer schlechten wirtschaftlichen Lage und eigener Arbeitslosigkeit - oder der Angst vor drohender - schnell als Versager fühlen. Männer trauen sich weniger als Frauen, öffentliche Hilfe zu suchen, wenn sie nicht weiter wissen, denn dies wird als Zeichen der Schwäche angesehen. Und das passt nicht ins Bild von einem ‚starken Mann’: „Männer sind es von Kindesbeinen an gewohnt, sich allein durchzubeißen. Sie wursteln lieber allein vor sich hin. Nur selten schließen sich Männer Selbsthilfegruppen an oder suchen von sich aus einen Therapeuten auf“ (Otzelberger 1999, 72). Der Schritt bis zur Selbsttötung ist dann nicht mehr weit. Marginal sei bemerkt, dass bei den Suizidversuchen hingegen die Zahl der weiblichen Personen der der Männer überwiegt, auch wählen Frauen weniger brutale Methoden, um in den Tod zu gehen.
Alter
Das Aufsehen bei Suiziden von Kindern und Jugendlichen ist besonders groß (siehe z.B. Biener 1984). Gedanken, dass ein Kind ‚doch noch sein ganzes Leben vor sich gehabt habe’ oder Fragen wie ‚was für Probleme hat das Kind in seinem Alter denn haben können?’ stehen dabei im Raum. Die offenbar erhöhte Tragik von Suiziden junger Menschen führt dazu, dass sich zahlreiche Autoren dieses besonderen Phänomens annehmen (siehe z.B.: Bründel 1993, Ide 1992, Jochmus 1983, Käsler-Heide 2001, Klosinski 1999. Die betonte Aufmerksamkeit ist berechtigt, da der Kindersuizid ein noch größeres Entsetzen hervorrufen mag angesichts der Annahmen von Kinderpsychologen, dass Kinder vor dem neunten Lebensjahr nicht einmal wirklich begreifen können, dass der Tod nicht ungeschehen gemacht werden kann und endgültig ist (Otzelberger 1999, 52)
Doch was ist mit dem Suizid von alten Menschen (siehe hierzu Teising 1992; Trube-Becker 1986)? Suizidprävention kann sich nicht nur um Kinder kümmern, da diese ‚so jung und unschuldig’ sind. ‚Unschuldig’ ist im übrigen jeder Suizident, gleich welchen Alters.
Anteilig an den Suizidraten stellen ältere Menschen die größte Altersgruppe dar. 1997 waren 36% (4398 / 12256) aller Suizidenten in Deutschland über 60 Jahre alt (a.a.O., 141). Und dies, obwohl Frauen in diesem Alter nur 25% der Bevölkerung ausmachen, Männer sogar nur 15%. Gerade bei Suiziden älterer Menschen muss eine hohe Dunkelziffer angenommen werden, welche laut Otzelberger ‚stille Suizide’ (ebd.) genannt werden: Essensverweigerung, Medikamentenverweigerung oder falsche Dosierung, Sich-Versperren gegen sonstige Behandlungen. Nach einer suizidalen Handlung eines alten Menschen zu sagen, ‚er / sie hätte eh nicht mehr lange zu leben gehabt’ ist abstoßend, denn auch unsere älteren Mitbürger haben das Recht zu leben. Wenn einer unsere Mitmenschen sein Leben beenden möchte, weil er das Gefühl hat, er sei ungeliebt und finde nicht seinen Platz in unserer Mitte, so ist es egal, ob er alt oder jung ist, dann sollte alles daran gesetzt werden, ihn nicht gehen zu lassen und ihm langfristig Behaglichkeit am Dasein aufzeigen.
