Kaum ein anderer Philosoph oder eine andere Philosophin hat sich so ausführlich mit unterschiedlichen existenzialen Positionen und Lebensverständnissen auseinandergesetzt wie Kierkegaard. Diese existenzialen Positionen, die von Kierkegaards Pseudonymen vertreten werden, verfolgen für ihn eine gemeinsame Strategie: Es geht ihm darum aufzuzeigen, dass die verschiedenen Lebensverständnisse allesamt misslingen und sämtliche Figuren auf ihre je eigene Art verzweifeln. Verzweiflung wird daher zum zentralen Thema bei Kierkegaard und auch der hier vorliegenden Arbeit.
Weshalb misslingen die verschiedenen Lebensverständnisse?
Es bleibt jedoch in Kierkegaards Werk ungeklärt, wie genau dieses Misslingen zustande kommt, auch wenn die Gründe dafür angegeben werden. Dies ist somit auch die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit. Es wird sich zeigen, dass die verschiedenen Lebensentwürfe dadurch misslingen, weil sie erstens versuchen, die oben genannten Spannungen zu überwinden und zweitens, weil sie daher dem totalisierten Zweifel über die eigene Authentizität verfallen. Es wird sich zeigen, dass die eigentliche Verzweiflung mit der Authentizität verbunden ist und dieses Verhältnis in einer Unbestimmtheit, in einem totalisierten Zweifel aufkommt. Eigentliche Verzweiflung ist der totalisierte Zweifel darüber, ob wir authentisch leben oder nicht (vgl. Kapitel 4). Für die Arbeit wollen wir Kierkegaard nicht als Existenzialisten, als Theologen, oder schlicht als Literaten verstehen, sondern wir beziehen uns auf die philosophische Anthropologie nach Wesche (2013). Zudem beschränken wir uns hierfür auf seine Werke Entweder - Oder (2014) und Die Krankheit zum Tode (2017). Dass beide Werke zusammenhängen, wird durch die internen Bezüge zueinander deutlich.
Der Aufbau der Arbeit sieht dementsprechend wie folgt aus. Kapitel 2 behandelt die verschiedenen Facetten und die oben erwähnten Spannungsverhältnisse der Kierkegaardschen Verzweiflung. Hierbei ist es wichtig, Unklarheiten, Widersprüche und Probleme aus Kierkegaards Theorie zu vernachlässigen und sie auf die relevantesten Punkte herunter zu brechen. Kapitel 3 zeigt daraufhin auf, wie aus der Verzweiflung die oben vorgeschlagene Hypothese vertreten werden kann. Das Kapitel 4 rundet die vorliegende Arbeit ab. Dabei werden weitere Anknüpfungspunkte vorgestellt und kurz erläutert, wie es möglich wäre, diese Spannungsverhältnisse auszuhalten und den Zweifel über die Authentizität gelassen hinzunehmen.
1. Einleitung
Kaum1 ein anderer Philosoph oder eine andere Philosophin hat sich so ausführlich mit unterschiedlichen existenzialen Positionen und Lebensverständnissen auseinandergesetzt wie Kierkegaard. Diese existenzialen Positionen, die von Kierkegaards Pseudonymen vertreten werden, verfolgen für ihn eine gemeinsame Strategie (Cappelörn in Deuser & Kleinert, 2017: 26f). Es geht ihm darum aufzuzeigen, dass die verschiedenen Lebensverständnisse allesamt misslingen und sämtliche Figuren auf ihre je eigene Art verzweifeln (Wesche, 2013: 32). Verzweiflung wird daher zum zentralen Thema bei Kierkegaard und auch der hier vorliegenden Arbeit.
