Unsere heutige Gesellschaft sieht sich mit immensen globalen Problemen konfrontiert. Immer häufiger stellt sich die Frage, wie wir uns in Gruppen organisieren und welches Verhalten wir als richtig und falsch beurteilen. Im Umgang mit diesen Herausforderungen kann die Moralpsychologie Erkenntnisse darüber liefern, wie Moral funktioniert.
Welche Bedeutung haben Emotionen für moralische Entscheidungen? Wie hängen moralische Überzeugungen und Verhaltensweisen vom kulturellen oder sozialen Kontext ab? Was beinhaltet die Moral Foundations Theory?
Anhand eines Online-Fragebogens analysiert Malwina Ulrych emotionale Reaktionen auf moralische Verstöße. Sie geht darauf ein, ob und wie sich diese Reaktionen je nach Kontext unterscheiden und leitet daraus die Bedeutung von Emotionen für moralisches Erleben und Verhalten ab.
Aus dem Inhalt:
- Moral Foundations Theory;
- Moralpsychologie;
- Emotionsverständnis;
- Moralisches Verhalten;
- Soziale Nähe
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Die Bedeutung von Emotionen für moralisches Erleben und Verhalten
2.2 Die Bedeutung des Kontextes für moralisches Erleben und Verhalten
3 Methode
3.1 Stichprobe
3.2 Studiendesign
3.3 Stimulusmaterial
3.4 Abhängige Variablen
3.5 Ablauf
4 Ergebnisse
4.1 Vorbereitende Datenanalyse
4.2 Deskriptive Befunde
4.3 Hypothesenprüfung
4.4 Weiterführende Analysen
5 Diskussion
5.1 Zusammenfassung der Kernbefunde
5.2 Interpretation in Bezug auf die moralischen Grundlagen
5.3 Interpretation in Bezug auf Kontextunterschiede
5.4 (Methodische) Limitationen
5.5 Fazit
Literaturverzeichnis
Danksagung
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Zusammenfassung
Laut der Moral Foundations Theory (MFT) gibt es sechs moralische Grundlagen (Fürsorge, Gerechtigkeit, Loyalität, Autorität, Reinheit und Freiheit), anhand derer wir moralische Urteile treffen und auf deren Verletzung wir mit unterschiedlichen Emotionen reagieren. In dieser Studie wurden zum einen diese spezifischen Grundlage-Emotion-Verknüpfungen überprüft; zum anderen wurde untersucht, inwiefern diese Zusammenhänge kontextabhängig sind. Dazu wurden im Rahmen einer Online-Befragung (N = 193) die emotionalen Reaktionen (Ärger, Wut, Groll, Ekel, Abscheu, Verachtung, Abneigung, Mitgefühl und Mitleid) auf Beschreibungen moralischer Verstöße erhoben, die entweder im Kontext der Familie, des Arbeitsplatzes oder der Öffentlichkeit situiert waren. Die Ergebnisse wurden varianzanalytisch sowie durch Vergleiche der deskriptiven Statistiken ausgewertet. Die von der MFT postulierten Grundlage-Emotion-Verknüpfungen konnten zwar für vier der sechs moralischen Grundlagen bestätigt werden, doch die hohen Interkorrelationen zwischen manchen der erhobenen Emotionen legen nahe, dass Ärger und Ekel ausreichen könnten, um diese Verknüpfungen adäquat abzubilden (mit Ekel als spezifischer Reaktion auf Reinheitsverletzungen und Ärger als unspezifischer Reaktion auf andere moralische Verstöße). Im Hinblick auf Kontextunterschiede fanden sich Hinweise darauf, dass emotionale Reaktionen auf Verletzungen der Loyalitätsgrundlage umso intensiver ausfallen, je größer die soziale Nähe zwischen den Beteiligten ist, während auf andere moralische Verstöße mit weniger negativem Affekt sowie mehr Mitgefühl und Mitleid reagiert wird, je größer die soziale Nähe ist. Die vorliegende Studie bestätigt die wichtige Rolle von Emotionen für die Moralpsychologie und liefert mehrere Hinweise auf eine Kontextabhängigkeit moralischer Emotionen. Soziale Nähe scheint hier ein relevanter Faktor zu sein und sollte in zukünftige Forschung zu moralischen Emotionen miteinbezogen werden.
Abstract
According to moral foundations theory (MFT), there are six moral foundations (care/harm, fairness/cheating, loyalty/betrayal, authority/subversion, sanctity/degradation and liberty/oppression) that underlie our moral judgments and lead to different emotional reactions when violated. By means of an online survey (N = 193), this study tested these specific foundation–emotion–links and examined to what extent they depend on context. The survey measured emotional reactions to descriptions of moral violations that were situated either in the context of family, the workplace or the public. Results were analyzed through ANOVAs as well as comparisons of descriptive statistics. Four of the six foundation–emotion–links were confirmed. However, the high correlations between some of the emotional variables suggest that anger and disgust could suffice to adequately describe emotional reactions to moral violations (with disgust specifically linked to purity violations and anger as a less specific reaction). Regarding differences between contexts, reactions to moral violations seem to differ according to how close the people involved are to one another. Results indicate (a) that emotional reactions to loyalty violations are higher when the people involved are closer to each other and (b) that the violations of other foundations are met with less negative affect as well as stronger compassion and pity when they happen in a socially closer context. The present study confirms the important role of emotions for moral psychology and provides various indicators that moral emotions are context dependent. Social closeness seems to be a relevant factor and should be included in future research.
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Die von der Moral Foundations Theory postulierten moralischen Grundlagen
Tabelle 2 Die als Stimulusmaterial verwendeten Vignetten moralischer Verstöße
Tabelle 3 Mittelwerte und Standardabweichungen aller Emotionsvariablen
Tabelle 4 Deskriptive Statistiken für die Emotionsintensität
Tabelle 5 Ergebnisse der Kontrastanalysen für die emotionalen Reaktionen auf Verletzungen der moralischen Grundlagen
Tabelle 6 Alle Effekte der gemischten ANOVA mit Emotionen und moralischen Grundlagen als Innersubjektfaktoren und Kontext als Zwischensubjektfaktor
Tabelle 7 Mittelwerte und Standardabweichungen der über die verschiedenen Emotionen und moralischen Grundlagen hinweg gemittelten Emotionswerte
Tabelle 8 Interkorrelationen der über die moralischen Grundlagen hinweg gemittelten Emotionswerte
Tabelle 9 Mittelwerte und Standardabweichungen der zusammengesetzten Emotionsvariablen
Tabelle 10 Ergebnisse der Kontrastanalysen für die zusammengesetzten emotionalen Reaktionen auf Verletzungen der einzelnen moralischen Grundlagen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 . Übersicht aller Randomisierungsstufen der dargebotenen Vignetten
Abbildung 2 . Emotionale Reaktionen auf Verletzungen der einzelnen moralischen Grundlagen
Abbildung 3 . Emotionale Reaktionen auf Verletzungen der Einzelnen moralischen Grundlagen, nach Kontext getrennt
1 Einleitung
„Moral ist die Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur.“(Nietzsche, 1967–1991)1
Friedrich Nietzsche hatte keine gute Meinung von der Moral. Er übte scharfe Kritik an den seinerzeit vorherrschenden, christlich geprägten bürgerlichen Moralvorstellungen, an seinen Philosophenkollegen, welche diese Konventionen unhinterfragt übernommen hätten, sowie an der Grundidee, dass Moral „gegeben“ sei (Nietzsche, 1886/1924, S. 94), etwas Absolutes, das unabhängig vom Menschen und seiner Kultur besteht. Er forderte eine „Wissenschaft der Moral“, die sich statt mit philosophischer Legitimation bestehender Normen lediglich in nüchterner, naturwissenschaftlicher Manier mit der „Sammlung des Materials“ beobachtbarer „Werthgefühe und Werthunterschiede“ sowie der Ordnung dieses Materials zu einer „Typenlehre der Moral“ beschäftigen sollte (Nietzsche, 1886/1924, S. 93).
Es scheint, als sei die Moralpsychologie dieser Forderung mit erheblicher Verzögerung endlich nachgekommen – und sie gibt Nietzsche in manchen Punkten durchaus Recht. Zum einen seinem Perspektivismus: Der systematische interkulturelle Vergleich verschiedener Moralsysteme, z.B. zwischen Ländern (vgl. Shweder, Much, Mahapatra, & Park, 1997) aber auch zwischen politischen Kulturen (z.B. nordamerikanischen Konservativen und Liberalen; vgl. Graham, Haidt, & Nosek, 2009) hat den Pluralismus bestehender Werte deutlich gemacht. Er macht es schwierig, einzelne moralische Prinzipien herauszugreifen und als „absolut gegeben“ zu betrachten. „Alles, was wir jetzt unmoralisch nennen, ist irgendwann und irgendwo einmal moralisch gewesen.Was bürgt uns dafür, dass es seinen Namen nicht noch einmal verändert?“, schrieb Nietzsche (1967–1991) schon 18802.
