In einer vergleichenden Betrachtung untersuche ich, inwieweit H. Kurzkes Aussage über Wahn und Vernunft auf das Leben der beiden Protagonisten Harry Haller und Anselmus zutrifft.
Vergleich Hermann Hesses Steppenwolf und E.T.A. Hoffmanns ..Der goldne Topf“ mit Außentext: Wahn und Vernunft
„Der Wahn ist die dunkle Seite desMonds, die immer vorhanden ist, auch wenn man mit den TagAugen nur die helle Seite sieht. Er ist die Rückseite der Vernunft und erinnert an all das, aas vor der Vernunft nicht bestehen kann, aber trotzdem da ist und nur verdrängt wird. [...]
Schon einsam zu sein, schafft im Kopf Sonderwelten undprädestiniertfür Wahn. Normalität braucht Gesellschaft.Man nehme irgendeine Komponente des Normalfalls weg, die Gesellschaft, die Gesundheit, die Nahrung, die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit, und schon reißt der dünne Faden der Vernunft.“
Aus: HermannKurzke: GeorgBüchner, Geschichte eines Genies.München: C. H. Beck2013.
Sehnsucht, Zerrissenheit, Fremdsein - das sind die Themen, mit denen sich Hermann Hesse in seinem Werk „Der Steppenwolf‘, das 1927 veröffentlicht wurde, beschäftigt. Vom Expressionismus, aber auch von der Neoromantik und der Neuen Sachlichkeit geprägt, geht es um den an einer Existenzkrise leidenden Harry Haller, der im Zwiespalt seiner bürgerlichen und steppenwölfischen Existenz lebt.
Die Dualität der bürgerlichen Seite und der Steppenwolf-Existenz ist wie mit dem Wahn und der Vernunft, wie H. Kurzke beschreibt. Der Wahn ist immer da, nur nicht immer sichtbar und wird verdrängt. Seine Gegenseite, die Vernunft, liegt dagegen auf der sichtbaren Seite und ist von der Gesellschaft, von Nahrung, Freiheit und körperlichen Unversehrtheit abhängig.
Wenn eines davon kippt, kann die Vernunft beeinträchtigt werden und der Wahn scheint durch. Die Gesellschaft kann einen davor bewahren, doch Einsamkeit kann diese auslösen.
Nicht nur Hermann Hesse beschäftigt sich in seinem Werk mit dieser Thematik, auch E.T.A. Hoffmann behandelt den Wahn und die Fantasie in seinem 1814 erschienenem Werk „Der goldne Topf‘. Darin steht der Student Anselmus in einem Konflikt zwischen der realen Welt und dem Reich der Fantasie.
Die Spanne zwischen Vernunft und Wahn wird in beiden Werken tiefgehend thematisiert: im „Steppenwolf ‘ steht Harry im Konflikt zwischen seiner bürgerlichen und seiner steppenwölfischen Seite. Dabei stellt der Steppenwolf„die dunkle Seite des Monds“ dar, die allerdings nicht immer sichtbar ist. Im Gegensatz dazu steht die bürgerliche Seite, dessen Werte er zwar stets verachtet, aber dennoch Sehnsucht nach dem Leben hat, da die Bürgerlichen die Dualität des Steppenwolfs nicht kennen.
Im „Goldnen Topf ‘ sieht es ähnlich aus: Anselmus schwankt zwischen der bürgerlichen Seite der Normalität und der Seite der Fantasie, die ihn eher aufnimmt, wie er ist. Anselmus ist nun einmal ein ungeschickter und verträumter Mensch, der nach dem „Leben in der Poesie“ strebt. In beiden Protagonisten spielt sich ein Kampf im Innern ab: die Vernunft gegen den Wahn.
Der Wahn, die Rückseite der Vernunft, ist immer da, nur wird sie verdrängt.
Im „Steppenwolf ‘ zeigt sich in diesem Aspekt eine Entwicklung: Harry lebt zunächst seinen Wahn aus. Manche bezeichnen dieses Verhalten als Hesses alter Ego, da er ungehemmt kritisiert, hasst, verachtet, dabei aber in Depressionen stürzt, überwiegend schlecht gelaunt ist und sogar Selbstmordgedanken hegt.
Das Ausleben der steppenwölfischen Existenz führt zu einer tiefen Traurigkeit, die erst durch das Zerbrechen des Trugbildes erlöst wird. Die Steppenwolf-Existenz scheint für Harry zunächst die Seite der Vernunft zu sein, wobei er dem Trug später, im magischen Theater, auf die Schliche kommt. Da verdrängt er diese Seite zwar auch nicht, vielmehr möchte er sie eliminieren und ganz auslöschen, wobei es offen bleibt, ob er es geschafft hat.