Weshalb misslingen die verschiedenen Lebensverständnisse? Dies liegt am Umstand, dass der Mensch verschiedenen aber zusammenhängenden Spannungsverhältnissen ausgesetzt ist (Kierkegaard, 2017: 31). Diese kann man auf folgende vier zusammenfassen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Überblick der Spannungsverhältnissen bei Kierkegaard
Es bleibt jedoch in Kierkegaards Werk (2017) ungeklärt, wie genau dieses Misslingen zustande kommt, auch wenn die Gründe dafür angegeben werden. Dies ist somit auch die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit. Es wird sich zeigen, dass die verschiedenen Lebensentwürfe dadurch misslingen, weil sie erstens versuchen, die oben genannten Spannungen zu überwinden und zweitens, weil sie daher dem totalisierten Zweifel über die eigene Authentizität verfallen. Es wird sich zeigen, dass die eigentliche Verzweiflung mit der Authentizität verbunden ist (Wesche, 2013: 35) und dieses Verhältnis in einer Unbestimmtheit, in einem totalisierten Zweifel aufkommt. Eigentliche Verzweiflung ist der totalisierte Zweifel darüber, ob wir authentisch leben oder nicht (vgl. Kapitel 4). Für die Arbeit wollen wir Kierkegaard nicht als Existenzialisten, als Theologen, oder schlicht als Literaten verstehen,2 sondern wir beziehen uns auf die philosophische Anthropologie nach Wesche (2013).3 Zudem beschränken wir uns hierfür auf seine Werke Entweder - Oder (Kierkegaard, 2014) und Die Krankheit zum Tode (Kierkegaard, 2017). Dass beide Werke zusammenhängen, wird durch die internen Bezüge zueinander deutlich.
Der Aufbau der Arbeit sieht dementsprechend wie folgt aus. Kapitel 2 behandelt die verschiedenen Facetten und die oben erwähnten Spannungsverhältnisse der Kierkegaardschen Verzweiflung. Hierbei ist es wichtig, Unklarheiten, Widersprüche und Probleme aus Kierkegaards Theorie zu vernachlässigen und sie auf die relevantesten Punkte herunter zu brechen. Kapitel 3 zeigt daraufhin auf, wie aus der Verzweiflung die oben vorgeschlagene Hypothese vertreten werden kann. Das Kapitel 4 rundet die vorliegende Arbeit ab. Dabei werden weitere Anknüpfungspunkte vorgestellt und kurz erläutert, wie es möglich wäre, diese Spannungsverhältnisse auszuhalten (Wesche, 2013: 35) und den Zweifel über die Authentizität gelassen hinzunehmen.
2. Verzweiflung: Ein komplexes Phänomen
Die Verzweiflung nimmt in Kierkegaards Werk eine äusserst relevante Position ein. Denn sie entblösst die fundamentale Widersprüchlichkeit des Menschseins (Gräb-Schmidt in Deuser & Kleinert, 2017: 208). Mit Verlaub kann man diese Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz wohl als das Hauptthema seiner Schriften auffassen. Es verwundert daher nicht, dass die Verzweiflung schon in seinem Erstlingswerk Entweder - Oder (2014) auftaucht und auch später im Begriff der Angst und Die Krankheit zum Tode (2017) grosse Beachtung geschenkt wird. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Werk Die Krankheit zum Tode und übernimmt anschauliche Beispiele, die schon in Entweder - Oder aufgegriffen werden. Dies führt auch dazu, dass die Struktur dieser Untersuchung sich deutlich von anderen Untersuchungen unterscheidet (vgl. bspw. Wesche, 2013, sowie Theunissen, 1993).
Der Aufbau des Kapitels und der Untersuchung sieht dementsprechend wie folgt aus: Zuerst wird die Grundlage der Verzweiflung besprochen. Denn nicht irgendetwas ist verzweifelt sondern das menschliche Selbst, dem es um sein Sein geht (2.1.). Anschliessend folgt ein kurzer Exkurs über die Gestalten der Verzweiflung, da Kierkegaard davon ausgeht, dass es mehrere Formen und Stufen der Verzweiflung gibt (2.2.). Daraufhin wird die Phänomenologie dieser Stimmung beleuchtet, so wie sie Kierkegaard in Entweder - Oder und in Die Krankheit zum Tode beschreibt (2.3.). Wir verzichten aus Platzgründen darauf, auf andere philosophische Darstellungen und Darstellungen aus anderen Wissenschaften einzugehen. Um in der Metapher der Krankheit zu verbleiben, können wir diese drei Unterkapitel als Anamnese verstehen. Von hieran wenden wir uns den Ursprüngen dieser Krankheit zu. Hierbei steht wiederum nur die Darstellung Kierkegaards im Fokus, während dem andere Erklärungsweisen ausgeblendet werden. (2.4.) und (2.5.) sollen diagnostisch die Ursprünge der Verzweiflung veranschaulichen. Der Schluss des vorliegenden Kapitels beschäftigt sich mit der Krankheitsentwicklung und den möglichen Folgen der Verzweiflung (2.6.). Erst anschliessend werden wir die Kierkegaardsche Verzweiflung weiterentwickeln, nachdem wir das grundlegende Verständnis nachgezeichnet haben.