Eine weitere Parallele zwischen Nietzsches Kritik an der Moral und den neueren Erkenntnissen der Moralpsychologie liegt in ihrer Skepsis gegenüber der Rationalität. In der Philosophie (als erste Wissenschaft, die sich mit Moral beschäftigte) herrschte jahrhundertelang die Auffassung vor, dass Fragen nach Richtig und Falsch grundsätzlich der Vernunft zugänglich sind und auch idealerweise mit ihrer Hilfe beantwortet werden sollten (Solomon, 1993). Platons (4. Jh. v. Chr./2017) Analogie des geteilten Selbst, in welchem die Vernunft, angesiedelt im Kopf, über die aus dem Bauch kommenden Leidenschaften regiert, ist ein frühes Beispiel dafür; Kants kategorischer Imperativ, der sich allein aus der Vernunft ableiten lässt (Kant, 1788), ist wohldas bekannteste. Auch in der Moralpsychologie, die sich im 20. Jahrhundert von der Philosophie emanzipierte, blieb der Fokus lange Zeit auf dem logischen Denken, insbesondere auf der Entwicklung des moralischen Urteilens (vgl. Kohlberg, 1969, und Piaget, 1954). Doch im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat sich diesbezüglich eine Wende vollzogen, bei Haidt (2003) sogar als affektive Revolution beschrieben, in der Wissenschaftler*innen3 vermehrt die emotionalen Aspekte von moralischem Handeln und Erleben untersuchen. „Die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte“ schrieb Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (1886/1924, S. 96) – in dieser Krassheit würden ihm wohl die wenigsten Moralpsycholog*innen zustimmen, doch viele sind sich einig, dass Emotionen sowie unbewusste, intuitive Prozesse eine weitaus größere Bedeutung für die Moral haben, als bisher angenommen.
Die schlechte Meinung allerdings, die Nietzsche von der Moral an sich hatte, und der im Anfangszitat angedeutete Widerspruch oder Widerstreit zwischen Moral und Natur finden sich so in der Moralpsychologie nicht wieder. Vielmehr wird aus evolutionspsychologischer Perspektive eine Sicht angeboten, nach welcher sich Moral ganz pragmatisch als evolutionärer Vorteil gegenüber unseren Primatenvorfahren entwickelt hat (vgl. Haidt, 2012, Kapitel 9).
Tomasello, Carpenter, Call, Behne und Moll (2005) haben den Begriff der geteilten Intentionalität geprägt. Sie meinen damit einen fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und anderen Primaten: unsere Fähigkeit, gemeinsame mentale Repräsentationen von gemeinsamen Zielen zu bilden und kooperativ auf deren Erreichung hinzuarbeiten. Haidt (2012) beschreibt, wie diese Fähigkeit unseren Vorfahren ermöglichte, ihre Bedürfnisse weitaus effektiver zu befriedigen und wie dadurch die Grundlage für Moral als handlungsleitendes Konstrukt gelegt wurde: „When everyone in the group began to share a common understanding of how things were supposed to be done, and then felt a flash of negativity when any individual violated those expectations, the first moral matrix was born.“(S. 239).
Ferner erläutert er, dass diese Verhaltensnormen und gegenseitigen Erwartungen immer wichtiger wurden, je größer die Gruppen wurden, in denen Menschen miteinander lebten und kooperierten. Wenn Gruppen so groß werden, dass die Mitglieder nicht mehr persönliche Beziehungen zu allen anderen pflegen (und darauf ihr Vertrauen in gegenseitig kooperatives Verhalten gründen) können, braucht es andere verbindliche Strukturen, die das zwischenmenschliche Verhalten lenken und Kooperation ermöglichen. Aus dieser Perspektive beschreibt Moral also einen einzigartig menschlichen psychologischen Mechanismus, der uns befähigt, unser Zusammenleben auch innerhalb extrem großer Gruppen zu regulieren und kooperativ zu gestalten.
In unserer heutigen globalisierten Gesellschaft ist dies besonders wichtig: Wir sind mit immensen globalen Problemen konfrontiert – von Klimawandel über Welthunger bis hin zu Terrorismus – die viel damit zu tun haben, wie wir uns in Gruppen organisieren und welches Verhalten als richtig und falsch beurteilt wird. Hier liegt auch das Potential der Moralpsychologie: uns im Umgang mit diesen Herausforderungen Erkenntnisse darüber zu liefern, wie Moral funktioniert, wie wir moralische Entscheidungen treffen, wie wir über unterschiedliche Moralvorstellungen hinweg Konsens finden u.v.m.
Zwei dieser Erkenntnisse wurden bereits angeschnitten: zum einen die Bedeutung von Emotionen für moralische Entscheidungen und zum anderen die Abhängigkeit moralischer Überzeugungen und Verhaltensweisen vom jeweiligen kulturellen oder sozialen Kontext. Die darauf aufbauende zentrale Fragestellung der vorliegenden Studie ist, wie die emotionalen Reaktionen auf moralische Verstöße beschaffen sind und ob/wie sie sich je nach Kontext unterscheiden.
Dazu soll im Folgenden zunächst die Rolle moralischer Emotionen elaboriert und mit empirischen Befunden illustriert werden.Dann wird dieMoral Foundations Theory (Graham et al., 2013) dargestellt, welche sich stark aus den bereits beschriebenen evolutionspsychologischen Überlegungen speist und das theoretische Fundament der vorliegenden Arbeit darstellt. Im Anschluss wird die Bedeutung des Kontextes für moralisches Erleben und Verhalten erläutert. Aus all diesen Betrachtungen heraus werden konkrete Forschungshypothesen abgeleitet.
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Die Bedeutung von Emotionen für moralisches Erleben und Verhalten
Nachdem, wie bereits beschrieben, lange Zeit die Ratio im Fokus moralphilosophischer und –psychologischer Forschung stand, hat seit den 1980er Jahren das Interesse an moralischen Emotionen in der Moralpsychologie immens zugenommen, wie an der Anzahl entsprechender wissenschaftlicher Veröffentlichungen deutlich wird (Haidt, 2003). Daraus hat sich eine ganze Reihe von Erkenntnissen ergeben, die sehr deutliche Hinweise darauf geben, dass Emotionen eine herausragende Rolle für unser moralisches Erleben und Verhalten zukommt. Olatunji und Puncochar (2014) geben einen guten Überblick über diese Erkenntnisse, von denen einige im nächsten Abschnitt näher beleuchtet werden sollen.
2.1.1 Empirische Hinweise auf die Bedeutung von Emotionen für Moral
(1) Unsere intuitiven und emotionalen Fähigkeiten sind nicht nur phylogenetisch älter als unsere Fähigkeit zur bewussten, rationalen, sprachlich vermittelten Informationsverarbeitung – sie entwickeln sich auch später innerhalb unserer Lebensspanne. So können Babys bereits im Alter von sechs Monaten, also lange bevor von vernunftgesteuertem Verhalten die Rede sein kann, zwischen pro- und antisozialen Verhalten unterscheiden (Hamlin, Wynn, & Bloom, 2007) und scheinen empathiefähig zu sein (Kanakogi, Okumura, Inoue, Kitazaki, & Itakura, 2013), was eine wichtige Voraussetzung für moralisches Verhalten darstellt.
(2) Moralische Intuitionen bzw. Beurteilungen darüber, ob Verhalten „gut“ oder „schlecht“ ist, entstehen spontan und automatisch und beeinflussen konsequent moralische Entscheidungen.Luo et al. (2006) konnten mithilfe eines impliziten Assoziationstests zeigen, dass dies auch geschieht, ohne dass bewusst versucht wird, ein solches Urteil zu treffen. Einen weiteren Hinweis gibt das Phänomen des „moral dumbfounding“, der moralischen Sprachlosigkeit. Damit ist die Ratlosigkeit gemeint, die entsteht, wenn ein subjektives moralisches Urteil nicht rational erklärt werden kann und sogar anhält, wenn es in Widerspruch zu rationalen Argumenten steht. Das in der Literatur häufig zitierte Paradebeispiel stammt von Haidt (2001) und handelt von einem Bruder und einer Schwester, die in gegenseitigem Einvernehmen Geschlechtsverkehr haben, und zwar ohne emotionalen Schaden zu nehmen und ohne dass ein Schwangerschaftsrisiko besteht. Die meisten Menschen, die mit diesem Szenario konfrontiert werden, verurteilen es als moralisch falsch, ohne dafür logische Gründe anführen zu können. Das bringt beträchtliche kognitive Dissonanz mit sich, die aber meistens nicht zu einer Revidierung des Urteils führt, was wiederum mit der Dominanz des emotional gesteuerten und nicht bewusst beeinflussbaren, intuitiven Urteils erklärt wird (Haidt, 2001).
(3) Moralische Entscheidungen bleiben unberührt von einer induzierten Einschränkung der rationalen Informationsverarbeitungskapazität, wie Greene, Morelli, Lowenberg, Nystrom und Cohen (2008) zeigen konnten. Sie verglichen persönlich relevante, moralische Dilemmata mit unpersönlichen, utilitaristisch geprägten Dilemmata. Bei zusätzlicher kognitiver Belastung durch gleichzeitig vorgegebene Denkaufgaben verlängerte sich die Reaktionszeit auf utilitaristische, nicht aber auf moralische Dilemmata. Letztere scheinen also mit moralischen Entscheidungen zusammenzuhängen, die relativ unabhängig von bewussten Denkprozessen stattfinden.
(4) Dass emotionale Reaktionen für moralisches Verhalten unabdingbar sind, zeigt schließlich auch Forschung an Menschen, deren emotionale Reaktionsfähigkeit eingeschränkt ist. Dies betrifft zum einen Menschen mit hirnphysiologischen Verletzungen. Ein besonders illustratives Beispiel hierfür bietet Damasio (1994) mit „Elliott“, einem Patienten, der aufgrund eines Gehirntumors seine Emotionsfähigkeit verlor – und damit auch seine Fähigkeit, praktische Alltagsentscheidungen zu treffen. So berichtet der Spiegel (Kast, 2008), dass Elliott Stunden damit verschwenden konnte, zu überlegen, nach welchem Prinzip er seine Arbeitsunterlagen sortieren sollte. Derartige Verhaltensweisen führten schließlich dazu, dass er seine Arbeitsstelle verlor, bankrottging, sich zweimal scheiden ließ u.v.m. – all das, obwohl weder seine Intelligenz noch sein Gedächtnis beeinträchtigt waren und auch andere Leistungs- und Persönlichkeitstests keine Auffälligkeiten zutage förderten.
