In der langen Geschichte Russlands und der Sowjetunion gibt es eine Vielzahl wichtiger Ereignisse und damit verbundener historischer Zäsuren. Die Oktoberrevolution 1917, der große Vaterländische Krieg 1941 bis 1945 oder auch die von Gorbatschow geprägten Perestroika und Glasnost und der damit zusammenhängende Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems im Jahre 1989. Bei einer solchen Aufzählung historischer Ereignisse werden jedoch oft die Geschehnisse und Veränderungen, die unmittelbar nach Stalins Tod einsetzten, vernachlässigt. Zieht man wissenschaftliche Gesamtdarstellungen über die russische und sowjetische Geschichte heran, nimmt die nach dem wichtigsten Politiker jener Zeit benannte „Ära Chruschtschow“ oft nur wenige Seiten ein. Dabei haben die Reformen, die jedoch nicht alleine mit den Namen Chruschtschow verbunden werden können, gerade für die einfache Bevölkerung spürbare Verbesserungen der Lebensbedingungen bewirkt und dürften somit positiv in dem Gedächtnis der Arbeiter und Bauern verblieben sein. Aus eben diesem Grunde scheint es mir wichtig, sich einmal genauer mit den Jahren 1953 bis 1964 auseinander zusetzten. Diese Zeitepoche wird in der Literatur oft als eine Periode der „Entstalinisierung“ bezeichnet....
Große Bedeutung bei der Aufarbeitung des stalinistischen Terrorsystems wird dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 in Moskau entgegengebracht. Chruschtschow hielt seine berühmte „Geheimrede“, in welcher er mit den Verbrechen der stalinistischen Zeit, aber auch mit dem Stalin selbst, dessen Fehlern und dem mit ihm verbundenen Personenkult, abrechnete. Durch diesen geschickten Schachzug rückte Chruschtschow sich selbst in den Focus der Entstalinisierungsbemühungen. Die Reformen, die bereits vorher von Malenkow und Berija ins Rollen gebracht worden sind, scheinen in den Hintergrund zu treten. Hier schließen sich nun die zentralen Fragen an, die sich wie ein roter Faden durch diese Arbeit ziehen werden: Werden die Bemühungen und Maßnahmen Chruschtschows nicht überschätzt? Und welche Motivationen verfolgte Chruschtschow mit seiner Reformpolitik? War sie Ausdruck eines wirklichen Bemühens der Aufarbeitung der Verbrechen seines Vorgängers und dem Versuch die Lebensbedingungen der einfachen Menschen im Sowjetreich einwenig erträglicher zu machen? Oder war die Reformpolitik ein Teil der Politik, die Chruschtschow einsetzte um seine Macht zu sichern und auszubauen?
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Grundlagenforschung
- II. 1. Definitionen „Entstalinisierung“ und „Tauwetter“
- II. 1. 1. Definition „Entstalinisierung“
- II. 1. 2. Definition „Tauwetter“
- II. 2. Aktueller Forschungsstand
- III. Nach Stalins Tod - Der Beginn einer neuen Epoche?
- III. 1. Das Prinzip der „kollektiven Führung“
- III. 2. Erste Reformbemühungen: Die frühen Reformer Berija und Malenkow
- III. 2. 1. Berija als Initiator
- III. 2. 2. Nach Berija - Malenkow setzt den „Neuen Kurs“ fort
- III. 3. Chruschtschows Aufstieg
- III. 4. Reformen unter Chruschtschow
- III. 4. 1. Der XX. Parteitag der KPdSU
- III. 4. 2. Der XXII. Parteitag der KPdSU
- III. 4. 3. Sonstige Reformen
- IV. „Entstalinisierung“ durch Stalinisten?
- V. Schlussbetrachtungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Zeit unmittelbar nach Stalins Tod, die in der Literatur oft als Periode der „Entstalinisierung“ bezeichnet wird. Sie setzt sich zum Ziel, die Frage nach der tatsächlichen Existenz und Tragweite der „Entstalinisierung“ zu beleuchten, indem sie die Reformen und Maßnahmen der „kollektiven Führung“ sowie die Reformpolitik Chruschtschows analysiert. Die Arbeit hinterfragt, inwieweit diese Reformen tatsächlich eine Abkehr vom Stalinismus darstellten oder ob sie lediglich eine Anpassung des Systems an die veränderten Bedingungen waren.
- Definition und Interpretation des Begriffs „Entstalinisierung“
- Analyse der „kollektiven Führung“ und der internen Machtkämpfe nach Stalins Tod
- Bewertung der Reformen von Berija und Malenkow
- Chruschtschows Aufstieg und seine Reformpolitik
- Kritik an der „Entstalinisierungspolitik“ und die Frage nach ihrer wahren Motivation
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema „Entstalinisierung“ ein und stellt die zentralen Fragestellungen der Arbeit vor. Sie beleuchtet die Relevanz der Thematik, die oft vernachlässigte Zeitspanne nach Stalins Tod und die widersprüchlichen Interpretationen des Begriffs „Entstalinisierung“.
Das Kapitel „Grundlagenforschung“ widmet sich der Definition der Begriffe „Entstalinisierung“ und „Tauwetter“. Es analysiert die verschiedenen Perspektiven auf die Entstalinisierung als Prozess und als Zustand der Gesellschaft und beleuchtet den aktuellen Forschungsstand zum Thema.
Das Kapitel „Nach Stalins Tod - Der Beginn einer neuen Epoche?“ befasst sich mit den ersten Monaten nach Stalins Tod und analysiert das Prinzip der „kollektiven Führung“ sowie die ersten Reformbemühungen von Berija und Malenkow. Es untersucht die internen Machtkämpfe und die Veränderungen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben.
Das Kapitel „Reformen unter Chruschtschow“ beleuchtet die Reformen, die unter Chruschtschows Führung durchgeführt wurden. Es analysiert den XX. und XXII. Parteitag der KPdSU, Chruschtschows berühmte „Geheimrede“ sowie weitere Reformmaßnahmen in verschiedenen Bereichen wie Landwirtschaft, Wirtschaft und Sozialpolitik.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den zentralen Themen „Entstalinisierung“, „Tauwetter“, „kollektive Führung“, „Reformpolitik“, „Chruschtschow“, „XX. Parteitag“, „XXII. Parteitag“, „Stalinismus“, „Sowjetunion“, „Geschichte“, „Politik“ und „Gesellschaft“. Die Arbeit analysiert die Kontroversen um die wirkliche Tragweite der „Entstalinisierung“ und untersucht, ob diese als Abkehr vom Stalinismus oder als dessen Anpassung an neue Bedingungen zu betrachten ist.
- Quote paper
- M.A. Marc Brandstetter (Author), 2004, Entstalinisierung - Mythos oder Wirklichkeit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52184