2.1. Selbst und Authentizität
Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Grundlage der Verzweiflung, welche durch das Selbst gebildet wird. Das Selbst ist jenes Verhältnis von faktischem Gesetztsein und existenzialer Freiheit und kann in diesem Verhältnis entweder eigentlich (authentisch) oder uneigentlich sein. Wir werden beide relevanten Begriffe (Selbst und Authentizität) hier kurz erläutern.
Selbst:
Nur der Mensch vermag es zu verzweifeln. Dies unterscheidet ihn zugleich von anderen Wesen. Woran liegt das? Kierkegaard geht davon aus, dass nur Wesen, die über ein Selbst verfügen, verzweifeln können. Ein Selbst zu haben bedeutet, über ein Verhältnis zu sich selbst zu verfügen (Kierkegaard, 2017: 31). Damit ist gemeint, der Geist ist sich seiner bewusst und steht in einem besonderen Verhältnis zu sich selbst - er hat sich selbst und seinen eigenes Sein erkannt (Wesche, 2013: 89). Das Selbst ist jedoch nicht mit einer Sache, also einem Gegenstand oder einer Substanz zu verwechseln, sondern muss durch ein Verhältnis bestimmt werden (Kierkegaard, 2017: 102). Dieses Verhältnis, so Kierkegaard, besteht nun darin, dass das Selbst faktisch gesetzt und zugleich auch existenzial frei ist. Das bedeutet, es ist sowohl teilweise bestimmt durch seine Verfassung als Mensch und dessen Geschichte und zugleich ist es frei, in der Zukunft so zu sein, wie es sich selbst entwirft (Theunissen, 1993: 45). Der Mensch ist also je schon unabänderliche Vergangenheit, wie er auch mögliche, offene Zukunft ist. Hier finden wir auch die erste Spannung zwischen dem faktischen Gesetztsein und der existenzialen Freiheit (vgl. Kapitel 1).
Ein Selbst, das sich dessen bewusst ist, ist sich mehr oder weniger durchsichtig und hat sich als ein Selbst begriffen (Kierkegaard, 2017: 50). Es versteht sich selbst durch die Vergangenheit, hat sein Leben jedoch gleichzeitig auch vorwärts zu leben. Hierfür braucht es einen Willen, der das Selbst antreibt, seine Zukunft zu entwerfen (Rasmussen in Deuser & Kleinert, 2017: 222).4 Ein Selbst unterscheidet sich dementsprechend von einer Pflanze oder anderen Seinsformen, weil es nicht einfach nur ist, sondern existiert. Existenz ist in diesem Sinne nicht als Zustand sondern als Vollzug zu verstehen und zwar als ein andauernder Vollzug (Kierkegaard, 2014: 829). Das, was das Selbst tun wird, bestimmt sogleich auch, wie das Selbst sein wird. Das Selbst wird durch den Vollzug der Existenz zu seinem eigenen Selbst konkretisiert und darf daher, trotz dem Spannungsverhältnis, nicht als Abstraktum verstanden werden (Kierkegaard, 2014: 773).
Kurz zusammengefasst: Die Existenz vollzieht sich durch die Selbstwahl (Gräb-Schmidt in Deuser & Kleinert, 2017: 196). Das Selbst ist dazu aufgerufen, ständig zu wählen, sich selbst zu entwerfen. Ein Selbst, das sich auf der Basis seines faktischen Gesetztseins hin in die Zukunft entwirft, wählt auch sich selbst. Bei dieser Wahl zum Entwurf geht es jedoch nicht um den praktischen Inhalt der Wahl, sondern um die Intensität des Willens, mit welcher gewählt wird (Kierkegaard, 2014: 716). Diese Intensität kann sowohl eigentlich (authentisch) als auch uneigentlich ausfallen. Dies sollte hier zur kurzen Bestimmung des Selbst genügen. Wenden wir uns der Authentizität zu.