1.5 Risikokonstellationen
Weitere nennenswerte Merkmale suizidaler Handlungsmuster verkörpern bestimmte Risikokonstellationen. Experten auf dem Gebiet der Suizidforschung und -prävention gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und Gemeinschaften ein erhöhtes Risiko der Selbstgefährdung darstellt. Ringel (1981, 65ff.) nennt hier
Alte Menschen
Unheilbar chronisch Kranke
Süchtige
Verfolgte
Flüchtlinge
Landflüchtige
Kriminelle
Menschen in Ehe- und Partnerkrisen
Menschen in sozialen Notlagen
Junge Menschen (Kindheitstrauma ® hohe Versuchsrate)
Suizidentenangehörige (gelernter Suizid) und
Menschen, die bereits einen Suizidversuch hinter sich haben.
Diese Risikogruppen tauchen in der Literatur immer wieder auf (z.B.: Haenel 1989, Otzelberger 1999). Sie haben eines gemeinsam: Sie sind sozial isoliert, Außenseiter. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie sich selbst von ihrer Außenwelt abgekapselt haben oder aber in ihre Randposition hineingedrängt wurden. Viele dieser Menschen haben überhaupt keine Chance, aus ihrem Käfig auszubrechen, da die sie zurückdrängenden Widerstände Umstände durch hartnäckige Vorurteile – insbesondere etwa gegen Kriminelle, gegen Landflüchtige (Ausländer / Asylanten) oder Süchtige (Alkoholiker / Drogenabhängige) – verstärkt werden.
Als weitere Belastungen, welche im Zusammenhang mit Selbsttötungsabsichten bestimmter Menschengruppen stehen, werden vielfach Inhaftierung oder das Leben in Großstädten aufgelistet – beides birgt Gefahr der Isolation. Angehörigen bestimmten Berufsgruppen wie Ärzte, sowie Studenten spricht man ebenso ein erhöhtes Suizidrisiko zu (vgl. Haenel 1989, S.51); Studenten sind offenbar gefährdeter, da sie unter weit größerem Leistungsdruck stehen als ihre Altersgenossen.
Psychisch Kranke
Eine Sonderstellung nehmen psychisch Kranke ein, welche einer hohen Gefährdung für Suizidhandlungen ausgesetzt sind. Auf eine genaue Aufführung psychischer Krankheitsbilder soll hier verzichtet werden. Wichtig ist, dass den Betroffenen aufgrund ihrer Erkrankung zumeist jegliches Potenzial fehlt, sich selbst gegen Hilflosigkeit im Angesicht persönlicher Schicksalsschläge zu schützen. Bei Depression besteht Haenel zufolge eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung, da diese Menschen grundsätzlich alles schwarz sehen; Suizide werden dabei vor allem in Phasen der Besserung oder Verschlechterung des seelischen Zustandes verübt, da in akuten Phasen der Depression die eigene Verzweiflung weniger bewusst zu sein scheint (a.a.O., 52). Menschen mit psychischen und seelischen Problemen als Pädagoge im Rahmen der Suizidprävention zu helfen, ist problematisch, denn den Ernst der Lage zu erkennen wird dadurch erschwert, dass die Betroffenen mit allen Mittel versuchen, ihre Krankheit zu verbergen, was besonders bei depressiver Symptomatik der Fall ist (siehe Ringel 1981). Ohne Medizinische Überwachung ist Hilfeleistung hier kaum möglich (1997).
1.6 Motive
Die Suizidologie befasst sich darüber hinaus mit zahlreichen Faktoren, welche der Anstoß für eine Verzweiflungstat sein und zum Suizid führen könnten. Kaiser schreibt, dass etwa Arbeitslosigkeit nicht als alleiniger Grund betrachtet werden kann, der einen Menschen dazu bewegt, sich das Leben zu nehmen (siehe Kaiser 1986). Zusammenhänge zwischen Suizidrate und Religionszugehörigkeit scheinen schon nach Durkheims Aussage nur scheinbar zu bestehen, Auswirkungen von Familienstand, Beruf, Bevölkerungsdichte, Klima, Lebensstandart sind ebenso nicht unangreifbar aufrechtzuerhalten (siehe z.B. Durkheim 1973, Ringel 1981). Haltbarer sind hingegen angenommene Auswirkungen zerrütteter Familien, welche besonders belastend auf Jugendliche wirken können, der Verlust sozialer Kontakte im allgemeinen, Pensionierung oder Verlust des oder Trennung von Ehepartner (Kaiser 1986).