Koenigs et al. (2007) fanden ferner, dass Patienten mit Verletzungen im ventromedialen Präfrontalkortex (vmPFC), dessen Aktivität mit der Entstehung sozialer Emotionen assoziiert wird, ungewöhnlich utilitaristische Entscheidungen bei moralischen Dilemmata trafen. Auch Decety, Michalska und Kinzler (2011) betonen die Bedeutung affektiver Prozesse und speziell des vmPFC bei der Verarbeitung empathieinduzierender Stimuli.
Weitere interessante Hinweise auf die Bedeutung von Emotionsfähigkeit für moralische Entscheidungen finden sich in der Psychopathieforschung (vgl. Prinz, 2006). Psychopathie ist durch erhebliche emotionale Defizite gekennzeichnet, insbesondere was Angst und Trauer (Blair, Colledge, Murray, & Mitchell, 2001; Prinz, 2006), Scham und Reue (Glenn, Raine, & Schug, 2009) sowie Mitgefühl (Blair, 2007) für andere Menschen betrifft. Dies geht mit einem normwidrigen Moralempfinden einher: Psychopath*innen machen keinen Unterschied zwischen Verletzungen sozialer Konventionen und „echten“ moralischen Verstößen (Blair, 1995) und entscheiden dementsprechend bei moralischen Dilemmata eher nach utilitaristischen Prinzipien (Glenn et al., 2009). Das fehlende emotionale Erleben scheint hier also das moralische Verständnis zu beeinträchtigen.
(5) Schließlich zeigen verschiedene neuropsychologische Studien, dass sich Verhalten in moralisch aufgeladenen Situationen besser durch Emotionen (bzw. die Aktivierung emotionsbezogener Hirnregionen) als durch logisches Denken vorhersagen lässt (vgl. Sanfey, Rilling, Aronson, Nystrom, & Cohen, 2003; Rilling et al., 2007). Zudem wird (induzierter) negativer Affekt mit harscheren moralischen Urteilen in Verbindung gebracht (Horberg, Oveis, & Keltner, 2011; Valdesolo &DeSteno, 2006; Wheatley & Haidt, 2005). Die mittlerweile klassische fMRT-Studie von Greene, Sommerville, Nystrom, Darley und Cohen(2001) schließlich demonstriert, dass emotionale Aktivierung der Schlüssel sein könnte, um die unterschiedlichen Reaktionen auf persönliche und unpersönliche moralische Dilemmata zu erklären und gilt als weiterer Hinweis auf die allgemeine Bedeutsamkeit von Emotionen für moralisches Erleben und Verhalten.
2.1.2 Theoretische Zugänge zum Zusammenhang zwischen Emotion und Moral
Der Zusammenhang zwischen Emotion und Moral ist Gegenstand verschiedener psychologischer Theorien. Als Erstes sei die Affective Primacy Theory von Zajonc (1980) genannt, der davon ausgeht, dass spontane positive und negative affektive Reaktionen automatisch, also ohne bewusste Kontrolle und vor allem unabhängig von kognitiven Verarbeitungsprozessen auftreten (können). Oder wie es im Untertitel seines mittlerweile klassischen Artikels heißt: „preferences need no inferences“. Zajonc’ Theorie führte in den 1980er Jahren zu einer erhitzten wissenschaftlichen Debatte mit Lazarus (1982), welcher mit seiner Appraisal-Theorie darauf bestand, dass erst die kognitive Bewertung eines Reizes die Entstehung distinkter Emotionen ermöglicht (und damit die historisch dominante Seite der Rationalisten vertrat).
In der weiteren Entwicklung der Emotions- und Moralpsychologie nehmen viele Autor*innen diesbezüglich eine versöhnlichere Haltung ein. Ein sehr bekanntes Beispiel hierfür ist die Dual Process Theory von Greene (2007). Diese postuliert, dass Affekt und Ratio zwei distinkte Methoden darstellen, die wir nutzen, um moralische Entscheidungen zu treffen. Die affektiv-intuitive Methode funktioniert schnell und relativ automatisch; die vernunftbasierte Methode ist bewusst, kontrolliert und mühsamer. Eine zentrale Annahme der Theorie ist, dass verschiedene Situationen (oder moralische Dilemmata) die intuitiven Prozesse in unterschiedlichem Ausmaß aktivieren und dass diese Unterschiede wiederum die moralischen Entscheidungen beeinflussen (Greene et al., 2001).
Nichols (2002) schlägt eine sog. Affect-Backed Normative Theory vor, in welcher moralisches Urteilen ebenfalls auf zwei Mechanismen basiert, die denen aus der Dual Process Theory von Greene (2007) nicht unähnlich sind: zum einen die (gelernte) Regel, dass man anderen nicht schaden darf, und zum anderen die spontanen affektiven Reaktionen, die durch das Leiden anderer ausgelöst werden. Schein und Gray (2018) weisen mit ihrer Theory of Dyadic Morality in eine ähnliche Richtung, postulieren aber drei Elemente, die moralischen Urteilen zugrunde liegen: Regelverletzung, negativer Affekt und wahrgenommener Schaden.
Insgesamt scheint der Trend in der moralpsychologischen Forschung dahinzugehen, weniger auf der Dichotomie zwischen emotionalen und rationalen Prozessen herumzureiten, sondern stattdessen die Prozesse selbst sowie ihre Interaktion miteinander genauer zu untersuchen (Helion & Pizarro, 2015). Wie Helion und Ochsner (2018) in ihrem Review schreiben: “The field of moral psychology has done an excellent job of bringing emotion into the study of moral behavior, now it’s just a matter of figuring out the specific parameters of the role that it plays.” (S. 305)
Genau dieses Ziel verfolgten bereits 1999 Rozin, Lowery, Imada und Haidt mit ihrer CAD-Triaden-Hypothese. Diese basiert auf den sog. Big Three der Moral (Shweder et al., 1997). Shweder untersuchte Moral aus kulturpsychologischer Perspektive und hatte dazu unter anderem zusammen mit Kolleg*innen eine ausführliche Interviewstudie in Indien durchgeführt (Shweder et al., 1997), in der die Teilnehmenden unterschiedliche Verhaltensweisen auf ihre moralische Verwerflichkeit hin beurteilten. In der Analyse dieser Interviews fanden die Autor*innen drei moralische Prinzipien, auf die diese Urteile zurückgeführt werden konnten (vgl. Haidt, 2012, S. 116 f., für eine treffende Zusammenfassung). Das erste Prinzip ist die Ethik der Autonomie, in der es um die persönliche Freiheit, Unversehrtheit und Entfaltung des Individuums geht, die es zu schützen gilt. Das zweite Prinzip ist die Ethik der Gemeinschaft, welche unsere soziale Einbettung betont und die Gruppen, denen wir angehören (einschließlich ihrer hierarchischen und sonstigen organisatorischen Strukturen) zu schützen sucht. Shweders drittes Prinzip schließlich ist die sog. Ethik der Göttlichkeit, nach der die Menschen in erster Linie „Kinder Gottes“ sind bzw. etwas Heiliges in sich tragen, das sie von der Tierwelt unterscheidet und das es ebenfalls zu schützen gilt. Gigerenzer (2007) hat diese Unterscheidung ebenfalls übernommen, benennt die Prinzipien aber etwas anders: Er spricht von der Ethik des Individuums, der Familie und der Gemeinschaft, respektive.
Ein wesentlicher Beitrag von Shweder war es, die Kulturabhängigkeit dieser Ethiken herauszuarbeiten. So steht im globalen Westen die Ethik der Autonomie eindeutig im Vordergrund, während der Rest der Welt auch den anderen beiden Ethiken große Bedeutung beimisst.
Rozin et al. (1999) bauten auf Shweders Big Three auf und postulierten mit ihrer CAD-Triaden-Hypothese spezifische Zusammenhänge zwischen den drei Ethiken und verschiedenen Emotionen: Verstöße gegen die Ethik der Autonomie lösen Ärger aus, Verstöße gegen die Ethik der Gemeinschaft führen zu Verachtung und Verstöße gegen Göttlichkeit (auch als Reinheit beschrieben) verursachen Ekel. (Das Akronym CAD steht dementsprechend für contempt, anger und disgust.) Die Ergebnisse der vier von Rozin et al. (1999) beschriebenen, kulturübergreifenden Studien passten weitestgehend zu dieser Hypothese und stellten somit einen der ersten soliden Hinweise auf spezifische Verbindungen zwischen moralischen Prinzipien (bzw. deren Verletzung) und unterschiedlichen Emotionen dar.
Die wohl bekannteste Weiterentwicklung von Shweders drei Ethiken ist die Moral Foundations Theory (MFT), die insbesondere mit Jonathan Haidt in Verbindung gebracht wird, einem von Rozins Koautoren des soeben beschriebenen Artikels aus 1999. Die MFT soll im Folgenden genauer dargestellt werden.
2.1.3 Moral Foundations Theory: Postulate
Vorreiter der MFT war der Social Intuitionist Approach von Haidt (2001). Dieser fußt auf den beiden in der Einleitung beschriebenen Erkenntnissen der modernen Moralpsychologie: der Abhängigkeit moralischer Vorstellungen von dem jeweiligen sozialen Umfeld, aus dem sie stammen, sowie eine Ablehnung rationalistischer Erklärungen für moralische Entscheidungen. „The model is a social model in that it deemphasizes the private reasoning done by individuals and emphasizes instead the importance of social and cultural influences. The model is an intuitionist model in that it states that moral judgment is generally the result of quick, automatic evaluations (intuitions)” (Haidt, 2001, S. 814). Haidt negiert nicht, dass rationale Überlegungen eine Rolle in der moralischen Domäne spielen, reduziert deren Rolle aber auf das Generieren von “ex post facto” Erklärungen (Haidt, 2001, S. 817). In seinem Buch The Righteous Mind vergleicht er den bewussten Verstand mit einem Pressesprecher, dessen Aufgabe darin besteht, jede beliebige Meinung der Präsidentin – unserer moralischen Intuition, welche ihre Entscheidung bereits getroffen hat – zu rechtfertigen (Haidt, 2012. S. 106f).