Authentizität:
Authentizität im Kierkegaardschen Sinne kann also so verstanden werden, dass das Selbst sich frei zu sich selbst setzt (Kierkegaard, 2017: 32). Frei setzen heisst, dass es ein innerer Vollzug ist, der nicht von anderen Menschen aufgezwungen wurde.5 Selbst sein wollen, also authentisch sein, bedeutet des Weiteren, sich in jede Zeitdimension zu erstrecken. So setzt sich ein eigentliches Selbst, indem es nicht nur die eigene Geschichte anerkennt, sondern auch die Verantwortung für die Gegenwart und seine Zukunft übernimmt (Kierkegaard, 2014: 774ff). Durch diesen Vollzug vereinzelt es sich und konkretisiert sich zu einem eigentlichen Selbst. Vereinzeln ist hier nicht mit Isolation gleichzusetzen, sondern vielmehr mit Individuation. Denn das Selbst eignet sich die Welt durch seine Authentizität überhaupt erst wirklich an (Fonnegra in Deuser & Kleinert, 2017: 231).
Kierkegaard geht aber weiter davon aus, dass es nur wenigen Menschen wirklich gelingt, ein authentisches Leben zu führen. Dies liegt daran, dass dem Menschen das eigentliche Selbst unmerklich abhandenkommt oder verborgen bleibt (Kierkegaard, 2017: 54). Wenn der Mensch an Weltliches verfällt (hier nicht im religiösen Sinne zu verstehen), so versäumt er dabei, sein eigenes Selbst zu setzen (Kierkegaard, 2014: 790). Vielmehr definiert er sich durch Besitz, Errungenschaften, durch die öffentlichen Meinung und andere Zufälligkeiten. Sein Selbst bleibt ihm dadurch verborgen und in dieser Existenzform auch verschlossen. Es flieht davor, sich selbst zu setzen und die eigene Existenz zu übernehmen. Uneigentlichkeit, im Gegensatz zur Authentizität ist daher so zu verstehen, dass das Selbst (unbewusst) nicht sich selbst sein will (Kierkegaard, 2017: 80f). Unbewusst steht hier absichtlich in Klammern, weil das Selbst, das uneigentlich an die Welt verfallen ist, dennoch über ein Vorwissen über die Möglichkeit eines authentischen Selbst verfügt. Dieses Vorwissen kann urplötzlich in der Form von Verzweiflung auftreten und das Selbst vor die Wahl zur Authentizität stellen (Wesche, 2013: 28). Bevor wir uns weiter mit der Verzweiflung als Phänomen beschäftigen, soll hier noch erwähnt werden, dass das Selbst in seiner Selbstwahl auch scheitern kann (Kierkegaard, 2017: 86). Dies wird uns in (2.5.) und in Kapitel 3 noch weiter beschäftigen.
2.2. Gestalten der Verzweiflung
Verzweiflung bezeichnet nach Kierkegaard ein strukturelles Scheitern der eigenen Lebensverständigkeit und steht damit für die Erfahrung6 von Unklarheit, in welcher dieses Misslingen zum Ausdruck kommt (Kierkegaard, 2017: 34). Die zu bestimmenden Modalitäten der Verzweiflung sind also folgende vier: Erstens, Wer verzweifelt, ist das Selbst, also wir Menschen, was schon in (2.1.) besprochen wurde. Zweitens, Über welches Sein verzweifelt hierbei das Selbst? Nicht über irgendeines, sondern über das Dasein, also seine je eigene Existenz, die es vollziehen muss. Drittens, das Selbst verzweifelt weiter an seiner eigenen Lebensverständigkeit (das Was es ist), welche zu einer gelingenden und eigentlichen Existenz führen könnte, was wir später in (vgl. 2.5. und Kapitel 3) genauer betrachten werden. Denn dieses unklare Dasein will gedeutet sein. Viertens, geschieht dies durch die fehlende Klarheit (weshalb), oder Unbestimmtheit der eigenen Lebensverständigkeit (vgl. 2.4). Nun ist Verzweiflung jedoch keine simple Erfahrung, sondern fächert sich in unterschiedliche Gestalten auf. Kierkegaard führt dementsprechend verschiedene Arten und Stufen der Verzweiflung ein.7 Für die vorliegende Untersuchung wird nur die eigentliche, bewusste Verzweiflung relevant sein. Für die produktive Weiterentwicklung seiner Theorie, lohnt es sich jedoch, diese kurz von den anderen abzugrenzen.
