Einleitung
„Une rose n’ est pas une rose.“ Diese Feststellung des französischen Dichters Mallarmé beschreibt treffend, was auch Kernpunkt dieser Arbeit ist: mit dem Wort ‚Rose’ verhält es sich genauso, wie mit dem Wort ‚Krankheit’. Eine Rose ist nicht gleich der anderen. Das Wort ‚Rose’ allein beschreibt nicht deren Aussehen, Farbe, Blüte, Größe, Form etc.
Auch das Wort ‚Krankheit’ allein gibt keinen Aufschluss über die Definition von ‚Krankheit’, was ‚Krankheit’ ist, ab wann ein Mensch krank, wann er noch als gesund bezeichnet wird, was Zeichen von Krankheit ist, wie ihr begegnet wird, was zu ihrer Bekämpfung getan werden kann, wer zur Heilung zu Rate gezogen wird und wie mit dem Kranken umgegangen wird.
Wird ‚Krankheit’ in einem kulturübergreifenden Zusammenhang gebracht, sind die Inhalte und Konnotationen von ‚Krankheit’ möglicherweise so unterschiedlich, dass Irritationen entstehen können.
Mit diesen Irritationen, bezogen auf die Arzt-Patientenbeziehung, befasst sich folgende Arbeit.
Die Begründung der Irritationen zwischen ausländischem Patienten und deutschem Arzt durch kulturelle Unterschiede allein, wäre eine zu einseitige Beleuchtung der Thematik. Deswegen werden weitere Problemebenen erfasst, wobei nicht migrantenspezifische Themen kurzgefasst sind, jedoch der Vollständigkeit halber angerissen werden, um einen Einblick zu gewähren.
Leitende Fragestellungen dieser Arbeit sind:
Haben Migranten besondere Bedürfnisse, die bei der Behandlung durch den niedergelassenen Arzt beachtet werden sollten? Worin begründen sich diese Bedürfnisse?
Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zunächst in den Kapiteln 1 und 2 eine theoretische Basis gelegt wird. Um den Umfang der Arbeit einzugrenzen, ist die Zielgruppe nicht ausländische Patienten allgemein, sondern türkische Patienten. In den Kapiteln 3 und 4 wird die Ziel gruppe eingehend beschrieben und auf das traditionelle türkische Krankheitsverständnis eingegangen. Dieses Vorwissen ist nötig, um dann in den folgenden Kapiteln 5 – 8 mögliche Irritationen eingehend darlegen und erörtern zu können. Aus der Gesamtheit der Arbeit kann dann eine Konklusion und Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden (Kapitel 9 und 10). Diese zeigen auf, worin Möglichkeiten liegen können, die medizinische Behandlung von Migranten in der ärztlichen Praxis und somit den gesundheitlichen Status zu verbessern. Erarbeitet wurden diese Konklusion und die Hinführung zu dieser durch Literaturrecherche und –analyse.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1. Migration und Krankheit – theoretische Aspekte
1.1 Migration
1.2 Migranten
1.3 Gesundheit
1.4 Krankheit
1.4.1 Krankheit und Kultur
1.4.2 Krankheit und soziale Lage
1.4.3 Bedeutung von Krankheit in der Gesellschaft
1.5 Subjektive Krankheitstheorien
1.6 Ursachenvorstellungen bezüglich Krankheit
2. Migration – ein pathogener Faktor?
2.1 Stand der Forschung
2.2 Medizin-soziologische Theorien
2.2.1 Selektionshypothese
2.2.2 Kulturschocktheorie
2.2.3 Akkulturationstheorie
2.2.4 Weitere medizin-soziologische Theorien
2.3 Fazit aus Kapitel 1 und 2
3. Die Türkei
3.1 Türkisch–deutsche Migration
3.1.1 Phasen der Arbeitsmigration
3.2 Soziale Lage türkischer Migranten in Deutschland
3.2.1 Bildungssituation
3.2.2 Arbeitssituation
3.2.3 Sprachsituation
3.2.4 Wohnsituation
3.2.5 Gesundheitliche Situation
3.3 Die drei Generationen
3.4 Fazit
4. Gesundheit und Krankheit in der Türkei
4.1 Formeller und informeller Sektor
4.2 Bedeutung von Krankheit
4.3 Aspekte traditioneller türkischer Krankheitsvorstellungen
4.3.1 ‚Nazar’- der böse Blick
4.3.2 ‚Cinler’- böse Geister
4.3.3 ‚Büyü’- schwarze Magie
4.3.4 Heilerpersönlichkeiten
4.3.4.1 ‚Hoca’- der Korankundige
4.3.5 Die Bedeutung von Blut
4.3.6 Die Bedeutung von Medikamenten
4.4 Fazit
5. Interkulturelle Irritationen beim Arzt
6. Die Sprachbarriere
6.1 Folgen der Sprachbarriere
6.2 Folgen für die compliance
6.3 Dolmetschen in der ärztlichen Praxis
6.4 Fazit
7. Kulturelle Missverständnisse
7.1 Unterschiedliche Krankheitsverständnisse im Sprechstundengespräch
7.1.2 Folgen unterschiedlicher Krankheitsverständnisse
7.1.3 Folgen für die compliance
7.2 Die Symptompräsentation
7.2.1 Irritationen im Bereich Symptompräsentation
7.3 Psychische Krankheiten
7.4 Kommunikation im Arzt-Patientengespräch
7.5 Erwartungen an den Arzt
7.5.1 Einverständnis im Missverständnis
7.6 Fazit
8. Irritationen aufgrund der sozialen Lage
8.1 Das Arzt-Patientengespräch in Bezug zur sozialen Lage
8.2 Fazit
9. Ergebnisse
9.1 Folgen der Problemebenen
9.2 Gesamtfazit
9.3 Lösungswege
10. Spezifische Versorgungsangebote: Das Gesund- heitszentrum für Migrant/Inn/en in Köln
11. Literaturverzeichnis
12. Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
13. Abkürzungsverzeichnis
14. Weiterführende Literatur
Eidesstattliche Erklärung
Einleitung
„Une rose n’ est pas une rose.“ Diese Feststellung des französischen Dichters Mallarmé beschreibt treffend, was auch Kernpunkt dieser Arbeit ist: mit dem Wort ‚Rose’ verhält es sich genauso, wie mit dem Wort ‚Krankheit’. Eine Rose ist nicht gleich der anderen. Das Wort ‚Rose’ allein beschreibt nicht deren Aussehen, Farbe, Blüte, Größe, Form etc.