Der Social Intuitionist Approach wurde von mehreren Autoren – neben Jonathan Haid seien insbesondere Craig Joseph (vgl. Haidt & Joseph, 2004, 2008) und Jesse Graham (vgl. Graham et al., 2013) erwähnt – zur MFT weiterentwickelt. Graham et al. (2013) nennen vier Postulate, welche diese Theorie ausmachen:
Nativismus
Die MFT geht davon aus, dass es einen angeborenen „ersten Entwurf“ unseres Moralsinns gibt, der durch Erfahrungen im Laufe des Lebens revidiert wird. Mahlmann (2007) nennt dies in Anlehnung an Chomsky (1957) die „Universalgrammatik der Moral“. Damit ist nicht gemeint, dass die Inhalte moralischer Vorstellungen durch unsere Biologie determiniert sind (ebenso wenig wie die Wörter unserer Muttersprache genetisch übertragen werden). Vielmehr ist unsere Fähigkeit und Tendenz, Verhalten nach richtig und falsch, nach Gut und Böse zu sortieren, angeboren (genauso wie unsere Sprachbegabtheit an sich ein gutes Stück weit angeboren ist, einschließlich einiger fundamentaler grammatischer Strukturen).
Kulturelles Lernen
Die „ersten Entwürfe“ moralischer Prinzipien werden durch die kulturellen Einflüsse geformt, denen wir im Laufe unseres Lebens (insbesondere während Kindheit und Jugend) ausgesetzt sind. Diese Integration der „nature and nurture“-Dichotomie erklärt, warum zum einen nicht jedes beliebige Moralsystem etabliert werden kann und zum anderen, warum es dennoch eine beachtliche interkulturelle Varianz moralischer Vorstellungen gibt (vgl. Graham et al., 2013, S. 9).
Intuitionismus
Dieses Postulat greift Haidts (2001) These auf, dass moralische Entscheidungen zunächst intuitiv, automatisch und häufig unbewusst getroffen werden und erst im Nachgang bewusst und rational gerechtfertigt werden.
Pluralismus
Das letzte Postulat der MFT bezieht sich nicht so sehr auf kulturellen moralischen Pluralismus, sondern auf eine Reihe moralischer Grundlagen (welche namensgebend für die MFT sind), die zwar in allen Kulturen vorkommen, aber sich in ihrer relativen Bedeutsamkeit und Gewichtung von Kultur zu Kultur unterscheiden. Laut der MFT korrespondieren diese Grundlagen mit spezifischen evolutionären Herausforderungen, mit denen unsere Spezies seit jeher konfrontiert gewesen ist. Die moralischen Grundlagen können demnach als kollektive, adaptive Antwort auf diese Herausforderungen begriffen werden. Tabelle 1 stellt die klassischen fünf, von der MFT als erstes untersuchten moralischen Grundlagen einschließlich der jeweiligen evolutionären Herausforderungen dar.
2.1.4 Moral Foundations Theory: Die moralischen Grundlagen
In The Righteous Mind beschreibt Haidt (2012) die Entwicklung dieser fünf Grundlagen zusammengefasst folgendermaßen: Ausgehend von Shweders Arbeit zur kulturellen Variabilität von moralischen Vorstellungen (vgl. Shweder et al., 1997) sowie der Erkenntnis, dass sich ein Großteil der (moral-) psychologischen Forschung auf Stichproben stützt, die mit dem Akronym WEIRD (western, educated, industrialized, rich, democratic) beschrieben werden können (Henrich, Heine, &Norenzayan, 2010), versuchte Haidt, ein umfassenderes, realistischeres, gar universelles Modell des menschlichen Moralsinns zu entwerfen, welches über kulturelle Grenzen hinaus valide wäre. Sein Ansatz war, Tugenden aus der ganzen Welt zu analysieren, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, und insbesondere Verbindungen zwischen Tugenden und etablierten Evolutionstheorien zu entdecken (Haidt, 2012, S. 142f). Als theoretischen Rahmen nutzten er und Craig Joseph (vgl. Haidt & Joseph, 2004, 2008) das Konzept der Modularität nach Sperber und Hirschfeld (2004). Kognitive Module in diesem Sinn beschreiben angeborene Mechanismen, die von spezifischen überlebensrelevanten Umweltreizen aktiviert werden und zu einer unmittelbaren adaptiven Reaktion führen. Paradebeispiel für ein solches Modul ist die Fähigkeit vieler Säugetiere, Schlangen zu erkennen (auch in schlangenähnlichen Objekten) und zu meiden.
Die von Haidt (2012, Kap.6) beschriebene Idee ist, dass sich das menschliche Moralvermögen aus ähnlichen Modulen zusammensetzt, die sich als Adaptation an fundamentale, überlebensrelevante soziale Herausforderungen entwickelt haben. Diese Mechanismen erlauben uns, sehr sensibel für bestimmte soziale Reise (z.B. Ungerechtigkeit) zu sein und sofort intuitiv darauf zu reagieren, wobei diese Reaktion häufig über spezifische Emotionen (z.B. Ärger) vermittelt wird.
Die MFT geht davon aus, dass die genaue Anzahl dieser Mechanismen unbekannt ist. In ihrem ersten gemeinsamen Artikel aus 2004 beschreiben Haidt und Joseph vier moralische Grundlagen; 2008 listen sie fünf moralische Grundlagen (vgl. Tabelle 1), die für die MFT quasi als kanonisch gelten; inzwischen wird von mindestens sechs ausgegangen (Haidt, 2012). Die vorliegende Studie basiert auf der aktuellsten Version der MFT mit sechs distinkten moralischen Grundlagen (vgl. Graham et al., 2013, sowie Haidt, 2012), welche nachfolgend näher beleuchtet werden sollen. Am Anfang seien immer auch die englischen Wortpaare genannt, die im Original zur Beschreibung der jeweiligen Grundlage verwendet werden.
Fürsorge (care/harm)
Eine Besonderheit von Säugetieren im Allgemeinen und Menschen im Speziellen ist, dass unser Nachwuchs extrem hilfsbedürftig zur Welt kommt und relativ lange von der Fürsorge der Erwachsenen (insbesondere der Mutter) abhängig bleibt. Das heißt auch, dass es einen evolutionären Vorteil darstellt, sensibel zu sein für die Bedürfnisse und insbesondere für mögliches Leiden unserer Kinder (und, im erweiterten Sinne, unserer genetischen Verwandten). Diese Sensibilität stellt laut der MFT die moralische Grundlage der Fürsorge dar. Diese wird mittlerweile nicht nur aktiviert, wenn wir unsere Kinder bzw. Verwandten in Not sehen, sondern hat sich generalisiert auf Reize, die dem Kindchenschema entsprechen (vgl. in Tabelle 1: Robbenbabys und Zeichentrickfiguren) sowie auf menschliches Leiden ganz allgemein. Das Fürsorgeprinzip findet sich in allen bekannten religiösen und ethischen Lehren wieder, insbesondere im Verbot, anderen Menschen zu schaden sowie im Gebot, sich um Hilfsbedürftige zu kümmern. Wird das Fürsorgeprinzip verletzt (z.B. wenn wir beobachten, dass ein Person A Person B körperlich verletzt), reagieren wir spontan und intuitiv mit Mitgefühl für das Opfer (und womöglich mit Wut auf Person A).
Gerechtigkeit (fairness/cheating)
Die zweite moralische Grundlage der MFT basiert auf Trivers’ (1971) Idee, dass wir bestimmte emotionale Reaktionen speziell zu dem Zweck entwickelt haben, reziproken Altruismus mit Nicht-Verwandten zu ermöglichen. Dazu wäre eine intuitive Sensibilität für kooperatives sowie ungerechtes oder betrügerisches Verhalten von evolutionärem Vorteil. Die MFT besagt, dass dieses Gerechtigkeitsmodul ursprünglich nur vom Verhalten direkter Interaktionspartner aktiviert wurde, sich aber im Laufe unserer Geschichte auf unbeteiligte Dritte generalisiert hat (insbesondere durch den sozialen Mechanismus von gossip/Tratsch; vgl. Dunbar, 1996) und sogar von Objekten wie kaputten Getränkeautomaten getriggert werden kann. Letzteres Beispiel illustriert auch auf sehr eingängige Weise, dass wir auf Verletzungen des Gerechtigkeitsprinzips in erster Linie mit Ärger reagieren.
Loyalität (loyalty/betrayal)
Schon in der Einleitung wurde die zentrale Funktion von Moral mit der Notwendigkeit erklärt, Kooperation innerhalb von Gruppen durch bestimmte Verhaltensnormen zu organisieren und zu regulieren. Insbesondere vor dem Hintergrund konkurrierender Gruppen, die um begrenzte Ressourcen wetteifern, stellt Gruppenloyalität (bis hin zu Selbstaufopferung für das große Ganze) einen evolutionären Vorteil dar. Die MFT geht deswegen davon aus, dass Loyalität eine weitere moralische Grundlage darstellt, deren Befriedigung mit Gruppenstolz und einem Gefühl von Zugehörigkeit einhergeht und auf deren Verletzung durch wie auch immer definierte Verräter mit Wut reagiert wird. Ursprüngliche Trigger des Loyalitätsprinzips waren existenzielle Herausforderungen und Bedrohungen der In-Group; heutzutage lässt sich dieser Mechanismus beispielsweise im Verhalten von Sportfans beobachten.