Eigentliche und uneigentliche Verzweiflung:
Für Kierkegaards Philosophie und auch für die vorliegende Arbeit steht die eigentliche Verzweiflung im Vordergrund (Kierkegaard, 2017: 31). Denn in der eigentlichen Verzweiflung wird der eigene Lebensvollzug hinterfragt, da er bis dahin als misslungen interpretiert wird (Wesche, 2013: 41). Die eigentliche Verzweiflung kann als Grundverfassung des Menschseins betrachtet werden und ist demnach auch die Ursprünglichste (Theunissen, 1993: 101f). Die folgenden Teile dieser Arbeit werden sich daher mit dieser Form auseinandersetzen.
Hingegen ist die Existenz einer uneigentlichen Verzweiflung, wie sie Kierkegaard behauptet, sowohl fraglich als auch doppeldeutig (Theunissen, 1993: 30). In der uneigentlichen Existenz darf es nämlich noch kein eigentliches Selbst geben, dass sich selbst setzen möchte, sonst wäre es wiederum eine eigentliche Verzweiflung. Man kann Kierkegaard hierauf so interpretieren, dass er unter der uneigentlichen Verzweiflung zweierlei verstehen kann: Uneigentliche Verzweiflung wäre unbewusste Verzweiflung, oder eine Verzweiflung, die nicht das Selbst, sondern etwas Weltliches, also etwas Äusseres thematisiert. Betrachten wir also beide Punkte.
Bewusste und unbewusste Verzweiflung:
Dass die eigentliche Verzweiflung je schon bewusst ist, wird dadurch begründet, dass das Anerkennen der Verzweiflung schon ein solches Offenbarwerden voraussetzt (Kierkegaard, 2017: 69). Was bedeutet das? Während dem die uneigentliche Verzweiflung existenziell auf Weltliches bezogen ist, wird durch die Anerkennung der Verzweiflung die Erfahrung auf die existenziale Ebene gehoben, da sie den eigenen Lebensvollzug thematisiert.8 Das Selbst verzweifelt also nicht an irgendetwas sondern an seiner eigenen Lebensverständigkeit. Dieses Entdecken und Anerkennen der eigenen Verzweiflung wird jedoch von Selbsttäuschungen verhindert (vgl. 2.5.) und muss daher als graduell aufgefasst werden (Kierkegaard, 2017: 73). Das Selbst beinhaltet also sowohl entbergende als auch verdeckende Züge in sich, wenn es um die Verzweiflung geht (Wesche, 2013: 88). Wichtig ist hier aber festzuhalten, dass die eigentliche Verzweiflung bewusst sein muss.
Unbewusste Verzweiflung ist im Gegenzug nicht bedrängend, sie ist verdeckt. Daher kann sie sich auch in Angst umwandeln (Wesche, 2013: 59). Ein Selbst, dass unbewusst und an etwas Weltlichem verzweifelt, hat sich daher noch nicht selbst gesetzt (Theunissen, 1993: 33). Die unbewusste Verzweiflung geht daher auch mit einer niedrigeren Intensität einher. Es fragt sich aber, ob es Erfahrungen an sich geben kann, die unbewusst sind (Damasio, 2017: 118). Auch mit einer niedrigen Intensität wären Erfahrungen Teil des Bewusstseins und nicht unterbewusste Regungen (Nussbaum, 2004: 186). Es lohnt sich daher vielleicht, den heideggerschen Begriff Befindlichkeit (Heidegger, 2006: 134) hier für die Verzweiflung zu übernehmen, um diesen Einwänden zu entgehen. Das Selbst befindet sich in der Verzweiflung, es findet sich darin, was nicht bedeuten muss, dass dies vollumfänglich bewusst passiert. Für den Rest der Arbeit wollen wir also Verzweiflung als Befindlichkeit verstehen.