Auch das Wort ‚Krankheit’ allein gibt keinen Aufschluss über die Definition von ‚Krankheit’, was ‚Krankheit’ ist, ab wann ein Mensch krank, wann er noch als gesund bezeichnet wird, was Zeichen von Krankheit ist, wie ihr begegnet wird, was zu ihrer Bekämpfung getan werden kann, wer zur Heilung zu Rate gezogen wird und wie mit dem Kranken umgegangen wird.
Wird ‚Krankheit’ in einem kulturübergreifenden Zusammenhang gebracht, sind die Inhalte und Konnotationen von ‚Krankheit’ möglicherweise so unterschiedlich, dass Irritationen entstehen können.
Mit diesen Irritationen, bezogen auf die Arzt-Patientenbeziehung, befasst sich folgende Arbeit.
Die Begründung der Irritationen zwischen ausländischem Patienten und deutschem Arzt durch kulturelle Unterschiede allein, wäre eine zu einseitige Beleuchtung der Thematik. Deswegen werden weitere Problemebenen erfasst, wobei nicht migrantenspezifische Themen kurzgefasst sind, jedoch der Vollständigkeit halber angerissen werden, um einen Einblick zu gewähren.
Leitende Fragestellungen dieser Arbeit sind:
Haben Migranten besondere Bedürfnisse, die bei der Behandlung durch den niedergelassenen Arzt beachtet werden sollten? Worin begründen sich diese Bedürfnisse?
Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zunächst in den Kapiteln 1 und 2 eine theoretische Basis gelegt wird.
Um den Umfang der Arbeit einzugrenzen, ist die Zielgruppe nicht ausländische Patienten allgemein, sondern türkische Patienten. In den Kapiteln 3 und 4 wird die Zielgruppe eingehend beschrieben und auf das traditionelle türkische Krankheitsverständnis eingegangen. Dieses Vorwissen ist nötig, um dann in den folgenden Kapiteln 5 – 8 mögliche Irritationen eingehend darlegen und erörtern zu können. Aus der Gesamtheit der Arbeit kann dann eine Konklusion und Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden (Kapitel 9 und 10). Diese zeigen auf, worin Möglichkeiten liegen können, die medizinische Behandlung von Migranten in der ärztlichen Praxis und somit den gesundheitlichen Status zu verbessern.
Erarbeitet wurden diese Konklusion und die Hinführung zu dieser durch Literaturrecherche und –analyse.
Der Einfachheit halber wird nicht zwischen männlicher und weiblicher Form unterschieden, obwohl in der Regel beide Geschlechter gemeint sind.
Im Vorhinein soll nicht ungesagt bleiben, dass zwar auf das türkische Krankheitsverständnis und türkische Patienten immer wieder Bezug genommen wird und diese beschrieben werden, dass aber nicht der Eindruck entstehen soll, es gebe einen kulturellen Prototypen. Genauso wenig, wie es den türkischen Patienten gibt, gibt es den deutschen Arzt. Dieses Schubladendenken wird zwar in der Arbeit zum Teil genutzt, sollte jedoch nicht verinnerlicht werden, sondern Raum gelassen werden für die Betrachtung des Individuums.
So verbleibt die Arbeit ‚Interkulturelle Irritationen beim Arzt’ mit einem Einblick in Ursachen und Hintergründe der Irritationen, bezogen auf die größte in Deutschland vertretene Migrantengruppe. Als Ausblick bleiben Handlungsmöglichkeiten, in die die Arbeit vieler Professionen einbezogen werden sollte. So ist das Thema nicht nur für eine spezielle Zielgruppe relevant, sondern richtet sich an alle diejenigen, die sich im Themenkomplex Migration, Krankheit/Gesundheit und gesundheitliche Versorgung ansiedeln.
1. Migration und Krankheit – theoretische Aspekte
Im Rahmen dieser Arbeit sind Definitionen von Begriffen wie Migration, Migranten, Gesundheit und Überlegungen zu Dimensionen von Krankheit notwendig, um nachfolgend Überlegungen in diesem Themenbereich anstellen zu können. So ergibt sich eine theoretische Grundlage, auf der nachfolgende Kapitel aufbauen und Bezug nehmen.
1.1 Migration
‚Migration’ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Ohne Migration wäre die menschliche Entwicklung wahrscheinlich nicht so weit fortgeschritten wie sie es heute ist.
Fast alle Regionen der Erde sind zurzeit oder waren in der Vergangenheit von Migration betroffen. Auch Deutschland, das sich lange Zeit gegen die Bezeichnung ‚Einwanderungsland’ wehrte, erkennt nun an, dass es seit langem Zielland für Migranten ist.
Aktuell leben etwa 7,3 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses sind 8,9% der Bevölkerung.[1]
Im Gegensatz hierzu: 1950 lebten nur etwa 500.000 Ausländer in der Bundesrepublik, was einem Anteil von etwa 1 % entspricht.[2]
Aber was genau beschreibt der Begriff ‚Migration’? In der Literatur sind verschiedene Definitionen zu finden. Diese Arbeit bezieht sich auf einen auch von David et al. verwendeten Migrationsbegriff:
„Migration umfaßt eine räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunktes im Sinne eines dauerhaften Wohnortwechsels von Individuen oder Gruppen über eine bedeutsame Entfernung. Wanderung über die Grenzen eines Nationalstaates hinweg ist dabei kennzeichnend für die internationale Migration in Abgrenzung zur Binnenmigration. Migration beinhaltet nicht nur Zu- sondern auch Abwanderung.“[3]
1.2 Migranten
Auch der Begriff ‚Migrant’ bedarf einer Definition. Ansonsten ist nicht von einem eindeutigen Gebrauch auszugehen.
Da der Begriff ‚Migranten’ keine homogene, eindeutige Gruppe bezeichnet, wird der Begriff auch in der Literatur und in Statistiken unterschiedlich verwendet. Je nach Definition werden unterschiedliche Merkmale, etwa Geburtsland, Staatsangehörigkeit oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung wie Spätaussiedler, Arbeitsmigranten, Asylbewerber etc. gebraucht.[4]
Abb. 1 verdeutlicht die Probleme, die sich bezüglich der Definition von ‚Migranten’ ergeben können. Die Abbildung zeigt die sich überschneidenden, aber nicht identischen möglichen Definitionen von ‚Migrant’ als Zuwanderer und als Ausländer.
Diese Arbeit verwendet einen Migrantenbegriff, der die in Abb. 1 unter den Nummern 2, 5, 6 und 8 zu findenden Personengruppen umfasst, ebenso die Nummern 3 und 9 einschließt.