Autorität (authority/subversion)
Die MFT nimmt an, dass Hierarchie ein weiteres grundlegendes strukturierendes Element unseres Zusammenlebens in Gruppen darstellt, wie an der weiten Verbreitung von Dominanz und Unterwerfung sowohl unter Primaten als auch in menschlichen Kulturen ersichtlich sei. Dementsprechend haben wir eine Reihe von evolutionär adaptiven Mechanismen entwickelt, die uns einen intuitiven Umgang mit Macht und Autorität ermöglichen – und zwar in beide Richtungen der Hierarchie. Haidt und Joseph (2008) betonen, dass dieses moralische Prinzip gerade in liberalen Kreisen einen eher schlechten Ruf genießt, aber v.a. außerhalb des westlichen Kulturkreises häufig ganz selbstverständlich zur gesellschaftlichen Ordnung dazugehört. Auf emotionaler Ebene hängt das Autoritätsprinzip laut Haidt und Joseph (2004) im positiven Sinne mit Respekt und Ehrfurcht zusammen; eine Verletzung des Prinzips führt hingegen zu Groll. In ihrem Artikel von 2008 ersetzen sie diese emotionalen Reaktionen jedoch mit Respekt und Angst, ohne genauer auf diese Änderung einzugehen.
Reinheit (sanctity/degredation)
Diese moralische Grundlage ist die einzige, die auf einer evolutionären Herausforderung körperlicher (und nicht sozialer) Art basiert. Diese Herausforderung besteht darin, uns vor Mikroben und Parasiten zu schützen – eine Notwendigkeit, die wir mit anderen Primaten teilen, die allerdings für uns Menschen besonders wichtig wurde, als wir uns zu Omnivoren entwickelten, unser Habitat aus den Bäumen auf den Boden verlegten und uns in immer größeren Gruppen organisierten, durch die wir engem Kontakt mit einer Vielzahl an Artgenossen ausgesetzt waren. Die Emotion des Ekels scheint sich als adaptiver Mechanismus entwickelt zu haben, der uns für die Gefahren sensibilisiert, die von „unreinen“ Lebensmitteln, Geschlechtspartnern und sonstigen engen Kontakten ausgehen. Ekelreaktionen haben sich im Laufe der Zeit auch auf soziale Trigger generalisiert und hängen in vielen Kulturen mit Vorstellung von Religiosität und Göttlichkeit zusammen – man denke an die elaborierten Reinigungsrituale vieler spiritueller Traditionen. Daher werden in englischen Artikeln alternativ „purity“ und „sanctity“ als Bezeichnung für diese moralische Grundlage verwendet.
Freiheit
Die sechste moralische Grundlage wurde erst später in die MFT aufgenommen (Haidt, 2012, Kap. 8) und basiert auf der Erkenntnis, dass Gerechtigkeit zwei verschiedene Aspekte umfasst, die es eigentlich zu trennen gilt: Gleichberechtigung (oder Gleichheit; „equality“ im Original) und Proportionalität. Haidt (2012) beschreibt, dass die ursprünglich entwickelte Gerechtigkeitsprinzip eher mit Proportionalität zusammenhängt, also mit dem Anspruch, dass jeder Mensch das erhält, was ihm aufgrund seines Beitrags zur Gruppe zusteht – nicht mehr und nicht weniger. Das Bedürfnis nach Gleichberechtigung hingegen hat laut Haidt (2012) andere Wurzeln und basiert auf der evolutionären Herausforderung, dominante oder gar tyrannische Individuen, die innerhalb hierarchisch organisierter Gruppen Macht an sich reißen, im Zaum zu halten. Dafür wäre ein kognitives Modul adaptiv, das uns für jegliche Anzeichen versuchter Unterdrückung sensibilisiert. Ursprüngliche Trigger für diesen Mechanismus waren Verhaltensweisen dominanter Alphamenschen; moderne Trigger finden sich insbesondere in politischen Debatten rund um die Frage, inwiefern der Staat in die Rechte und Freiheiten seiner Bürger*innen eingreifen soll (sei es zum Schutz vulnerabler Minderheiten oder zum Schutz des „großen Ganzen“). Die emotionale Komponente dieser moralischen Grundlage ist laut Haidt (2012) Reaktanz im Sinne von „righteous anger“ (S. 201).
Die ursprünglichen fünf Grundlagen der MFT korrespondieren direkt mit Shweders Big Three: Fürsorge und Gerechtigkeit gehören zur Ethik der Autonomie, Loyalität und Autorität sind Aspekte der Ethik der Gemeinschaft und Reinheit korrespondiert mit der Ethik der Göttlichkeit (Haidt & Joseph, 2008).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1 Die von der Moral Foundations Theory postulierten moralischen Grundlagen
2.1.5 Empirische Befunde zur Moral Foundations Theory
Der Großteil der empirischen Forschung zur MFT dreht sich um Unterschiede zwischen politischen Lagern (Graham et al., 2013), insbesondere zwischen rechts und links, oder (in angelsächsischer Terminologie) zwischen Konservativen und Liberalen. So konnte wieder und wieder gezeigt werden, dass Liberale die Fürsorge- und Gerechtigkeitsgrundlagen deutlich höher gewichten als Loyalität, Autorität und Reinheit, während Konservative all diesen Grundlagen ähnliche Bedeutung beimessen (Graham, Haidt, & Nosek, 2009; Haidt & Graham, 2007; Freiheit wurde in den meisten dieser Studien noch nicht mit einbezogen). Daraus werden viele Implikationen und Anwendungsimpulse für den amerikanischen „Kulturkrieg“ zwischen Demokrat*innen und Republikaner*innen abgeleitet (vgl. Graham et al., 2009, 2013; Haidt, 2012). Weitere Forschung zur MFT beschäftigt sich u.a. mit der prädiktiven Validität der moralischen Grundlagen für Einstellungen (insbesondere bzgl. gesellschaftlicher Konfliktthemen; Koleva, Graham, Iyer, Ditto, & Haidt, 2012), dem Zusammenhang zwischen den moralischen Grundlagen und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen wie Psychopathie (Glenn, Iyer, Graham, Koleva, & Haidt, 2009) sowie der Erklärung globaler interkultureller Unterschiede (Graham et al., 2011).
In Anbetracht der zentralen Bedeutung, die Emotionen für die in der MFT postulierten Mechanismen haben (Haidt, 2001), gibt es bisher überraschend wenig Forschung, welche die Rolle von spezifischen Emotionen innerhalb der MFT systematisch untersucht. Es gibt viele Befunde für die allgemeine Bedeutsamkeit von Emotionen für moralisches Verhalten und Erleben (vgl. Abschnitt 2.1), aber wie Chapman und Anderson (2011) resümieren – „it is no longer sufficient for moral psychologists to say that ‚emotion’ is important in morality“ (S. 257). Ein Grundpfeiler der MFT sind die Zusammenhänge zwischen den einzelnen moralischen Grundlagen und den charakteristischen Emotionen, die durch deren Verletzung ausgelöst werden sollen (vgl. Tabelle 1). Um die MFT als produktive Basis für Forschung nutzen zu können, ist es wichtig, diese Zusammenhänge empirisch zu untersuchen.
Der Großteil der bisherigen Forschung zu den Zusammenhängen zwischen moralischen Grundlagen und spezifischen Emotionen basiert auf den Big Three von Shweder et al. (1997). Hier sei insbesondere die bereits erwähnte Studie von Rozin et al. (1999) genannt, welche zeigen konnte, dass Verstöße gegen die Ethik der Autonomie mit Ärger einhergehen, Verstöße gegen die Autonomie der Gemeinschaft mit Verachtung und Verstöße gegen die Ethik der Göttlichkeit mit Ekel. Insbesondere der Zusammenhang zwischen der moralischen Grundlage der Göttlichkeit bzw. Reinheit und Ekel konnte immer wieder dupliziert werden (z.B. Helzer & Pizarro, 2011; Horberg, Oveis, Keltner, & Cohen, 2009). Hier sei insbesondere eine aktuelle Studie von Wagemans, Brandt und Zeelenberg (2018) erwähnt, die systematisch überprüfte, ob Ekelempfindlichkeit wirklich am stärksten mit der moralischen Grundlage der Reinheit zusammenhängt. Dies konnte über fünf Studien hinweg bestätigt werden (r = .40) und wurde von den Autor*innen als Bestätigung der MFT gewertet. Gleichzeitig gibt es auch durchaus schlüssige Hinweise darauf, dass Ekel womöglich eine allgemeinere, domänenübergreifende Rolle für moralische Verstöße spielt (Hutcherson & Gross, 2011).
Für die anderen moralischen Grundlagen sieht die empirische Befundlage noch viel unklarer aus. Zum einen beschränkt sich die bisherige Forschung neben Ekel hauptsächlich auf die anderen beiden Emotionen der CAD-Triade (vgl. Rozin et al., 1999), also auf Ärger und Verachtung. Für die MFT spielt lediglich Ärger eine Rolle, und hier gibt es widersprüchliche Befunde. Manche Studien bestätigen, das Ärger in erster Linie mit Verletzungen des Gerechtigkeitsprinzips zusammenhängt (Krehbiel & Cropanzano, 2000; Weiss, Suckow, & Cropanzano, 1999), doch es gibt auch Hinweise darauf, dass Ärger eher durch Verstöße gegen das Fürsorgeprinzip ausgelöst wird (Cannon, Schnall, & White, 2011) oder gar durch Verletzungen unterschiedlicher moralischer Grundlagen (Cameron, Lindquist, & Gray, 2015, basierend auf Daten von Hofmann, Wisneski, Brandt, & Skitka, 2014).