Intentionalität und Abstufung der Verzweiflung:
Befindlichkeit darf hier bei Kierkegaard nicht nur bloss als passiv-statischer Zustand verstanden werden. Vielmehr sind die meisten seiner Befindlichkeiten stufenbedingt, welche sich durch die Intensität und die Intentionalität unterscheiden (Liessman in Deuser & Kleinert, 2017: 139). Diese Stufen können in einem einzelnen Prozess ablaufen oder unterschiedlich auftauchen (Kierkegaard, 2017: 35). Es ist hier jedoch wichtig, die Stufen nicht als völlig losgelöste und unabhängige Phänomene sondern als Gestalten einer Befindlichkeit zu betrachten. Die erst genannte Stufe kann als die uneigentliche und unbewusste verstanden werden, in welcher das Selbst sich weder setzt, noch seiner tieferen Verzweiflung bewusst ist. Diese Stufe der Verzweiflung ist meistens auf etwas Weltliches gerichtet. Die zweite Stufe könnte man als voreigentlich betiteln, in welcher das Selbst schon sein Vorwissen über die tiefere Verzweiflung erkennt, da diese in ihm aufbricht (Theunissen, 1993: 34). In ihr flieht das Selbst aber davor, sich selbst zu setzen und die Spannung seiner eigenen Existenz zu tragen. Es ist hierbei besonders anfällig für Selbsttäuschungen (vgl. 2.5.). Die dritte Stufe ist dementsprechend die eigentliche und bewusste Verzweiflung. In ihr wird die existenzielle Befindlichkeit auf die existenziale Ebene gehoben (Theunissen, 1993: 17). Das Selbst ist hierbei also sowohl die Quelle als auch die Thematik der Verzweiflung. Das Selbst erkennt sein Misslingen und setzt sich mit seinem eigenem Wollen auseinander. Die vierte Stufe bilden die Folgen der Verzweiflung, welche in (2.6.) behandelt werden. In ihnen wird die Verzweiflung selbst zur Thematik.
2.3. Phänomenologie der Verzweiflung
Verzweiflung ist jene Befindlichkeit, die das Misslingen des eigenen Lebensvollzugs zum Ausdruck bringt. Dies geschieht jedoch nicht völlig qualitätslos, denn Lebensverständigkeit ist nie indifferent (Solomon, 2003: 42). Verzweifeln ist nach Kierkegaard sowohl Handeln als auch Erleiden (Theunissen, 1993: 88). Wir beschränken uns hier auf den Aspekt des Erleidens, also auf die phänomenologischen Aspekte der Verzweiflung. Die Handlungen werden in (2.5 und 2.6.) untersucht.
Dass Kierkegaard bei der Verzweiflung wohl Informationen aus seinem eigenen Leben entnimmt, ist wohl kaum zu bezweifeln. Jedoch stellt sich die Frage der Adäquatheit, also ob diese Befindlichkeit auch bei anderen Menschen auftaucht (Theunissen, 1993: 15). Der Vergleich zu anderen Quellen würde wiederum eine eigene Untersuchung verlangen und das vorgenommene Ziel der vorliegenden Arbeit verfehlen. Ich möchte hier deshalb nur kurz auf drei Beispiele hindeuten, die offensichtliche Parallelen zu Kierkegaards Konzeption von Verzweiflung aufweisen und damit eine gewisse Adäquatheit bestätigen: Als erstes Beispiel bietet sich der chinesische Zen-Buddhist Hanshan an, welcher seinem bürgerlichen Leben entsagt. Als er dessen Uneigentlichkeit erkennt, zieht er sich in die Berge zurück, um ein Eremitenleben zu praktizieren (Hanshan, 2015). Ein weiteres Beispiel ist Hermann Hesses Steppenwolf, welcher sich verzweifelnd zwischen der Wahl eines individuellen Lebens oder eines konformistischen, aber dafür gemeinschaftlichem Lebens befindet (Hesse, 2012). Der dritte Fall finden wir in den Werken von Max Frisch (Gräb-Schmidt in Deuser & Kleinert, 2017: 199). Beispielsweise Stiller (Frisch, 1973), ein Opfer der eigenen Selbsttäuschung, will sich die Möglichkeit erhalten, seine existenziale Freiheit an die Grenze der Vernunft zu treiben. Alle von ihnen weisen Merkmale auf, die nun erläutert werden. Wenden wir uns also den phänomenologischen Aspekten einzeln zu.