So werden im folgenden mit dem Begriff ‚Migrant’ diejenigen bezeichnet, die den Akt der Migration selbst vollzogen haben und diejenigen, die nicht selber migriert sind, sondern in der zweiten oder dritten Generation in der BRD leben, also einen Migrationshintergrund haben.
Legende:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Definition der Zielgruppe ‚Migranten’[5]
1.3 Gesundheit
Lange Zeit wurde ‚Gesundheit’ hauptsächlich über das Denken der Schulmedizin definiert. Es herrschte eine pathologische Denkweise vor, die sich eher mit den krankmachenden Faktoren und weniger mit den gesundheitserhaltenden Faktoren beschäftigte.[6] Diesem Denken gegenüber steht die WHO Gesundheitsdefinition aus dem Jahre 1946:
„Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“[7]
In dieser internationalen Begriffsbestimmung von Gesundheit findet sich eine positive Sichtweise, die Krankheit nicht nur über die Abwesenheit von Krankheit definiert. Stattdessen wird ein Zustand ‚vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens’ angestrebt. Dieser Zustand umfasst nicht nur die körperliche Ebene, sondern auch den seelisch-geistigen und den sozialen Aspekt. Es wird eine Ganzheitlichkeit angestrebt.
Die Aussage ‚vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden’ lässt den Schluss zu, Gesundheit sei subjektiv. Gesundheit und Krankheit sind nicht ein von Außen bewertbares objektives Faktum, sondern unterliegen der subjektiven Einschätzung. ‚Vollkommenes körperliches, (…) Wohlbefinden’ kann individuums- und situationsabhängig unterschiedlich definiert sein.
Wird das Wort ‚vollkommen’ hingegen als ein objektiver, messbarer Zustand interpretiert, ergäbe sich ein zu kritisierender Sachverhalt. Der Anspruch, Gesundheit müsse ein vollkommener Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens sein, ist unrealistisch und kaum zu erfüllen. Ganze Personengruppen, z.B. Flüchtlinge, blieben bei einem Vollkommenheitsanspruch per se von ‚Gesundheit’ ausgeschlossen.
Es erscheint sinnvoll, mit einer ganzheitlichen und subjektiven Gesundheitsdefinition zu arbeiten. Wird Gesundheit hingegen als objektives Faktum betrachtet, das keinen subjektiven Spielraum zulässt, besteht die Gefahr, dass Menschen anderer Kulturen und Krankheitsverständnisse durch das objektive Raster fallen und falsch eingeschätzt, möglicherweise sogar fehlbehandelt werden. Wird Gesundheit jedoch subjektiv ausgelegt, bleibt Raum für kulturbedingte und soziale Unterschiede im Hinblick auf Krankheitserleben und den Umgang mit Krankheit. Gesundheitshandeln, das auf unterschiedlichen Normen und Werten basiert, kann so verstanden werden. Gerade bei der Arbeit mit Migranten im gesundheitlichen Bereich, ist dieses unabdingbar. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass ein eminenter Zusammenhang zwischen Kultur und Krankheits- bzw. Gesundheitserleben besteht.
1.4 Krankheit
Geht man von einer subjektiven Gesundheitsdefinition aus, können Gesundheit und Krankheit nicht als biploar, als Gegenpole betrachtet werden. Starre Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit existieren in einer subjektiven Vorstellung nicht. Stattdessen besteht ein fließender Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit, ein dynamisches Wechselverhältnis.[8]
1.4.1 Krankheit und Kultur
„Medizin ist – wie Sprache; Religion oder Sozialstruktur – als eine kulturelle Leistung, ein System symbolischer Werte und Vorstellungen, Praktiken und Techniken, eingebettet in eine Matrix aus Werten, Tradition, Vorstellungen und Formen ökologischer Anpassung zu verstehen.“[9]
Der Umgang mit Krankheit und das Verständnis von Medizin und Gesundheit ist vom Denken der jeweiligen Epoche mitbestimmt[10] und von sozioökonomischen Faktoren beeinflusst.[11]
Um Medizin, Gesundheits- und Krankheitserleben also ganzheitlich erfassen zu können, müssen der kulturelle Kontext und die aktuelle sozioökonomische Situation einbezogen werden.
Allen Kulturen ist gemeinsam, dass Krankheiten existieren. Somit besteht die Notwendigkeit, diese zu behandeln. In den Formen des Umgangs mit Krankheit liegen jedoch große Unterschiede.
Der kulturelle Kontext ist die Basis „für das Empfinden von Krankheit, das systematische Ordnen von Krankheit und deren Ursachen, für die Beschreibung und Darstellung von Symptomen und schließlich für die Bewältigung von Krankheit durch den Vorgang des Heilens“[12].
Wird beispielsweise die Ursache für eine Krankheit aus dem kulturellen Kontext heraus in einer bakteriellen Infektion gesehen, wird eine Behandlung mit Antibiotika erfolgen. Werden hingegen Geister für eine Erkrankung verantwortlich gemacht, wird eine Behandlung erfolgen, die in diesem Kontext als sinnvoll erscheint, beispielsweise eine Geisterbeschwörung durch einen wissenden geistigen Heiler.[13] Kapitel 1.6 wird auf verschiedene Ursachenvorstellungen bezüglich Krankheit eingehen.
Die ätiologischen Vorstellungen, das Erkennen und Anerkennen von Symptomen, die Bedeutung von Krankheit, Diagnose, einzuleitenden Maßnahmen, Prognose, etc. – dies alles kann von Kultur zu Kultur differieren.
So ist Vorsicht geboten, scheinbar eindeutige Begriffe, wie Arzt, Gesundheit und Krankheit, Diagnose, Therapie etc. ohne Beachtung des jeweiligen kulturellen Kontextes zu gebrauchen. Im großen Themenkomplexes ‚Medizin’ spricht nicht die ganze Welt dieselbe Sprache. Begriffe haben verschiedene Bedeutungen. Die Bedeutungen sind von kulturellen und sozioökonomischen Faktoren geprägt. Begriffe sind mit unterschiedlichen Gefühlen besetzt, haben unterschiedliche Konnotationen. Von einer Eindeutigkeit kann nicht ausgegangen werden.[14]
1.4.2 Krankheit und soziale Lage
Neben der Kultur hat auch die soziale Lage Einfluss auf Dimensionen von Krankheit und Gesundheit. Brucks et al. definieren ‚soziale Lage’ als „eine von größeren Gruppen geteilte, vorwiegend ökonomisch bestimmte Lebenssituation, die typische Möglichkeiten der Lebensplanung und des tatsächlichen Verlaufs beinhaltet. (…)“[15]
Brucks et al. führen zur Klassifikation der sozialen Lage das Merkmal ‚Berufsstruktur’ an. Dieses Merkmal ist besonders geeignet, da es Auskunft über Schul-, Ausbildungsabschlüsse und den arbeitsrechtlichen Status gibt. Darüber hinaus wird ein Einblick auf den Bildungsstand und das Einkommen gewährt.[16]
Ein niedriger beruflicher Status geht zumeist einher mit belastenden Arbeitsbedingungen, führt zu einem niedrigen sozialen Status, geringen materiellen Ressourcen und als Folge oft zu mangelhaften Wohnverhältnissen.