Die erste und bisher einzige der Autorin bekannte Studie, welche explizit die von der MFT postulierten Zusammenhänge zwischen moralischen Grundlagen und spezifischen Emotionen überprüft, stammt von Landmann und Hess (2018). Diese untersuchten, welche Emotionen durch Verletzungen einzelner moralischer Grundlage (in Form von kurzen Vignetten mit entsprechenden Situationsbeschreibungen, welche den Studienteilnehmer*innen vorgelegt wurden) ausgelöst wurden. Die von Haidt und Joseph (2004, 2008) postulierten Zusammenhänge konnten nur für die Fürsorge- und die Reinheitsgrundlage bestätigt werden, deren Verletzungen erwartungsgemäß zu Mitleid bzw. Ekel führten. Für die übrigen Emotionen und moralischen Grundlagen ergab die Studie (Landmann & Hess, 2018) ein weitaus komplexeres Bild als erwartet und führte die Autorinnen zur Vermutung, dass Moral nicht auf fünf, sondern auf drei Grundlagen basiert, nämlich dem Leiden anderer (welches Mitgefühl auslöst), absichtlichen Normverletzungen (welche Ärger auslösen) sowie Verletzungen des Reinheitsprinzips (welche Ekel auslösen).
Kritisch anzumerken ist dazu allerdings, dass Landmann und Hess (2018) zweimal eher unübliche Übersetzungen der von Haidt und Joseph (2004, 2008) postulierten charakteristischen Emotionen verwenden. So übersetzen sie „resentment“ mit „Abneigung“ (statt „Groll“) und „compassion“ mit „Mitleid“ (statt „Mitgefühl“). Obwohl sich diese Übersetzungen nur geringfügig unterscheiden, erscheint es sinnvoll, die von der MFT genannten Zusammenhänge zwischen moralischen Grundlagen und den korrespondierenden Emotionen zumindest noch einmal mit Übersetzungen zu überprüfen, welche sich näher am Original orientieren, bevor dieser Aspekt der MFT zugunsten anderer Theorien verworfen wird. Dies ist Inhalt der ersten Hypothese der vorliegenden Studie.
2.1.6 Erste Hypothese
Als Basis für die erwarteten Korrespondenzen zwischen moralischen Grundlagen und spezifischen Emotionen gilt Tabelle 1, welche auf den bereits vielfach genannten Artikeln von Haidt und Joseph (2004, 2008) sowie auf Haidt (2012) basiert. Wie aus der Tabelle ersichtlich, schlägt die MFT für Gerechtigkeit, Loyalität und Autorität jeweils mehr als eine korrespondierende Emotion vor. Für Gerechtigkeit ist allerdings Ärger die einzige Emotion, die sich auf moralische Verstöße durch Dritte bezieht – Schuld bezieht sich auf eigene Verletzungen des Gerechtigkeitsprinzips und Dankbarkeit bezieht sich auf die Einhaltung dieser moralischen Grundlage. Ähnliches gilt für Loyalität; hier ist Wut die einzige negative Emotion, die als Reaktion auf Verletzungen dieses Prinzips Sinn ergibt (im Gegensatz zu Gruppenstolz und Zugehörigkeit). Mit Autorität verhält es sich etwas komplizierter. Haidt und Joseph (2004) nennen hier „resentment vs. respect/awe“ als charakteristische Emotionen, doch einige Jahre später (Haidt & Joseph, 2008) nennen sie lediglich Respekt und Angst. Für die vorliegende Studie wurde „resentment“ (Groll) verwendet, da es plausibel erscheint, dass sich Groll eher gegen die*den Täter*in eines subversiven Aktes richtet, während sich Angst auf Autoritätspersonen allgemein bezieht (ohne dass eine Verletzung des Autoritätsprinzips vorliegen muss). Landmann und Hess (2018) verwenden ebenfalls „resentment“ als charakteristische Emotion für das Autoritätsprinzip (übersetzen es jedoch mit „Abneigung“).
Demnach lautet die erste Hypothese der vorliegenden Studie, dass die Zusammenhänge zwischen einzelnen moralischen Prinzipien und der spezifischen emotionalen Reaktion auf deren Verletzung dem von der MFT postulierten Muster (Haidt & Joseph, 2004, 2008) entsprechen: Fürsorge – Mitgefühl; Gerechtigkeit – Ärger; Loyalität – Wut; Autorität – Groll; Reinheit – Ekel. Für Freiheit als sechste moralische Grundlage wird auch Ärger als korrespondierende Emotion vermutet (Haidt, 2012); dies soll ebenfalls untersucht werden.
2.2 Die Bedeutung des Kontextes für moralisches Erleben und Verhalten
2.2.1 Empirische Hinweise auf die Bedeutung des Kontextes für Moral
Bereits in der Einleitung wurde auf den Pluralismus von Moralsystemen hingewiesen, welcher die Kontextabhängigkeit von Moral deutlich macht. Besonders deutlich wird dies im internationalen Vergleich zwischen verschiedenen Kulturkreisen (z.B. Haidt, Koller, & Dias, 1993; Rai & Fiske, 2011; Shweder et al., 1997); aber auch innerhalb eines Kulturkreises oder eines Landes gibt es eine Vielzahl an moralischen Überzeugungen und dazugehörigen Wertvorstellungen. Haidt et al. (1993) fanden zum Beispiel in ihrem Vergleich zwischen US-amerikanischen und brasilianischen Stichproben, dass sich die akademischen Stichproben beider Länder in ihren moralischen Bewertungen stärker ähnelten als nichtakademischen Stichproben mit niedrigerem sozioökonomischen Status im selben Land. Die auf der MFT basierende Forschung rund um den amerikanischen „Kulturkrieg“ (Graham et al., 2009, 2013; Haidt, 2012) zeigt ebenfalls, wie sehr sich die Moralsysteme von Konservativen und Liberalen (in der angelsächsischen Bedeutung) innerhalb desselben Kulturkreises und Landes unterscheiden.
Prinzipiell sind aber auch andere Dimensionen sozialer Kontexte denkbar, nach denen sich moralische Reaktionen unterscheiden könnten. So wäre es beispielweise möglich, dass wir moralische Verstöße je nachdem anders bewerten, ob sie von Menschen begangen wurden, die uns nahestehen, oder von Fremden. Oder es könnte sein, dass einzelne moralische Grundlagen (z.B. Autorität) am Arbeitsplatz andere Dynamiken auslösen als innerhalb der Familie. Wenn wir vom evolutionstheoretischen Narrativ ausgehen, welches Moral als adaptiv für das Zusammenleben in Gruppen darstellt, erscheint es nicht nur plausibel, dass sich moralisches Erleben und Verhalten je nach Gruppe (bzw. sozialem Kontext) unterscheidet – es wird auch klar, dass wir den Einfluss dieser Kontexte besser verstehen müssen, um Moral an sich zu verstehen. Dementsprechend werden im Folgenden empirische Hinweise auf moralisch relevante Kontextunterschiede aufgeführt, um daraus schließlich weitere Fragestellungen für die vorliegende Studie abzuleiten.
In ihrem Buchkapitel über Moral nennen Graham und Valdesolo (2018) eine Vielzahl situativer Effekte auf moralische Urteile. Unter anderem beziehen sie sich auf Ginges und Atran (2011), die zeigen konnten, dass eine Manipulation des Beziehungskontextes rund um eine moralische Handlung die wahrgenommene Bedeutung moralischer Verstöße verändert, sowie auf Carnes, Lickel und Janoff-Bulman (2015), die durch eine Manipulation des sozialen Kontextes beeinflussen konnten, welche moralischen Prinzipien zur Bewertung der Handlung hinzugezogen wurden. Graham und Valdesolo (2018) berichten ferner einige widersprüchliche Ergebnisse bzgl. des Zusammenhangs zwischen intuitiven Prozessen und moralischem Verhalten und weisen darauf hin, dass eine Berücksichtigung des Kontextes zur Erklärung dieser Widersprüche beitragen könnte. Schließlich kommen sie u.a. zu folgendem Fazit: „Human morality is messy, complex, and context-dependent“ (S. 332). Die Frage ist, ob sich trotz dieser Komplexität ein erkennbares Muster in der Kontextabhängigkeit moralischen Erlebens und Verhaltes ausmachen lässt.
Einen möglichen Hinweis liefert die Altruismusforschung, welche die evolutionspsychologische Annahme, dass wir Verwandten und guten Freunden eher helfen als weniger nahestehenden Menschen, größtenteils bestätigt (Madsenet al., 2007; Stewart-Williams, 2007). Die Art der Beziehung hat hier also Einfluss auf prosoziales Handeln, was intuitiv leicht nachvollziehbar ist. Altruismus kann als moralisches Verhalten interpretiert werden und dementsprechend stellt sich die Frage, ob ähnliche relationale Abhängigkeiten auch für andere moralische Verhaltensweisen existieren. Ein Konstrukt, das hier nützlich sein könnte, ist das der sozialen Nähe.
2.2.2 Soziale Nähe als Kontextfaktor
Es gibt Hinweise darauf, dass wir auch über Verwandtschaftsbeziehungen hinaus unterschiedliche moralische Maßstäbe anlegen, je nachdem, wie nah uns die betreffenden Personen sind (vgl. Krienen, Tu, & Buckner, 2010, für die allgemeine Bedeutsamkeit einer sog. „clan mentality“). Das Phänomen des Fremdschämens beispielsweise wird durch soziale Nähe moderiert – wir reagieren intensiver auf die Normverstöße von Freunden als von Fremden (Müller-Pinzler, Rademacher, Paulus, & Krach, 2016), was mit erhöhter Empathie zusammenhängen könnte, die wir Menschen entgegenbringen, die uns nahestehen.
Wenn es um die Beurteilung moralischer Verstöße geht, gibt es widersprüchliche Befunde, was den Einfluss sozialer Nähe betrifft. Auf der einen Seite gibt es mittlerweile sehr viele Befunde zum Ingroup Favoritism, also der Bevorzugung von Eigengruppenmitgliedern (siehe Review von Everett, Faber, & Crockett, 2015). Intragruppales prosoziales Verhalten tritt demnach grundsätzlich häufiger auf als intergruppales prosoziales Verhalten. Auch im Moralbereich finden sich Beobachtungen, die für Ingroup Favoritism sprechen. Gordijn, Yzerbyt, Wigboldus und Dumont (2006) fanden, dass die Identifikation mit den Opfern schädlichen Verhaltens dazu führte, dass (a) das Verhalten als ungerechter bewertet wird, (b) mehr Ärger erlebt wird und (c) stärkere Bereitschaft gezeigt wird, sich gegen das schädlich Verhalten zu engagieren. Wenn allerdings die Ähnlichkeiten mit den Täter*innen salient gemacht wurde, kehrten sich diese Effekte um. Bei Landmann und Hess (2016) war es ebenfalls die Identifikation der Studienteilnehmenden mit den Opfern eines moralischen Verstoßes (unabhängig von dem tatsächlichen Schaden, den die Opfer daran nahmen), welche sich auf die Intensität ihres Ärgers über die Situation auswirkte.