Krankheit zum Tode als Zeitleere:
Wie der Titel seiner Untersuchung schon zeigt, versteht Kierkegaard die Verzweiflung als eine Krankheit, jedoch nicht als eine physische Krankheit sondern als eine Krankheit des Geistes (Kierkegaard, 2017: 37). Doch weshalb kommt der Aspekt des Todes dazu? Verzweiflung ist keine tödliche Krankheit, also eine, welche zum Tode führt. Der Tod ragt hier nämlich umgekehrt ins Leben hinein. Verzweiflung bedeutet dementsprechend zu leben, wie es Verstorbene tun (Wesche, 2013: 42). Verzweiflung fühlt sich an, wie ein einziges und ewiges Sterben (Kierkegaard, 2017: 37). In der Erfahrung des Misslingens eigentlicher Lebensverständigung, erkennt das verzweifelnde Selbst, dass es leben muss und dies bisher versäumt hat. Es ist seinem Selbst, dass sich noch nicht authentisch gesetzt hat, äusserlich und entfremdet (Cappelörn in Deuser & Kleinert, 2017: 32). All diese Punkte finden wir schon in Entweder - Oder (Kierkegaard, 2014: 255ff), wenn der Ästhetiker A versucht, den unglücklichsten Menschen zu bestimmen. Ihm ist das ewig leere Grab gewidmet. Zudem spricht er dabei zu den Symparanekromenoi (griechisch: Mitverstorbenen), welche schon das Leben als Verstorbene für sein späteres Werk andeuten (vgl. Rocca in Deuser & Kleinert, 2017). Durch die Unklarheit der eigenen Lebensverständigung und die Einsicht dieses Misslingens, wird auch offenbar, dass der Tod, welcher der Prüfstein des eigenen Lebenssinns darstellt, aus offensichtlichen Gründen nicht innerzeitlich überholt werden kann. Der eigene Tod kann nicht unmittelbar als Perspektive eingenommen werden. Ob das Selbst also seine Existenz eigentlich und sinnvoll gestaltet, kann nicht sofort ersichtlich werden (vgl. Kapitel 3). Das Selbst fristet in der Verzweiflung also eine Selbstverborgenheit, die ihm nicht enthüllt werden kann, wodurch die eigene Lebenszeit als leer und verkürzt und daher als erstorben empfunden wird (Wesche, 2013: 43).
[...]
1 Celan, 2011: 113.
2 Vgl. hierzu Diem in Kierkegaard (2017), Theunissen (1993), sowie Hüsch (2014).
3 Vgl. hierzu auch ausführlich meinen Essay: Kierkegaard - Ziel und Methode seiner Philosophie (2019).
4 Heidegger (2006) erkennt, dass auch ein uneigentliches Dasein schon einen unbewussten Willen (die Sorge) hat, um sich und um sein Sein zu kümmern. Es fragt sich, ob Kierkegaard dies wirklich anders sehen würde, auch wenn er nicht darauf eingeht.
5 Vgl. hierzu besonders Bieri (2016).
6 Erfahrung darf hier nicht im Sinne von Hume verstanden werden (Wesche, 2013: 20). Wir werden daher später den Begriff mit Befindlichkeit ersetzen.
7 Der Umfang dieses Kapitels wird der Komplexität der Kierkegaardschen Auseinandersetzung kaum gerecht. Dennoch sind die Gestalten der Verzweiflung nur Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung dieser Arbeit. Für eine detaillierte Auseinandersetzung der Gestalten und dazugehörige Kritik, vgl. Theunissen (1993).
8 Eine Unterscheidung, die ich hier von Heidegger (2006) übernommen habe.
- Citation du texte
- Omar Ibrahim (Auteur), 2019, Verzweiflung und Authentizität. Eine produktive Weiterentwicklung von Kierkegaard, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/515319
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