Angst vor Ächtung und Verzweiflung über einen Prestigeverlust und damit verbundener Machtminderung (Mergen 1986, S.62) kann nach Mergens Aussage besonders von jungen Menschen derart Besitz ergreifen, dass es sie zum Suizid treibt. Das Fehlen von geeigneten Vorbildern erschwert die Mühen, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden und einen „fundierten Status“ (ebd.) zu erhalten. Suizide von Kindern und Jugendlichen sind daher insofern dramatisch, als in diesem Alter die wenigsten Chancen bestehen, Problemen, gerade wenn sie von der Erwachsenenwelt erzeugt werden, aus dem Weg zu gehen, da die Jugendlichen noch stark von den Erwachsenen abhängig sind. Nimmt man also an, dass der Suizid eines Jugendlichen durch soziale Faktoren ausgelöst wurde, so liegt das Entsetzen über die Selbsttötung eines jungen Menschen nicht in seinem Alter begründet, sondern darin, dass er sich vermutlich weniger gegen von außen auf ihn einwirkende Belastungen wehren konnte als ein Erwachsener, welcher zumindest im rechtlichen Sinne als Volljähriger und –mündiger größere Unabhängigkeit genießt. Auch wenn meines Erachtens nach, wie oben geschildert, der Suizid Alter Menschen nicht weniger entsetzlich ist als ein Kindessuizid, so ist aus dieser Sicht doch nachvollziehbar, warum letzterer – feststellbar an der großen Zahl an Publikationen und Medienreaktionen – mehr Aufmerksamkeit erregt.
1.7 Theorien
Neben der Feststellung dieser individuellen Motive haben die Wissenschaftler allgemeine Theorien verfasst, weshalb sich ein Mensch das Leben nimmt.
Die Aggressionstheorie
Diese Theorie ist ein von Sigmund Freud und Karl Abraham erstelltes psychodynamisches Modell. Es besagt, dass ein Suizid durch angestaute Aggressionen begangen werde, welche nicht nach außen getragen werden können und gegen die eigene Person gerichtet werden. Die „Rachetendenz an anderen“ wendet sich gegen sich selbst, sodass von einer „Implosion“ (Ringel 1981) gesprochen werden kann . Obliegt in einem „Ambivalenzkonflikt zwischen Liebe und Hass“ (Haenel 1989, S.90 / Pohlmeier 1986, S.325) Hass, so kann es kommen, dass der Betroffene ein großes Schuld- und Strafbedürfnis entwickelt, welches zu Selbstschädigungen führt.
Die Narzissmustheorie
Nach dieser Doktrin liegt beim Suizidenten ein gestörtes „sogenanntes narzisstisches Gleichgewicht zwischen Idealvorstellung und realer Erfahrung“ (Pohlmeier 1986, 326) vor. Grundlage ist ein stark geschädigtes Selbstwertgefühl, welches zu inneren Konflikten führt, welche wiederum das seelische Gleichgewicht zerstören. Alles erscheint zwecklos, eine steigende Verdüsterung gibt den Weg frei für den letzten Gedanken, sich das Leben zu nehmen.