Es scheint also eine gewisse Flexibilität moralischer Standards zu geben, die von der eigenen Gruppenidentifikation beeinflusst wird. In eine ähnliche Richtung weist die Vergebungsforschung, welche wiederholt zeigen konnte, dass soziale Nähe zu den Täter*innen es Opfern erleichtert, zu vergeben (Wenzel & Okimoto, 2012). Passend dazu fanden Molenberghs, Gapp, Wang, Louis und Decety (2016) sowohl auf behavioraler als auch auf neurophysiologischer Ebene eine erhöhte moralische Sensibilität für Opfer aus der Eigengruppe (verglichen mit Opfern aus der Fremdgruppe) – allerdings nur, wenn die Täter*innen aus der Fremdgruppe stammten. Und wenn eine dritte Partei eine*n Täter*in bestrafen soll, tut sie dies stärker, wenn sie derselben Gruppe angehört wie das Opfer, was wiederum mit einer Kombination aus Eigengruppenbevorzugung und Fremdgruppendiskriminierung erklärt wird (Schiller, Baumgartner, & Knoch, 2014).
Es gibt aber auch andere Befunde, die dem Phänomen des Ingroup Favoritism zu widersprechen scheinen: Manchmal behandeln wir Eigengruppenmitglieder, die gemeinsame Normen verletzen, strenger als Fremdgruppenmitglieder, die dasselbe Verhalten zutage legen. Kooperative Spieler*innen in ökonomischen Spielen bestrafen beispielsweise nicht-kooperative Gruppenmitglieder stärker als nicht-kooperative Spieler*innen, die der Outgroup angehören (Mendoza, Lane, & Amodio, 2014; Shinada, Yamagishi, & Ohmura, 2004). Ufkes, Otten, van der Zee und Giebels (2012) untersuchten intra- und intergruppale Konflikte unter Majoritäts- und Minoritätsmitgliedern in den Niederlanden und fanden den sog. Black Sheep Effect: Mitglieder beider Gruppen reagierten mit stärkeren negativen Emotionen auf Konflikte mit Eigengruppenmitgliedern. Ein Erklärungsansatz hierfür ist, dass Normverstöße innerhalb der Eigengruppe schlichtweg negativer bewertet werden, als Normverstöße von Fremdgruppenmitgliedern; dass es hier also eine gewisse Doppelmoral gibt, welche in die entgegengesetzte Richtung wirkt wie der zuvor beschriebene Effekt der Eigengruppenbevorzugung. Hughes, Creech und Strosser (2016) schließlich untersuchten in mehreren Studien, inwiefern relationale Nähe moralische Urteile beeinflusst. Sie fanden zum einen, dass bei Interaktionen mit nahestehenden Personen stärkere moralische Attributionen gemacht wurden, als bei weniger nahestehenden Interaktionspartnern. Zum anderen stellten sie fest, dass Täter*innen innerhalb einer engen Beziehung ein schlechterer moralischer Charakter unterstellt wurde als weniger engen Beziehungspartner*innen.
Einerseits also Ingroup Favoritism, andererseits Black Sheep Effect. Eine mögliche konzeptuelle Integration dieser scheinbar paradoxen Befunde bietet die Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986). Diese basiert auf der Annahme, dass wir als Individuen nach einem positiven Selbstwert streben, welcher (unter anderem) mit dem Prestige der Gruppen zusammenhängt, denen wir angehören – weshalb wiederum soziale Vergleiche zwischen Eigen- und Fremdgruppe sehr eng mit unserem Selbstwert verknüpft und uns darum so wichtig sind. Die Theorie der sozialen Identität kann damit sowohl Ingroup Favoritism als auch den Black Sheep Effect erklären: Wie bevorzugen generell unsere eigene Gruppe, weil diese einen Teil unserer Selbstidentität darstellt (sog. „in-group bias“, Tajfel & Turner, 1986). Genau deswegen reagieren wir aber auch besonders empfindlich auf Eigengruppenmitglieder, die sich verwerfliches Verhalten zeigen und damit den Wert unserer sozialen Identität gefährden (Marques & Páez, 1994).
Eine weitere, empirische Integration von Ingroup Favoritism und Black Sheep Effect bietet eine Studie von Linke (2012). Er untersuchte, wie Menschen auf fiktive Vignetten moralischer Verstöße (spezifisch: Diebstahl) reagieren und inwiefern sich diese Reaktionen je nach Beziehung zu Täter*in oder Opfer unterscheiden. Dazu wurde als Täter*in4 entweder die Mutter der Studienteilnehmenden, ein*e Klassenkamerad*in oder ein*e Besucher*in aus dem Ausland genannt. Es stellte sich zum einen heraus, dass das Vergehen als weniger schlimm bewertet wurde und eine größere Vergebungsbereitschaft bestand, je näher der*die Täter*in den Beurteilenden stand. Dieses Ergebnis passt zu den beschriebenen Befunden rund um Eigengruppenbevorzugung. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Vergehen sozial naher Personen bei den Beurteilenden intensivere negative Emotionen wie Frustration, Ekel, Enttäuschung u.a. auslösten, als wenn sie von weniger nahen Personen begangen wurden (dieser Effekt zeigte sich allerdings nicht bei „verurteilenden“ Emotionen wie Ärger und Verachtung). Linke (2012) bietet als Erklärung an, dass es durchaus emotional belastend(er) sein kann, zu erfahren, dass eine nahestehende Person etwas Unrechtes getan hat – und wir trotzdem die Schwere des moralischen Verstoßes sowie die Motivation dahinter als relativ harmlos beurteilen können, gerade weil wir einen stärkeren emotionalen Bezug zur*zum Täter*in (und damit womöglich auch eine erhöhte Empathiebereitschaft) haben.
Einschränkend muss dazu gesagt werden, dass Linkes (2012) Stichprobe ausschließlich aus Kindern und Jugendlichen im Alter von 9-18 bestand und dass der „Emotionsintensitätseffekt“ quasi einen Überraschungsbefund darstellte, welcher der ursprünglichen Hypothese (H4; S. 295) widersprach. Dennoch bietet die Studie einen weiteren wertvollen Hinweis darauf, dass soziale Nähe ein relevanter Einflussfaktor für emotionale Reaktionen auf moralische Vergehen ist – und womöglich auch darauf, wie dieser Einfluss beschaffen sein könnte.
2.2.3 Zweite Hypothese
Basierend auf den beschriebenen Befunden soll in der vorliegenden Studie untersucht werden, wie sich emotionale Reaktionen auf moralische Verstöße je nach sozialem Kontext unterscheiden. Dafür sollen die untersuchten Kontexte nach sozialer Nähe variiert werden. In Anlehnung an Linke (2012) soll dabei zwischen Familienkontext, Arbeitskontext und öffentlichem Kontext unterschieden werden, welche sich durch jeweils geringere soziale Nähe auszeichnen. Die zweite Hypothese lautet dementsprechend, dass sich die Intensität der emotionalen Reaktionen auf moralische Verstöße je nach Kontext (Familie, Arbeitsplatz, öffentlicher Raum) unterscheidet: Je näher die Täter*innen den Opfern stehen, desto emotionaler reagieren unbeteiligte Dritte.
Eine kurze methodische Anmerkung: Die Beschränkung auf unbeteiligte Dritte ist bewusst gewählt, um eine Vergleichbarkeit mit der bisherigen MFT-Forschung zu gewährleisten. Dies unterscheidet sich methodisch beispielsweise von Linke (2012), der Vignetten verwendet, in denen die Täter*innen der moralischen Verstöße den Studienteilnehmenden bekannt waren (z.B. die eigene Mutter). Linke (2012) bezieht sich jedoch auch nicht auf die MFT. Das methodische Paradigma der Wahl innerhalb der MFT-Forschung ist die Beurteilung von Vignetten, in denen moralische Verstöße unbekannter (fiktiver) Personen beschrieben werden, welche dann von den Studienteilnehmenden beurteilt werden (vgl. Haidt, 2001; Haidt et al., 1993; Landmann & Hess, 2018). Dementsprechend wird in der vorliegenden Studie die soziale Nähe zwischen den in den Vignetten beschriebenen Opfern und Täter*innen variiert, nicht zwischen den Studienteilnehmenden und den beschriebenen Personen.
2.2.4 Explorative Fragestellung
Wie bereits kurz erwähnt, konnten Carnes et al. (2015) zeigen, dass moralische Prinzipien in soziale Kontexte eingebettet sind und dass dementsprechend unterschiedliche moralische Prinzipien mit unterschiedlichen Kontexten in Verbindung gebracht werden. Davon (und von den anderen, oben dargestellten Einflüssen des Kontextes auf moralisches Erleben und Verhalten) ausgehend wäre es naheliegend, dass auch die emotionalen Reaktionen auf Verletzungen dieser moralischen Prinzipien von Kontext zu Kontext unterschiedlich ausfallen. Dazu liegen aber nach Wissen der Autorin noch keine empirischen Daten vor. Um erste Ansatzpunkte in diesem offenen Forschungsfeld zu generieren, soll deshalb in der vorliegenden Studie explorativ untersucht werden, ob sich die Zusammenhänge aus der ersten Hypothese (zwischen den moralischen Grundlagen und den emotionalen Reaktionen auf deren Verletzungen) je nach Kontext (Familie, Arbeitsplatz, öffentlicher Raum) unterscheiden. Da es hier keinerlei gerichtete Hypothesen oder Annahmen gibt, erfolgt die Beantwortung dieser Fragestellung in erster Linie durch Vergleiche der deskriptiven Statistiken.