All diese Faktoren können den gesundheitlichen Status negativ beeinflussen. Zum einen direkt durch schlechte Arbeitsbedingungen (z.B. Schichtarbeit, monotone, körperlich sehr belastende Arbeiten) und Wohnverhältnisse (Enge, schlechte Luft aufgrund schlechter Lage, sanierungsbedürftig) und zum anderen indirekt, aufgrund des Einflusses, den die soziale Lage auf die Gesundheit hat. Zu nennen ist hier eine mögliche Stigmatisierung durch die Gesellschaft oder auch eine nicht ausreichende Versorgung und Nutzung der Angebote der gesundheitlichen Einrichtungen. Zugangsbarrieren und ungenügende Informiertheit sind hier Faktoren. So ist das Leben in der unteren sozialen Schicht mit dem Risiko zu erkranken eng verknüpft.[17]
Das Erkrankungsrisiko, die Nutzung der Präventionsangebote und die Chancen auf Genesung durch ein frühzeitiges Erkennen der Krankheit sind in unserer Gesellschaft noch immer ungleich verteilt. Die soziale Lage kann den Verlauf von Krankheit und Krankheitsrisiken beeinflussen.
Oben genannte Risiken bezüglich der Arbeitbedingungen, des sozialen Status, der materiellen Ressourcen und der Wohnverhältnissen treten bei Migrantenfamilien überdurchschnittlich häufig auf. „Migranten haben ein doppelt so hohes Risiko, in Armut zu gelangen und ein dreifach höheres Risiko, in Armut zu verbleiben wie die deutsche Bevölkerung.“[18] So begründet sich, dass der Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit bei der Arbeit mit Migranten eine wichtige Komponente ist, die neben kulturellen Aspekten berücksichtigt werden sollte.
1.4.3 Bedeutung von Krankheit in der Gesellschaft
Neben den Einflussfaktoren ‚Kultur’ und ‚soziale Lage’ kann auch die Gesellschaftsordnung von Bedeutung für das Gesundheits- und Krankheitserleben sein.
In Gesellschaften, in denen weniger das Individuum als die ganze Familie und die Gemeinschaft im Vordergrund steht, ist Krankheit nicht nur ein Problem des Individuums. Hier kann Krankheit einer Störung der Harmonie der sozialen Ordnung gleichkommen.[19]
In diesem Falle betrifft die Krankheit nicht nur das erkrankte Individuum, sondern sie hat auch Auswirkungen auf das Umfeld des Betroffenen. Je mehr sich die Krankheit des Individuums auf die soziale Gruppe auswirkt, desto stärker werden auch Personen aus der Gemeinschaft in die Behandlung des Erkrankten einbezogen. Dieses kann solche Ausmaße annehmen, dass der Patient in eine untergeordnete Rolle gedrängt wird. Die Entscheidung und Beratung über Behandlungsmöglichkeiten der Krankheit werden von anderen, beispielsweise der Großfamilie übernommen. Dieser Umgang mit Krankheit ist in einer Gesellschaft, die mehr individualistisch als kollektivistisch orientiert ist, bei selbständigen Erwachsenen kaum denkbar.[20]
Die Krankheitsdefinition nach Parson betont die gesellschaftliche Komponente von ‚Krankheit’:
„Krankheit [bedeutet] den Rückzug des Individuums aus seinen sozialen Verpflichtungen, so dass Krankheit an den Bindungen des einzelnen an seinen sozialen Erwartungen ansetzt. Nur durch Krankheit ist beispielsweise der Rückzug aus den Leistungsverpflichtungen duldbar, da die Gesellschaft dem Kranken in dem Moment die Nicht–Verantwortung für seinen Zustand zubilligt.“[21]
1.5 Subjektive Krankheitstheorien
Neben Kultur, sozialer Lage und Gesellschaft, ist auch die individuelle Perspektive bezüglich ‚Krankheit’ zu beachten. Subjektive Einstellungen und Erklärungsmuster, die das Individuum in Bezug auf Medizin, Krankheit und Gesundheit hat, sind wichtig, um Krankheitserleben in seiner Vielschichtigkeit verstehen zu können. Das persönliche Krankheitsverständnis nennt Faller subjektives Krankheitsverständnis. Dieses Krankheitsverständnis ist unabhängig von der fachlichen Diagnose des Arztes, der Expertentheorie. Faller definiert das subjektive Krankheitsverständnis als „gedankliche Konstruktion Kranker über das Wesen, die Verursachung und die Behandlung ihrer Erkrankung. Diese individuelle Theorie ist das Ergebnis kognitiver Auseinandersetzung mit der Krankheit.“[22]
Die Erklärung einer Krankheit durch eine Ursache, die ätiologische Vorstellung, ist in der subjektiven Krankheitstheorie von zentraler Bedeutung. Durch die ätiologische Vorstellung verliert die Krankheit etwas von ihrer unbegreiflichen und bedrohlichen. Der Kranke ist nicht mehr hilflos ausgeliefert, sondern durch das Kennen der Ursache wird die Krankheit greifbarer. Sie verliert von ihrer Unheimlichkeit, denn durch das Wissen um die Ursache wird die Krankheit behandelbar.[23]
Das Bedürfnis des Menschen, Ereignisse nicht nur zu erleben und zu registrieren, sondern auch erklären zu können, wird so befriedigt.[24]
Die subjektive Krankheitstheorie ist abhängig von der persönlichen Betroffenheit, der Schwere und Dauer der Erkrankung, der vorherrschenden Wissenschaftstheorie und von kulturellen Faktoren.[25]
Faltermaier beschreibt die subjektiven Krankheitstheorien von Migranten als ähnlich denen der einheimischen Bevölkerung. Jedoch erleben Migranten Gesundheit mehr noch als ‚natürliches Potential’.[26]
Auch sind bei deutschen Patienten psychosoziale Erklärungen für Krankheiten weiter verbreitet als bei Migranten. Migranten vertreten eher fatalistische Theorien. Gemeint sind Theorien, die das Schicksal, biologische Anlagen und das Alter als Krankheitsursache benennen. Krankmachende Faktoren werden von Migranten eher in exogenen Einflüssen gesehen. Die Umwelt wird im Gegensatz zur eigenen Persönlichkeit als ein wichtigerer Einflussfaktor gesehen.[27]
Gerade im Themenkomplex ‚Migranten und Gesundheit’ ist es sinnvoll, sich immer wieder der Existenz und der Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien zu vergegenwärtigen. Eine Konzentration, hauptsächlich auf traditionelle Krankheitskonzepte aus dem jeweiligen Heimatland, birgt die Gefahr in sich, von einem ‚kulturellen Prototypen’ auszugehen, der kulturelle Normen und Regeln repräsentiert, aber keinen Toleranzbereich für Abweichungen zulässt.[28]
1.6 Ursachenvorstellungen bezüglich Krankheit
Es sind verschiedene Versuche unternommen worden, Ursachenvorstellungen von Krankheiten zu kategorisieren. Murdock[29] unterteilt die Vorstellungen in vier Kategorien:
- naturalistische Erklärungen
- animistische Erklärungen
- magische Erklärungen
- mystische Erklärungen
Diese Erklärungsmodelle sind in den jeweiligen kulturellen Kontext einzubeziehen. Sie sind nur modellhaft getrennt voneinander zu verstehen. Tatsächlich vermischen sie sich, existieren parallel zu einander und ergänzen sich.