Die Lerntheorie
Nach der Lerntheorie sind Suizid und Suizidverhalten gelernte Reaktions- und Verhaltensweisen. Die betroffene Person hat in ihrer Erziehung keine Strategien der Konfliktbewältigung vermittelt bekommen, sondern musste erleben, wie generell versucht wurde, Schwierigkeiten durch Suizidhandlungen aus dem Weg zu gehen. An dieser Stelle kommt die Frage auf, ob Pädagogen in der Schule die Hilflosigkeit eines Schülers mit solch prekärem familiären Hintergrund nicht wahrnehmen müssten und was von Lehrerseite unternommen - oder auch nicht unternommen wird -, um belasteten Schülern über den Unterrichtsrahmen hinaus zu helfen.
Die Medizinische Theorie
Ringel (1957) bezeichnet den Suizid als „Abschluss einer krankhaften Entwicklung“, welche Neorosen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und dergleichen mehr umfasse. Vor allem Depressionen werden medikamentös behandelt, da sie auf einem Mangel an Neurotransmittern wie Adrenalin, Dopamin und Serotonin beruht (Pohlmeier 1986, 324). Diese Theorie nahm in früherer Zeit einen falschen Totalitätsanspruch (ebd.) ein und man muss ihr vom heutigen Standpunkt aus distanziert entgegentreten. Denn hebt man sie über alle anderen den Suizid fördernde Faktoren, erschwert man die Arbeit der aktiven Suizidprävention erheblich. Warum die Annahme, Suizide geschähen zumeist oder ausschließlich unter Einfluss einer psychischen Erkrankung, unzulässig ist, möchte ich im folgenden durch Ausführungen von Sonnek/Schjerve (1986) näher darstellen.
1.8 Kritik an der Krankheitsthese des Suizids
Dass Ringel den Suizid als den Abschluss einer psychischen Entwicklung beschreibt, ist eine Annahme, die erklären könnte, warum die Thematik des selbstgewählten Todes nicht offen und in der Absicht, Abhilfe zu leisten, behandelt wird: man sieht im Suizidenten einen Patienten, mit welchem sich nur ein Arzt befassen muss, sodass eine eigene Involviertheit nicht in Betracht gezogen werden muss. Die Annahme, dass hinter einer suizidalen Handlung eine Krankheit steht, ist, wie Sonnek und Schjerve betonen, zwar ein wichtiger Bestandteil der Suizidforschung, verschleiert aber weitere Gründe, aus denen ein Mensch Suizid begehen kann, und birgt ein hohes Risiko negativer Auswirkungen auf eine zuwendungsvolle Suizidprophylaxe. Hierzu sagt Sonnek:
„Um gezielte und effektive Hilfe zu gewährleisten, das heißt, die richtige Hilfe dem richtigen Problem zuzuordnen, ist es notwendig, die Vorstellung zu revidieren, dass Suizidgedanken, Suizidankündigungen und Suizidversuche Entwicklungsstadien einer pathologischen Entwicklung hin zum Suizid sind“ (Sonnek 2000, 153).
Wenn Suizidalität grundsätzlich mit Krankheit assoziiert wird, so Sonnek und Schjerve, besteht die Gefahr, dass dies den Betroffenen davon abhält, sich Hilfe zu suchen, sei sie professioneller Art oder lediglich durch persönlichen Beistand geprägt. Aufgrund einer solchen Stigmatisierung ist es möglich, dass eine soziale Isolation, in der sich der Suizident oftmals befindet, verstärkt und das Selbstwertgefühl gemindert wird. In diesem durch Angst und Unsicherheit geprägten Zustand wird es schwierig, zum Betroffenen zu finden und für ihn da zu sein, und damit auch letztlich, die Ausübung der Suizidvorstellung zu verhindern.