3 Methode
3.1 Stichprobe
Die Studie wurde ausschließlich über das virtuelle Labor der psychologischen Fakultät der FernUniversität in Hagen beworben, um eine gewisse Homogenität der Stichprobe zu gewährleisten und die Varianz innerhalb der Gruppen möglichst gering zu halten. Es ist dementsprechend davon auszugehen, dass die Stichprobe größtenteils oder sogar vollständig aus Psychologiestudierenden der FernUniversität bestand; ihnen wurde für die Teilnahme an der Studie jeweils eine halbe Versuchspersonenstunde gutgeschrieben. Der Studierendenstatus wurde jedoch nicht miterhoben.
Zur Bestimmung der nötigen Stichprobengröße wurde im Vorfeld mithilfe des Programms G*Power (Faul, Erdfelder, Lang, & Buchner, 2007) eine Teststärkeanalyse durchgeführt, die auf der zweiten Hypothese basierte, da diese als between-subjects-Fragestellung einer größeren Stichprobe bedurfte, um bestehende Effekte aufzudecken. Dementsprechend wurden in G*Power folgende Parameter für eine einfache ANOVA angegeben: eine Effektstärke von 0.25, eine Gruppenzahl von 3 und konventionsgemäß ein α-Fehler-Niveau von 0.05 sowie eine Teststärke von 0.8. Die Effektstärke wurde in Anlehnung an Linke (2012) gewählt, der beim Vergleich verschiedener Kontexte (die denen in der vorliegenden Studie stark ähneln) signifikante Effekte zwischen 0.38 und 1.27 fand. Um eine konservative Schätzung zu gewährleisten, wurde für die vorliegende Studie ein Effekt von 0.25 als realistisch angenommen. Die resultierende minimale Stichprobengröße lag bei N = 159. Um mögliche Ausschlüsse von Versuchspersonen (VPn) zu kompensieren, wurden dieser Zahl 10% hinzugefügt, was zu einer benötigten Stichprobengröße von N = 175 führte.
Insgesamt nahmen an der Studie 209 VPn teil, von denen 16 aus der Datenanalyse ausgeschlossen wurden: 12 VPn hatten ein Item, das zur Überprüfung der Aufmerksamkeit bzw. Sorgfalt eingefügt worden war, entgegen der Instruktion nicht freigelassen. Von den übrigen VPn wurden vier weitere entfernt, welche entweder die Frage nach der Ernsthaftigkeit ihrer Antwort mit „Nein“ beantwortet hatten (n = 1), der Nutzung ihrer Daten zu den beschriebenen Forschungszwecken widersprochen hatten (n = 2), oder beides (n = 1). Die endgültige Stichprobengröße betrug somit N = 193. 74.6% dieser Befragten waren Frauen, 24.9% waren Männer, die dritte Option „sonstiges“ wurde von einer Person angegeben.
Die VPn waren zwischen 18 und 64 Jahre alt (M = 33.4 Jahre, SD = 10.8 Jahre). Sie wurden randomisiert und möglichst gleichmäßig den unterschiedlichen Kontexten zugewiesen (n Familie = 69, n Arbeit = 62, n Öffentlich = 62).
3.2 Studiendesign
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um ein Online-Experiment mit einem gemischten zweifaktoriellen 6 (moralische Grundlagen; within subjects) x 3 (Kontext; betweensubjects) Design. Die Untersuchung wurde mithilfe der Fragebogensoftware EFS Survey (Questback GmbH, 2015) durchgeführt, welche die VPn randomisiert den einzelnen Kontexten zuteilte und außerdem eine zufällige Reihenfolge der präsentierten, im Folgenden näher beschriebenen Stimuli und Fragen ermöglichte. Die verschiedenen Randomisierungsstufen sind in Abbildung 1 (Abschnitt 3.3) dargestellt.
3.3 Stimulusmaterial
Das Herzstück der Studie bilden die Vignetten moralischer Verstöße, welche den VPn dargeboten wurden, um deren emotionale Reaktionen auf die beschriebenen Situationen zu erfassen. Das Prinzip dieser Vignetten ist, dass in jeweils einem (möglichst kurzen) Satz eine Verhaltensweise beschrieben wird, die eine Verletzung einer spezifischen moralischen Grundlage (gemäß der MFT) innerhalb eines spezifischen Kontextes (Familie, Arbeitsplatz, Öffentlichkeit) darstellt. Dabei muss sie gleichzeitig eine ausreichende diskriminante Validität aufweisen, also möglichst wenig mit den anderen moralischen Grundlagen bzw. den anderen Kontexten in Verbindung gebracht werden.
Als Grundlage für das Stimulusmaterial dienten die Moral Foundations Vignettes von Clifford, Iyengar, Cabeza und Sinnott-Armstrong (2015), die eine große Menge an Vignetten moralischer Verstöße entwickelt und ausführlich validiert haben. Die endgültige empfohlene Liste umfasst 90 Vignetten. Die beschriebenen Verhaltensweisen sind daraufhin geprüft, dass sie eine moralische Grundlage verletzen, nicht aber die anderen. Außerdem weisen sie alle eine ähnliche syntaktische Struktur und vergleichbare Komplexität auf, um den Einfluss sprachlicher Störvariablen zu minimieren. Sie wurden speziell für die Untersuchung der moralischen Grundlagen gemäß der MFT entwickelt und eignen sich damit ideal für die vorliegende Studie. Allerdings war es für die vorliegende Untersuchung notwendig, die Vignetten von Clifford et al. (2015) so anzupassen, dass damit nicht nur verschiedene moralische Grundlagen, sondern auch die unterschiedlichen Kontexte verglichen werden könnten. Dazu wurde folgendermaßen vorgegangen:
Zunächst wurden aus Clifford et al. (2015) für jede moralische Grundlage drei Vignetten ausgewählt. Um eine Vergleichbarkeit zwischen den drei gewählten Kontexten zu gewährleisten und Störvariablen zu vermeiden, sollten diese Vignetten für die jeweiligen Kontexte komplett parallelisiert werden. Das heißt, je eine Vignette sollte so angepasst werden, dass die gleiche Verhaltensweise einmal im familiären Umfeld, einmal am Arbeitsplatz und einmal in der Öffentlichkeit gezeigt würde.
Zu diesem Zweck wurde bei der Auswahl darauf geachtet, dass die jeweils beschriebenen Verhaltensweisen – ggf. nach Anpassung der Akteure – (a) in jedem der untersuchen Kontexte plausibel wären und (b)in jedem dieser Kontexte auch tatsächlich einen moralischen Verstoß darstellen würden. So macht beispielsweise die Vignette „a teenage girl openly staring at a disfigured woman as she walks past” (Clifford et al., 2015, S. 1194) im familiären Kontext wenig Sinn, da dort davon ausgegangen werden muss, dass man sich dort relativ schnell an den Anblick eines entstellten Familienmitglieds gewöhnt und dementsprechend nicht mehr mit Überraschung reagieren würde. Die Vignette „a man leaving his family business to go work for their main competitor” (Clifford et al., 2015, S. 1195) hingegen ist durchaus auch auf Arbeitskontexte außerhalb eines Familienunternehmens übertragbar, entspricht dann aber keinem moralischen Verstoß mehr, da es in der freien Wirtschaft vollkommen üblich und akzeptiert ist, den Arbeitgeber zu wechseln. Nur im familiären Kontext stellt eine solche Handlung einen ernsthaften Loyalitätsbruch dar. Ein Beispiel für eine Vignette, die beiden beschriebenen Kriterien entspricht, ist „someone cheating in a card game while playing with a group of strangers“, da das Betrügen (oder Schummeln, je nach eigenem moralischen Verständnis) in einem Kartenspiel auch mit Familienmitgliedern oder Kolleg*innen eine Verletzung des Fairnessprinzips darstellt.
Nach diesem Muster wurden insgesamt 18 Vignetten ausgewählt, drei für jede moralische Grundlage. Dann wurde jede Situation auf die Kontexte Familie, Arbeitsplatz und Öffentlichkeit überragen, mit einer möglichst parallelen Satzstruktur. Ziel war es, dass diese Vignetten sich möglichst ausschließlich durch den Kontext unterscheiden sollten, damit entsprechende Unterschiede zwischen den emotionalen Reaktionen auch wirklich auf die Kontextunterschiede zurückgeführt werden könnten.
Als nächstes wurden die Vignetten von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Um den Einfluss der Variable Gender zu kontrollieren, wurden diese Übersetzungen in jeweils zwei Versionen angefertigt – einmal mit einem Mann in der Rolle des Täters, einmal mit einer Frau als Täterin.5 Eine Rückübersetzung fand nicht statt, dafür aber eine Überprüfung der Vignetten durch die Projektbetreuung.
[...]
1 Nachgelassene Fragmente, Sommer – Herbst 1882, 31 336
2 Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1880, 366 125
3 Das Gendersternchen wird durchgängig verwendet, um zu signalisieren, dass auch Menschen mitgemeint sind, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht eindeutig zuordnen können oder wollen.
4 In der zweiten Studie variiert Linke (2012) die Opfer der Straftat nach demselben Muster.
5 Mit Ausnahme einer genderneutralen Vignette mit „jemand“ als Subjekt (vgl. Tabelle 2)
- Citar trabajo
- Malwina Ulrych (Autor), 2020, Der Einfluss von Emotionen auf moralische Entscheidungen. Inwiefern hängen emotionale Reaktionen auf moralische Verstöße vom sozialen Kontext ab?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/517308
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