Das naturalistische Erklärungsmodell (lat.: natura = Natur, Umwelt) sieht umweltbezogene Faktoren als Ursache von Krankheit an. Das Klima, Hitze oder Kälte, die Ernährung, Infektionen, Stress, ebenso Unfälle und Angriffe gelten als krankmachende Faktoren.
Die Schulmedizin basiert auf einem naturalistischen Erklärungsmodell.
Das animistische Erklärungsmodell (lat.: anima= Lufthauch, Wind) geht von einer belebten Natur aus, in der personifizierte, übernatürliche Kräfte walten. Übernatürlichen Wesen wie z.B. Geister, Dämonen, wandernde Seelen oder Götter werden zur Erklärung von Krankheiten genutzt. Diesen Wesen wird zugesprochen, dass sie einen negativen, gesundheitsschädlichen Einfluss auf Menschen ausüben können.
Das magische Erklärungsmodell (griech.: μαγεια= Zauberei) bezieht sich ebenfalls auf übernatürliche Kräfte. Diese werden von Menschen selbst genutzt, z.B. durch verhexen oder verwünschen. Aufgrund von Neid oder anderem Übelwollen fügen sich Menschen gegenseitig Schaden zu. Dieses Erklärungsmodell ist sehr verbreitete und in fast allen Kulturen zu finden.
Im mystischen Erklärungsmodell (griech.: μυστηριου= Geheimnis) werden übernatürliche Kräfte benannt, die weder an Personen, noch an personifizierte Kräfte der Natur gebunden sind. Stattdessen erklärt die Mystik Krankheit durch schicksalhafte Kräfte wie Vorherbestimmungen, das Anblicken oder Berühren bestimmter Personen oder Dinge und Astrologie. Die Mystik bezieht Träume in ihre Erklärungsmuster mit ein. Auch der Tabubruch zählt zu den mystischen Erklärungen.
2. Migration – ein pathogener Faktor?
‚Migration’ existiert seit Anbeginn der Menschheit. Ihr eigentlicher Zweck ist es, die Lebenssituation zu verbessern. Sie stillt das Grundbedürfnis des Menschen nach Fortschritt und befriedigt seinen Wunsch, etwas Neues zu erleben.[30]
In dieser Aussage über Migration schwingen so viele positive Inhalte mit, dass sich die Frage aufdrängt, in wie weit Migration, wenn sie doch derart positiv besetzt ist, Einflussfaktor von ‚Krankheit’ sein kann. Ein Hinweis ergibt sich aus den bereits beschriebenen kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Unterschieden, die im Umgang mit Krankheit bestehen und die ‚Krankheit’ beeinflussen.
Weitere Fragen, die im Zusammenhang ‚Migration und Krankheit’ zu stellen sind, können sein: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Migration und Krankheit? Macht Migration krank? Falls ja, was sind die krankmachenden Faktoren? Lassen sich in der Theorie migrantenspezifische Bedürfnisse erkennen, die im Bereich der medizinischen Versorgung beachtet werden sollten? Lassen sich Bedürfnisse erkennen, die bei der Arbeit mit der Zielgruppe ‚Migranten’ eine Rolle spielen?
Es wird deutlich, dass das Thema ‚Migration und Krankheit’ viele Fragen aufwirft und sich durch Komplexität und Vielschichtigkeit auszeichnet.
2.1 Stand der Forschung
In der Fachliteratur sind seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Beiträge zu finden, die sich mit der Thematik ‚Migration und Krankheit’ befassen. Besondere Aufmerksamkeit wurde zunächst der psychischen Gesundheit und der Migrantengruppe der Gastarbeiter zuteil. Wichtige Werke sind z.B. ‚Transkulturelle Psychiatrie’ aus dem Jahre 1972 von Pfeiffer oder auch der Beitrag Bökers, ‚Psychiatrie der Gastarbeiter’, der 1975 im Lehrbuch ‚Psychiatrie der Gegenwart’ erschien.
Insbesondere die Gruppe der türkischen Migranten rückte immer mehr ins Interesse der Forschung. Hier ist z.B. das von Collatz et al. herausgegebene Buch ‚Gesundheit für alle. Die medizinische Versorgung türkischer Familien in der Bundesrepublik’ aus dem Jahre 1985 zu nennen.[31]
Auffällig ist der defizitäre Blick der damaligen Forschungen. Es wurde hauptsächlich nach den Ursachen für Erkrankungen und den negativen Folgen der Migration gefragt. Es setzte sich die These durch, dass Migration ein krankmachender Faktor sein kann. Neben der Migration an sich wurden auch Krankheitsrisiken wie Ausgrenzung, Statusverlust und Rassismus, die bei Migranten häufiger als bei Einheimischen auftreten, erkannt.[32]
Mit der Zeit änderte sich der Blickwinkel der Experten hin zu einem mehr gesundheitsorientierten Denken. Dieses Denken fragt nach den Bedingungen, die gesund erhalten und nicht nach denen, die krank machen. Es wird mit einem ressourcenorientierten Ansatz gearbeitet. Diese Perspektive beruht auf dem Modell der Salutogenese nach Antonovsky. Das Modell der Salutogenese kann als eine allgemeine Theorie verstanden werden, die „primär die Entstehung von Gesundheit zu erklären versucht und damit die bisherige Konzentration auf die Entstehung von spezifischen Krankheiten in einem Paradigma der Pathogenese erweitern kann. (….)“[33]
Die Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Gesundheit bestimmt heute die Forschung. Die Wissen fördernden Fragen lauten: Was kann in der Migration gesund machen? Was kann Gesundheit fördern? Die anerkannte These heißt: „Integration kann ein Faktor der Gesundheit sein.“[34]
Baringer et al. bezeichnen das Deutschland der 90er Jahre bezüglich interkultureller Verständigung als ein „Entwicklungsland“[35]. Die Bezeichnung für das heutige Deutschland, „Schwellenland im Endstadium“[36], zeigt eine gewisse Entwicklung auf.