Die Krankheitsthese blendet zudem soziologische Faktoren aus, die das Leben des Betroffenen ausmachen. Es wird sich zu sehr auf die kurzfristige Suizidverhinderung gestützt, dagegen die Möglichkeiten und Ressourcen übersehen, die vorhanden sein und für eine vorteilhafte Veränderung der Lebensumstände stehen können. Meines Erachtens nach gibt es diesen Defizitblick nicht nur in der Suizidprävention, sondern in vielen Bereichen der Pädagogischen Arbeit, wie der Behindertenbetreuung, der Förderung lernschwacher Kinder oder der Resozialisierung von Inhaftierten. Die professionelle Hilfeleistung schränkt sich selbst ein, indem sie sich ihrer Möglichkeiten, Hilfe fruchten zu lassen, selbst beraubt. Wenn lediglich eine Momentaufnahme vom Zustand des Betroffenen gemacht wird, so beschränkt sich die (pädagogische) Hilfeleistung auf ein allzu geringes Ausmaß.
Sonnek und Schjerve machen auf ein weiteres Problem aufmerksam: Geht man davon aus, dass Suizidalität grundsätzlich eine Krankheit ist, impliziert dies - wie schon angedeutet - ausschließlich die Zuständigkeit medizinischer Betreuung. Dies trifft allerdings nicht zu, und eine effektive Suizidprävention muss sich nicht nur mit dem Individuum als Betroffenen befassen, sondern ebenso mit den Gesellschaftsbedingungen, denn Suizidalität ist nicht nur ein individuelles, sondern ein soziales Problem. Letztlich ist die Krankheitsthese insofern problematisch, als sie einen idealtypischen Verlauf einer nicht unterbrochenen Entwicklung von Suizidgedanken über die Ankündigung bis zur Ausübung des Suizids voraussetzt, welche in der Regel selten so klassisch nachzuvollziehen ist.
Das von Erwin Ringel erdachte Konzept des präsuizidalen Syndroms ist nicht falsch und ein wichtiges Instrument, um vom auffallenden Verhalten eines Betroffenen auf eine mögliche Gefährdung seiner selbst und somit auf eine verhängnisvolle Tat zu schließen. Oder im umgekehrten Falle, um eine ‚normale’ Lebenskrise mit einer harmlosen und vorübergehenden Vorstellung vom eigenen Tod, mit dem sich ein Mensch, da er nun einmal nicht ewig auf der Erde weilen wird, früher oder später erkennen muss, von ernsten Suizidgedanken zu differenzieren und eine wirkliche Selbsttötung auszuschließen. Ungefährlich sind kurzweilige Suizidgedanken daher, da man davon ausgehen kann, dass jeder Mensch einmal im Leben solche Gedanken hat (a.a.O., 150). Es darf, so unterstreichen Sonnek und Schjerve, keineswegs ausschließlich die Annahme eines medizinischen Falls bestehen, da diese die Behandlung des Suizidenten allein in die Hände von Medizinern lege. Dabei ist meines Ermessens nach zu ergänzen, dass die gesamte Suizidprävention darauf angewiesen ist, dass alle Zuständigen des Suizidenten - Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Fürsorger, eventuell Polizeibeamte, genauso die Angehörigen - zusammenarbeiten, um die Erkenntnisse über die Selbsttötung weiter voranzubringen und alle Möglichkeiten zu erschließen, die dabei helfen können zu verhindern, dass sich ein Mensch aufgibt und das Leben nimmt.
Wenn aufgrund falscher Theorien die Verantwortlichkeit lediglich einer bestimmten Gruppe von Helfern übertragen wird, so hat die Suizidprävention keine Chance. Aus der Sicht der Verzweifelten scheinen die Ressourcen für eine unbeschwertes Lebensführung ohnehin äußerst gering, sodass nicht darüber hinaus die Möglichkeiten der Hilfeleistung eingeschränkt werden dürfen, gerade wenn der Betroffene bereits einen großen Schritt getan hat und sich professionellem Beistand gegenüber öffnen möchte. Die Annahme, jeder Suizidgefährdete sei krank und man könne und müsse diese Krankheit mit Medikamenten beseitigen, ist folglich falsch und bringt Ignoranz, Unwissen und eine Vorurteilshaltung zum Ausdruck. Die Krankheitsthese des Suizids trifft auf jene Suizidenten zu, bei welchen zweifelsfrei eine psychische Erkrankung vorliegt. Sie kann dennoch nicht verallgemeinert werden.