Im Kontrast dazu wird Anselmus träumerische Seite durch die Bürgerlichen verdrängt: Konrektor Paulmann, Registrator Heerbrand und Veronika bringen Anselmus immer wieder zur Vernunft und verdrängen seine wahnhafte Seite. Immer wieder ziehen sie in zurück, ein er einmal wieder in den Wahn, oder in die poetische Welt, abrutscht. Außerdem bringt ihn die Hexe, alias das Apfelweib, zurück zu den Bürgerlichen, zur Vernunft, sodass er Veronika zur Frau nehmen kann. Würde er dies tun, wäre seine „Wahn-Seite“ für immer verdrängt.
Die wahnhafte Seite kommt auf, wenn er mit dem Magischen in Kontakt tritt: beispielsweise, wenn er mit Archivarius Lindhorst zu tun hat oder der Schlange Serpentina, in die er sich unsterblich verliebt. Dahingehend steht Serpentina bildhaft für die Seite des Wahns, der Fantasie, für die Anselmus sich letztendlich entscheidet und damit die bürgerliche Seite vollends eliminiert wird.
Dass Einsamkeit Sonderwelten schafft, die zum Wahn führen, zeigt sich ebenfalls bei Harry Haller. Er lebt isoliert, denn er verachtet die Gesellschaft, die Kultur und möchte kein Teil von ihr sein. Somit lebt Harry in seiner eigenen Welt: sein Tag besteht aus Lektüre, klassischer Musik und Kneipenbesuchen, während der normale Bürger seine Zeit mit Tanzen und Lachen verbringt. Das macht ihn einsam; er fühlt sich durch seine negativen Gedanken auch dauerhaft schlecht, nur manchmal glänzt „eine goldene göttliche Spur durch [s]ein Leben“, wobei er in solchen Momenten tiefes Glück empfindet.
Doch darüber hinaus macht ihn die Einsamkeit kaputt; er weiß nicht, wie er sozial interagieren soll, ohne komisch auf andere zu wirken, und die Einsamkeit spiegelt sich in seinen Suizidgedanken wider.
Auch Anselmus lebt in seiner eigenen Welt, träumt viel und hat ein komisches Auftreten bei anderen, aber im Gegensatz zu Harry lebt er nicht gänzlich isoliert, denn er verbringt hin und wieder Zeit mit seinen Freunden, wie dem Konrektor Paulmann, der ihm sogar hilft sich in der Gesellschaft zu etablieren, indem er ihm Arbeit besorgt. Doch in Bezug zu seinen Welten, die in seinem Kopf aufleben und aufblühen, ist er einsam.
Seine Fähigkeit zu „sehen“ scheint dort einzigartig zu sein. Somit kann ihn keiner aus der bürgerlichen Welt verstehen. Aber Lindhorst, bei dem er Arbeit findet, ist selbst von magischer Natur und gibt Anselmus einen Anker im Leben.
Bei ihm scheint die Einsamkeit nicht zum Wahn zu führen; die Fantasie-Begabtheit ist ihm angeboren. Zusätzlich ist er durch Gleichgesinnte wie Lindhorst und Serpentina nicht einsam, doch ohne sie in der bürgerlichen Welt wäre er es womöglich.
Braucht Normalität Gesellschaft?
Bei Harry scheint dies der Fall zu sein, denn die Figuren aus der bürgerlichen Welt wie Hermine, Pablo und Maria bringen ihn zurück zur Normalität, ziehen ihn heraus aus seiner SteppenwolfExistenz. Wobei man an dieser Stelle auch sagen kann, dass die Figuren aus der bürgerlichen Welt als die fehlenden Teile Harrys Persönlichkeit gesehen werden können, die wie Spiegelbilder fungieren.
Vonjeden der drei Figuren lernt Harry etwas, das ihn von der Steppenwolf-Seite abbringt: beispielsweise lernt er von Hermine das Tanzen, das Loslassen; von Pablo lernt er ein anderes Verständnis der Musik und er führt ihn später auch in sein magisches Theater; von Maria lernt er die sinnliche Seite des Lebens: Leidenschaft und Sexualität. Diese Aspekte bringen dem sonst so niedergeschlagenen Harry Normalität in sein Leben.
Dasselbe gilt auch für Anselmus: die Figuren der bürgerlichen Welt führen ihn immer wieder zur Normalität zurück. Sowohl Registrator Heerbrand, Konrektor Paulmann und Veronika als auch die Rauerin bringen ihn von seiner träumerischen Seite ab und hin zur Normalität. Im Fall der Rauerin wird auch der Zauber von der bürgerlichen Seite, von Veronika, induziert.
Interessant ist hierbei, dass Anselmus an Veronika leicht „abgefärbt“ zu haben scheint, denn aus Frust wendet sie sich an die Hexe, die einen Zauber vollführt, sodass Anselmus ihr gehört. Somit musste ein Zauber der wahnhaften Seite genutzt werden, um die Normalität der bürgerlichen Gesellschaft zu erzeugen und zu wahren.
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- Anonymous,, 2019, Vergleich Hermann Hesses "Steppenwolf" und E.T.A. Hoffmanns "Der goldne Topf". Wahn und Vernunft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/517350