Es zeigt jedoch auch den noch immer bestehenden Forschungsbedarf im Bereich Migranten und Gesundheit/Krankheit.
Insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Migration und Gesundheit und der Umgang von Migranten mit Gesundheit und Krankheit bedürfen noch genauerer Untersuchungen und empirischer Grunddaten.
2.2 Medizin-soziologische Theorien
Verschiedene medizin-soziologische Theorien gehen der Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Krankheit nach. Die traditionellen medizin-soziologischen Theorien stellen zumeist die Unterschiede zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung fest, so z.B. die Selektionshypothese und die Kulturschocktheorie.[37] Die neueren Theorien hingegen beziehen sich vermehrt auf die aufgrund der Migration nötige Akkulturation und den durch diese erzeugten Stress, so z.B. die Akkulturationstheorie.
2.2.1 Selektionshypothese
Die Selektionshypothese bezieht sich hauptsächlich auf psychische Erkrankungen. Sie basiert auf einem personalistischen Ansatz, sieht also die Ursache für Erkrankungen im Individuum und seiner körperlichen Verfassung. Umwelt und Lebensbedingungen spielen hier keine Rolle.
Al-Jaar[38] beschreibt, die Selektionshypothese gehe davon aus, dass psychische Erkrankungen bei Migranten das Resultat einer Negativselektion sind. Nur bestimmte Persönlichkeiten seien es, die überhaupt dazu bereit sind zu emigrieren. Diese bestimmten Persönlichkeiten seien charakterisiert durch eine bereits in der Heimat bestehende Anfälligkeit für psychische Krankheiten oder seien bereits dort erkrankt. Die Migration wird als Flucht vor sozialen Konflikten genutzt.[39]
Gemäß dieser Hypothese sind Migranten anfälliger für psychische Störungen und häufiger betroffen als die in der Heimat Verbliebenen oder Einheimische der Aufnahmegesellschaft.
Der Negativselektion gegenüber steht die Hypothese der Positivselektion. Diese geht davon aus, dass nur Menschen, die besonders gesund und stark sind, die Möglichkeit der Migration ergreifen. Somit wären Migranten weniger anfällig für Krankheiten, als in der Heimat Verbliebene, oder Einheimische.[40]
Insgesamt überzeugen diese Hypothesen nicht durch Schlüssigkeit. Auch Statistiken stützen sie nicht. Die Hypothese der Negativselektion fördert eher ein Bild minderwertiger Migranten. Casetelnuovo und Risso gehen davon aus, dass die Anhänger der Selektionshypothese „eine biologistische Meinung vertreten und dadurch den Weg für rassistische Interpretationen ebnen.“[41]
2.2.2 Kulturschocktheorie
Die Kulturschocktheorie bezieht sich insbesondere auf Migranten, die aus wirtschaftlich schlechter gestellten Nationen in ein Industrieland abwandern und deren Kulturverständnis stark von dem des Ziellandes abweicht. Die Kulturschocktheorie beruht auf einem situationalistischen Ansatz, der die Ursachen für die Entstehung von Erkrankungen hauptsächlich in der Umwelt sieht.[42]
Durch transkulturelle Migration wird ein Kulturschock ausgelöst,
„da sie [die Migration] das wandernde Individuum seinen kulturell geprägten und vermittelten Alltagsroutinen beraubt und ihn als >Fremden< zwingt,
Adaptionsleistungen in einem neuen Kontext mit ungewohnten kulturellen Werten, Institutionen und Handlungsmustern zu erbringen.“[43]
Kann der Migrant auf die neuartige Umwelt nicht adäquat reagieren, führt die Konfrontation mit den neuen Gegebenheiten zu einer Überforderung. Diese Überforderung zeigt sich in einem Gefühl von Verunsicherung, Angst und dem Sehnen nach der althergebrachten Ursprungskultur, der Heimat. Die Intensität des Kulturschocks steht im Zusammenhang mit dem Motiv der Migration, der geplanten Dauer des Aufenthalts und dem Herkunftsland des Individuums. Je nach Kombination der Faktoren und individueller Lebensgeschichte fällt der Kulturschock unterschiedlich stark aus.[44]
2.2.3 Akkulturationstheorie
Die Akkulturationstheorie, auch Kulturwandeltheorie, ist zurzeit wichtiges Instrument der wissenschaftlichen Forschung im Themengebiet ‚Migration und Gesundheit’. Im Gegensatz zur Akkulturationstheorie sieht die Kulturschocktheorie die Veränderung der Lebenswelt des Migranten an sich und die nicht oder nur ungenügende Auseinandersetzung mit der neuen Kultur als krankmachende Faktoren.[45] [46]
Die Akkulturationstheorie nun sieht eine Gesundheitsgefährdung vielmehr in den im Prozess der Akkulturation nahezu unvermeidlichen Identitätskrisen.[47]
Identitätskrisen können entstehen, da für Migranten die Notwendigkeit besteht, sich mit zwei Kulturen auseinander zu setzen, sich in bestimmten Bereichen sogar für eine entscheiden zu müssen. Die ursprüngliche Kultur kann teilweise durch eine neue ersetzt werden. Der Migrant muss sich, ohne die alten Normen und Werte komplett aufzugeben, im Gastland eine neue Persönlichkeit aufbauen.[48] Der Stress, der aus dem Prozess des Auseinandersetzens mit alten und neuen Normen und Werten und der eigenen Persönlichkeit entsteht, wird als ‚Akkulturationsstress’ bezeichnet.[49]
Die Rahmenbedingungen für diesen Prozess werden von der Aufnahmegesellschaft gesetzt. Je nach politischer und sozialer Lage wird die Akkulturation erleichtert oder erschwert.