Treffen überdies Narzissmus-, Aggressions- und Lerntheorie nicht auf alle Menschen zu, die Hand an sich legen, so muss eine weitere Theorie aufgestellt werden, die zu verstehen gibt, warum Suizide geschehen. Dieser weiteren Theorie widme ich große Aufmerksamkeit, da ich sie als Hintergrund und Wegweiser pädagogischen Engagements in der Suizidprävention sehe.
Die Soziologische Theorie
Durkheim suchte in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Suizid (‚Le Suicide’) die Ursache einer Selbsttötung in gesellschaftlichen Beziehungen und gilt als Begründer der soziologischen Suizidtheorie. Er erklärt die empirisch erfassten Suizidraten als Indikatoren des Gesellschaftszustands und macht darauf aufmerksam, dass sie konstanter seien als die allgemeine Sterbeziffer. Durkheim bestreitet nicht, dass Schicksalsschläge verheerend auf menschliche Empfindungen wirken können, doch „es gibt kein Unglück im Leben, dass den Menschen unbedingt zum Selbstmord veranlasst, wenn er nicht aus anderen Gründen schon dazu neigt“ (Durkheim 1973, 345f.). Durkheim ist der Meinung, dass die Gesellschaft normalerweise Schranken schaffe, welche den Lebensspielraum des Lebens eines jeden Individuums bestimmen und welche ein Zuviel oder ein Zuwenig ausschließen (vgl. a.a.O., 273), das heißt, jede Art von Überheblichkeit oder Gleichgültigkeit sanktionieren. Dazu ist notwendig, dass der Einzelne in geeigneter Weise der Allgemeinheit unterliegt. Wenn die Bindung des Individuums an die Gesellschaft zu eng ist, so entsteht nach Ansicht soziologischer Forscher ein starker Normdruck und dem Individuum stehen zu geringe Entfaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Lebt der Einzelne dagegen in sehr großer Unabhängigkeit, besteht die Gefahr der Isolierung, in der Orientierungen fehlen und soziale Unterstützung im Bedarfsfall ausbleibt. Ist der Mensch in seinen Entscheidungen und seiner Lebensgestaltung generell frei, benötigt er dennoch ein Netzwerk, welches ihm Richtlinien aufweist, die er zur Erhaltung seiner selbst und der Gesellschaftsordnung beachten muss.
Das Bewusstsein, dass der Suizid eines einzelnen Menschen mehr als ein individuelles Problem ist, ist meines Erachtens nach das wichtigste Motiv der Suizidprävention, ob sie vom Laien oder Professionellen ausgeübt wird, „denn die Individuen sind viel zu sehr in die Gesellschaft verstrickt, als dass diese krank und sie gesund sein könnten“ (a.a.O., 238). Vielfach nennen Autoren spannungsreiche oder fehlende Relationen zwischen den Menschen als Grund für ein Scheitern im Leben. Haenel verdeutlicht kurz und prägnant: „Unter den bewussten Motiven sind an erster Stelle Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich zu nennen“ und „alle Statistiken stimmen darin überein, dass im Rahmen der bewussten Suizidmotive Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich zahlenmäßig an erster Stelle stehen“ (Haenel 1989, 20). Ein bewusstes Motiv mag scheinbar in einem dem Suizid vorausgegangenen persönlichen Unglück liegen, doch meist ist dieses Geschehen lediglich der Auslöser der Tat in nicht die eigentliche Ursache. Diese liegt im Tieferen verborgen.
Den Zusammenhang zwischen Individuum und seiner sozialen Umwelt werde ich genauer betrachten und weitere Hinweise dafür suchen, dass diese Verbindung und vor allem sich daraus ergebende Spannungen Selbsttötungen begünstigen können.
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