Der komplexe Prozess der Akkulturation kann in Zusammenhang mit dem Entstehen von Krankheiten gebracht werden. Je nach Ausgang des Akkulturationsprozesses kann dieser sich gesundheitsfördernd oder belastend auswirken.[50]
2.2.4 Weitere medizin-soziologische Theorien
Neben den beschriebenen Theorien, die Krankheit im Zusammenhang mit Migration auf Selektion, Kulturschock bzw. Akkulturationsstress zurückführen, existieren weitere Theorien:
- Isolationstheorie:
Die Trennung von Heimatland und Familie wird als ausschlaggebender pathogener Faktor angesehen[51]
- Theorie der sozialen Unterprivilegierung:
Der bei Migranten überdurchschnittlich häufig vertretene geringe soziale Status und eine schlechte soziale Lage werden als gesundheitsbelastend angesehen.[52]
- Theorie der unerfüllten Statusaspiration:
Statusverlust und nicht erreichte Migrationsziele führen zu Frustrationsgefühlen. Diese stehen in engem Zusammenhang mit der Entstehung psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen.[53]
2.3 Fazit aus Kapitel 1 und 2
Um sich dem Thema ‚Interkulturelle Irritationen beim Arzt’ angemessen nähern zu können, sind zunächst einige Klärungen von Begrifflichkeiten nötig. Die Verwendung medizinnaher Begriffe sollte bei der Arbeit mit Migranten in gesundheitlichen Zusammenhängen gesondert betrachtet werden, kann doch hier aufgrund kultureller und sozioökonomischer Prägungen nicht von Allgemeingültigkeit ausgegangen werden.
Der Blickwinkel der wissenschaftlichen Diskussion im Thema ‚Migration und Krankheit’ hat sich dahingehend verändert, dass heute eher vom Thema ‚Migration und Gesundheit’ gesprochen werden kann.
Medizin–soziologische Theorien nähren sich diesem Thema und liefern Erklärungen für den Zusammenhang von Migration und Krankheit. Jedoch kann keine der genannten Theorien allein diesen Zusammenhang erfassen. Migration ist ein zu vielschichtiger Vorgang, dass das beschränken auf eine Theorie zu viele Faktoren außer Acht ließe.
So wie das Verständnis von Krankheit von mehreren Faktoren abhängig ist, ist auch der Einfluss, den Migration auf die Gesundheit ausübt abhängig von vielen Faktoren: dem gesundheitlichen Status vor der Migration, dem Verlauf der Akkulturation, der Motive und Ziele der Migration, und anderen Faktoren mehr.
Genauso, wie das subjektive Krankheitsverständnis letztendlich Aufschluss über das tatsächliche, individuelle Krankheitsverständnis gibt, zeigt nur ein Blick auf das Individuum, welche Faktoren der Migration sich als krankheitsfördernd auswirken. Nicht zu letzt ist zu beachten, dass der defizitäre Blick nicht dem ressourcenorientierten Blick überlegen sein sollte. Stattdessen sollten gesundheitsförderliche Faktoren der Migration, Ressourcen, erkannt und gefördert werden.
3. Die Türkei
Ein möglichst umfangreiches und tiefgründiges Hintergrundwissen über die in Deutschland lebenden türkischen Migranten ist nötig, um das Thema ‚Interkulturelle Irritationen beim Arzt’ im Hinblick auf türkische Migranten bestmöglich nachvollziehen zu können. Um dieses zu gewährleisten, beschreiben Kapitel 3 und Kapitel 4 die Migrationsgeschichte des letzten Jahrhunderts, die die Türkei mit Deutschland verbindet, die aktuelle soziale Lage der in Deutschland lebenden Türken und traditionelle Krankheitsvorstellungen aus der Türkei.
3.1 Türkisch–deutsche Migration
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Inkrafttreten des Anwerbeabkommens mit der Türkei, begann die Migration türkischer Gastarbeiter nach Deutschland.
In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg lebten aufgrund der militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Deutschen und des Osmanischen Reichs bereits zahlreiche Türken in Deutschland. Während der beiden Weltkriege und bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Verbindungen zwischen den beiden Ländern nach. Dieses änderte sich erst wieder, als die expandierende deutsche Wirtschaft ihren Arbeitskräftebedarf nicht mehr decken konnte: die Arbeitslosenquote betrug 1960 lediglich 1,2 %.
Das Problem der mangelnden Arbeitskräfte wurde behoben, indem Anwerbevereinbarungen mit südeuropäischen Ländern geschlossen wurden, in denen zu dieser Zeit eine hohe Arbeitslosigkeit herrschte. Zu den Anwerbeländern gehören neben der Türkei, mit der das Anwerbeabkommen am 31. Oktober 1961 unterzeichnet wurde, Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), Marokko (1963), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968).[54]
Für die Türken waren neben der hohen Arbeitslosigkeit eine unbefriedigende wirtschaftliche Lage im Heimatland und große regionale Unterschiede innerhalb der Türkei Gründe für die Arbeitsmigration in die BRD. Die regionalen Unterschiede in der Türkei bestanden und bestehen zum Teil noch heute, insbesondere zwischen Stadt und Land und West- und Osttürkei. Die Gebiete der heutigen Türkei können aufgeteilt werden in die entwickelte Westtürkei, das mäßig entwickelte Schwarz- und Mittelmeergebiet, einen Teil Mittelanatoliens inbegriffen, und die wenig entwickelten Gebiete Ost- und Südanatoliens.[55]
3.1.1 Phasen der Arbeitsmigration
Die Entwicklung der türkischen Arbeitsmigration lässt sich in folgende drei Phasen einteilen: die Phase der Immigration, die Phase der Familienzusammenführung und die Phase der Niederlassung.
Zu Beginn der Anwerbung emigrierten hauptsächlich junge Arbeiter, die in ihrer Heimat bisher zumeist ausschließlich in der Landwirtschaft gearbeitet hatten, nach Deutschland. Die meisten türkischen Arbeitskräfte stammen ursprünglich aus den ländlichen und wirtschaftlich schlecht entwickelten Regionen der Süd- und Osttürkei. Die Arbeitsplätze, die die angeworbenen Arbeiter angeboten bekamen, waren Arbeitsplätze, die selbst in der ‚Arbeiterklasse’ der untersten Schicht angehörten.[56] Im Geschäftsbericht der Gewerkschaft Textil/Bekleidung heißt es: „Die hohe Ausländerbeschäftigung gab deutschen Arbeitnehmern die Möglichkeit, wenig prestigeträchtige, risikoreiche, chancenarme und manchmal auch als unterwertig empfundene Arbeitsplätze zu verlassen.“[57]
Die Phase der Immigration:
Die Phase der Immigration bezeichnet die Zeit von 1961, dem Beginn der türkischen Arbeitsmigration, bis zum Jahr 1973, in welchem aufgrund einer ökonomischen Krise ein allgemeines Anwerbestopp einberufen wurde. Die politisch korrekte Bezeichnung für die nach Deutschland Immigrierenden, war ‚Gastarbeiter’.[58]
Die während dieser Zeit immigrierten ‚Gastarbeiter’ kamen ganz im Sinne des ‚Rotationsprinzips’, mit der Vorstellung, nur vorübergehend in Deutschland zu bleiben, um Geld zu verdienen. Mit dem verdienten Geld sollte später in der Türkei eine berufliche Existenz aufgebaut werden. Die in der Türkei zurückgebliebenen Familien sollten bereits während des Arbeitsaufenthalts finanziell unterstützt werden. Aufgrund des hohen Lohngefälles zwischen Deutschland und der Türkei immigrierten auch immer mehr höher qualifizierte Türken, die in Deutschland eine Arbeit als unqualifizierter Arbeiter übernahmen. Während 1966 ca. 158.000 Türken in Deutschland und West-Berlin tätig waren, erreichte die Zahl der türkischen Arbeitsmigranten 1974 mit ca. 618.000 Gastarbeitern ihren Höchststand. Nachdem 1973 das Anwerbestopp in Kraft trat, mussten hunderttausende Arbeitsmigranten die Bundesrepublik verlassen.[59]
Phase der Familienzusammenführung:
Die Zeit zwischen 1973 und 1980 ist die Hauptzeit der Phase der Familienzusammenführung. Politisch korrekt wurden die ‚Gastarbeiter’ in dieser Phase ‚ausländische Arbeitnehmer’ genannt.[60] Wider den anfänglichen Wunsch, nach ein paar Jahren in ihre Heimat zurückzukehren, blieben viele der ausländischen Arbeitnehmer Jahr um Jahr in Deutschland. Der Druck der Öffentlichkeit, eine Familienzusammenführung rechtlich zu ermöglichen, wuchs. Mit Eröffnung dieser Möglichkeit begannen die ehemaligen ‚Gastarbeiter’ ihre in der Türkei zurück gebliebenen Ehepartner und Kinder nach Deutschland zu holen. Eine Folge war, dass der Prozentsatz der erwerbstätigen Türken in den Jahren 1967 bis 1980 von 80 % auf nur noch 40 % sank.[61]
Phase der Niederlassung:
Die Phase der Niederlassung geht in ihren Ansätzen bis in die Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Die Niederlassung als Folge des Familiennachzugs veränderte das Bild, der angeworbenen Gastarbeiter: vom ausländischen Arbeiter, der nur übergangsweise in der Bundesrepublik lebt, entwickelte er sich zum festen zu integrierenden Mitglied der Gesellschaft. Schlechte Bedingungen bezüglich Arbeitsplatz und Wohnsituation wollten nun nicht mehr hingenommen werden. Stattdessen entwickelte sich „(…) eine zunehmende Tendenz zur selbstständigen Erwerbstätigkeit, Abschluss von Bauspar- und Lebensversicherungsverträgen, [und dem] Kauf von Eigentumswohnungen (…)“[62]
Auch die Bezeichnung der ehemaligen ‚Gastarbeiter’ änderte sich ein wiederholtes Mal. Die politisch korrekte Bezeichnung war nun ‚(Arbeits-)Migrant’.[63]
[...]
[1] vgl. Bundesministerium des Innern, 2005
[2] ebd.
[3] David et al., 2001, S. 57 (nach Lederer et al. 1999, Han, 2000)
[4] vgl. Hommes, 2004, S. 24
[5] vgl. Razum, 2003, S. 266 f
[6] vgl. Pourgholam–Ernst, 2002, S. 9
[7] vgl. www.who.int
[8] vgl. Pourgholam–Ernst, 2002, S. 10
[9] Grottian, 1991, S. 21
[10] vgl. Zimmermann, 1990, S. 133
[11] vgl. Grottian, 1991, S. 163
[12] Kroeger, 2002, S. 165
[13] vgl. Tuschinsky, 2002, S. 19
[14] vgl. Zimmermann, 2000, S. 14
[15] Brucks et al., 1987, S. 22
[16] vgl. Brucks et al., 1987, S. 22
[17] vgl. Faltermaier, 2001, S. 102
[18] Eberding et al., 2001, S. 267
[19] vgl. Hegemann et al., 2001, S. 32
[20] vgl. Tuschinsky, 2002, S. 20
[21] Parson in: Ostermann, 1990, S. 70
[22] Faller, 1991, in: David et al., 2001, S. 201
[23] vgl. Zimmermann, 2000, S. 36
[24] vgl. David et al., 2001, S. 202
[25] vgl. David et al., 2001, S. 202
[26] vgl. Faltermaier, 2001, S. 110
[27] ebd.
[28] vgl. M.David, 2001, S. 9
[29] vgl. Murdock in: Assion, 2004, S. 21 ff
[30] vgl. Tuschinsky, 2002, S. 11
[31] vgl. Koch, 2003, S. 43
[32] vgl. Otmann, 2003, S. 54
[33] Faltermaier, 2001, S. 95
[34] Otmann, 2003, S. 54
[35] Baringer et al., 2003, S. 157 f
[36] ebd.
[37] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 37
[38] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 38
[39] vgl. Ödegaars in: Al–Jaar, 2002, S. 38
[40] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 38f
[41] Castelnuovo, Risso in: Al–Jaar, 2002, S. 39
[42] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 41
[43] Nauck et al., 2001, S. 217
[44] ebd.
[45] Definition: „Akkulturation ist ein Prozess, der Angleichung, der im kognitiven Bereich als Lernprozess stattfindet, in dessen Verlauf Personen oder Gruppen von Personen kulturelle Orientierungsmuster, Eigenschaften und Verhaltensweisen in den institutionalisierten Teilbereichen der Aufnahmegesellschaft übernehmen.“ (David et al., 2001, S. 62, nach Han (2000))
[46] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 44
[47] vgl. David et al., 2001, S. 232
[48] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 44
[49] vgl. Marschalck, 2000, S. 38
[50] vgl. Al–Jaar, 2002, S. 43
[51] vgl. David et al., 2001, S. 233
[52] vgl. David et al., 2001, S. 233
[53] ebd.
[54] vgl. Özcan, 1995, S. 511 f
[55] vgl. Özcan, 1995, S. 512 f
[56] ebd.
[57] Erdogan, 2002, S. 19
[58] vgl. David, 2001, S.15
[59] vgl. Özcan, 1995, S. 513
[60] vgl. David, 2001, S. 15
[61] vgl. Özcan, 1995, S. 513
[62] Özcan, 1995, S. 514
[63] vgl. David, 2001, S. 15
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