Kinder- und Jugendliteratur gibt es seit geraumer Zeit. Die Spuren reichen zurück bis in das Mittelalter. In den Anfängen (um 1650) war es vor allem Tugend- und Anstandsliteratur, die für junge Mädchen und Jungen verfasst wurde. Es waren Bücher, die nicht den Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Träumen der Kinder entsprachen, sondern solche, die die Erwachsenen selbst widerspiegelten. Jugendliteratur, die den besonderen Ansprüchen der jungen Leser entspricht, gibt es erst seit der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In dieser poetischen Welt der Romantik kam Kindern nun eine Sonderrolle zu. Sie wurden nicht mehr als kleine Erwachsene gesehen, verfrühte Bildung der Kinder wurde abgelehnt. Mit Werken wie den "Kinder- und Hausmärchen" der Gebrüder Grimm wurde eine "kindgerechte" Literatur für die jungen Leser geschaffen.
Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, machte dann mehr und mehr eine neue Art des Kinderbuches Furore: Die Phantastische Erzählung. Fast zeitgleich [Erstausgabe in Deutschland: 1949] hält auch Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" Einzug in die deutschen Kinderzimmer, und hat sich seitdem zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur herausgebildet. Ein zeitgenössischer schwedischer Autor reagierte auf das Erscheinen des ersten Bandes mit Kritik. Er bezeichnete die literarische Figur des Werkes als völlig "unnormales" ja sogar "unnatürliches" Mädchen mit "Zwangsvorstellungen einer Geisteskranken" [Psychologieprofessor/Literaturkritiker Landquist 1946]. Handelt es sich bei "Pippi Langstrumpf" um eine realistische, mit seinen Worten "natürliche" (vgl.oben) Figur? Würde es tatsächlich Eltern geben, die ihre Kinder alleine in einer Villa wohnen lassen? Ein Mädchen das nicht zur Schule gehen muss und ein Pferd auf der Veranda stehen hat?
Damit ist eine grundlegende Frage aufgeworfen, die auf die Unterscheidung von realistischer und phantastischer Literatur abzielt. Denn nur wenn man die phantastische Erzählung als eigenständige Gattung nimmt und "Pippi Langstrumpf" als phantastische Geschichte liest, kommt man zu einem angemessenen Verständnis des Buches, das durchsichtig zu machen versteht, warum Astrid Lindgrens Werk zum Klassiker werden konnte. Viele Kinderliteraturforscher haben Astrid Lindgrens Werke daher auch tatsächlich in den Kanon der phantastischen Literatur aufgenommen. Pippi Langstrumpf gilt als Wegbereiterin der phantastischen Kinder und Jugendliteratur. [Nölling-Schweers 1980, 96]
Die Fragestellung die sich daraus ergibt, muss daher lauten: Ist dieses Buch wirklich zur Gattung der phantastischen Erzählung zu zählen, oder handelt es sich hier um eine reale Geschichte mit irrealen Elementen? Wo genau manifestiert sich die Phantastik? Die vorliegende Hausarbeit untersucht, inwieweit Pippi Langstrumpf der Gattung der phantastischen Erzählung für Kinder entspricht. Anhand verschiedener Merkmale und Definitionen von (Kinder-)Literaturforschern werde ich zunächst untersuchen, was eine phantastische Erzählung ausmacht und den Kern in der Diskussion um die Gattung herausstellen. In einem zweiten Teil werde ich mich dann analysierend auf die Hauptfigur und ihre besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften beziehen, um in einem dritten Teil schließlich zusammenfassend die Ausgangsfrage zu untersuchen: Pippi Langstrumpf- eine phantastische Erzählung?
Inhalt
1. Einleitung
2. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur
2.1 Entstehung des Begriffes
2.2 Definition des Gattungsbegriffes
2.3 Funktion der phantastischen Erzählung für Kinder
3. Die literarische Figur der Pippi Langstrumpf
3.1 Pippis äußeres Erscheinungsbild
3.2 Die sprachliche Souveränität
3.3 Pippis phantastische Stärke
3.4 Die finanzielle Situation
3.5 Pippis Verhalten gegenüber Autoritäten
3.6 Pippis Selbständigkeit
4. „Pippi Langstrumpf“ - Eine phantastische Erzählung
4.1 Realistisch oder Phantastisch?
4.2 Überlegungen zum Rezeptionsverhalten
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Kinder- und Jugendliteratur gibt es seit geraumer Zeit. Die Spuren reichen zurück bis in das Mittelalter. In den Anfängen (um 1650) war es vor allem Tugend- und Anstandsliteratur, die für junge Mädchen und Jungen verfasst wurde. Es waren Bücher, die nicht den Sehnsüchten, Nöten, Ängsten und Träumen der Kinder entsprachen, sondern solche, die die Erwachsenen selbst widerspiegelten. Jugendliteratur, die den besonderen Ansprüchen der jungen Leser entspricht, gibt es erst seit der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In dieser poetischen Welt der Romantik kam Kindern nun eine Sonderrolle zu. Sie wurden nicht mehr als kleine Erwachsene gesehen, verfrühte Bildung der Kinder wurde abgelehnt. Mit Werken wie den „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm wurde eine „kindgerechte“ Literatur für die jungen Leser geschaffen.
Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, machte dann mehr und mehr eine neue Art des Kinderbuches Furore: Die Phantastische Erzählung. Fast zeitgleich[1] hält auch Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ Einzug in die deutschen Kinderzimmer, und hat sich seitdem zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur herausgebildet. Ein zeitgenössischer schwedischer Autor reagierte auf das Erscheinen des ersten Bandes mit Kritik. Er bezeichnete die literarische Figur des Werkes als völlig „unnormales“ ja sogar „unnatürliches“ Mädchen mit „Zwangsvorstellungen einer Geisteskranken“[2]. Handelt es sich bei „Pippi Langstrumpf“ um eine realistische, mit seinen Worten „natürliche“ (vgl.oben) Figur? Würde es tatsächlich Eltern geben, die ihre Kinder alleine in einer Villa wohnen lassen? Ein Mädchen das nicht zur Schule gehen muss und ein Pferd auf der Veranda stehen hat?
Damit ist eine grundlegende Frage aufgeworfen, die auf die Unterscheidung von realistischer und phantastischer Literatur abzielt. Denn nur wenn man die phantastische Erzählung als eigenständige Gattung nimmt und „Pippi Langstrumpf“ als phantastische Geschichte liest, kommt man zu einem angemessenen Verständnis des Buches, das durchsichtig zu machen versteht, warum Astrid Lindgrens Werk zum Klassiker werden konnte.
Viele Kinderliteraturforscher haben Astrid Lindgrens Werke daher auch tatsächlich in den Kanon der phantastischen Literatur aufgenommen. Pippi Langstrumpf gilt als Wegbereiterin der phantastischen Kinder und Jugendliteratur.[3]
Die Fragestellung die sich daraus ergibt, muss daher lauten: Ist dieses Buch wirklich zur Gattung der phantastischen Erzählung zu zählen, oder handelt es sich hier um eine reale Geschichte mit irrealen Elementen? Wo genau manifestiert sich die Phantastik? Die vorliegende Hausarbeit untersucht, inwieweit Pippi Langstrumpf der Gattung der phantastischen Erzählung für Kinder entspricht. Anhand verschiedener Merkmale und Definitionen von (Kinder-)Literatur-forschern werde ich zunächst untersuchen, was eine phantastische Erzählung ausmacht und den Kern in der Diskussion um die Gattung herausstellen. In einem zweiten Teil werde ich mich dann analysierend auf die Hauptfigur und ihre besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften beziehen, um in einem dritten Teil schließlich zusammenfassend die Ausgangsfrage zu untersuchen: Pippi Langstrumpf- eine Phantastische Erzählung?
2. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur
2.1. Entstehung des Begriffes
Phantastische Geschichten gab es schon bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822), doch der Begriff der „phantastischen Erzählung“ ist als Benennung einer literarischen Gattung noch recht jung. 1954 wurde der Typ der phantastischen Abenteuergeschichte zum ersten Mal aus der Gattung der Märchen hervorgehoben.[4] Bis dato wurden diese Geschichten zu der Gattung der Märchen gezählt, doch die Welt der Märchen unterscheidet sich auch heute noch stark von der der phantastischen Geschichten. Eine Kinder- und Jugendliteraturforscherin sagt 1959 über die phantastische Geschichte: „Wunderwelt und Wirklichkeit [bestehen] in einem oft merkwürdigen Gegensatz nebeneinander“, und grenzt sie somit eindeutig von der Gattung der Märchen ab, in dem (meist) alle Figuren märchenhafte Elemente aufweisen und der irrealen Welt angehören.[5] Als Beispiele nennt sie die „Mary Poppins“ Werke von Pamela L. Travers, Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ sowie die Erzählung „Doktor Dolittle“ von Hugh Lofting.
Die heute als Gattungsbegriff verwendete Bezeichnung „ phantastische Erzählung“ entwickelte sich aus einer Verallgemeinerung des Typs der „phantastischen Abenteuergeschichte“. Mit ihr wurde 1959 der Grundstein für die sich international entwickelnde Forschung über phantastische Kinderliteratur gesetzt.
2.2 Definition des Gattungsbegriffes
Verschiedentlich wurde versucht, die Gattung der Phantastischen Erzählung zu definieren. Schon bei der Entstehung des Begriffes wurde deutlich: der wesentliche Charakterzug liegt in der Begegnung zweier Welten. Zumindest bei der Phantastischen Erzählung für Kinder liegt das Augenmerk aber nicht bei dem unmittelbaren Zusammentreffen, der Konfrontation dieser Ebenen. Das Magische, Phantastische und Realistische sind im Kinderbuch kein Gegensatz sondern ergänzen und bedingen einander.
„Typisch für das Kinderbuch ist […] ein kindlicher Held, der in einen Konflikt gerät, diese Situation aber meistern kann, entweder mit Hilfe phantastischer Gestalten oder aufgrund einer im Bereich des Imaginären angelegten Handlung, in der der Held schließlich selbst die bis dahin fehlende Kraft gewinnt, so dass er die Lage klären kann.“[6]
Weitere Merkmale bietet auch der Vergleich mit dem Volksmärchen.[7] Im Märchen existiert nur die phantastische Ebene. Das Auftreten phantastischer Elemente oder Figuren wird als natürlich hingenommen. Phantastisch wird eine Erzählung aber erst dann, wenn die Personen der Handlung ein Geschehen als unbegreiflich und ungewöhnlich empfinden und eine Handlung sich absolut nicht in ihr Weltbild einordnen lässt. Des Weiteren wird in der phantastischen Erzählung in das Phantastische eingeführt und somit kommt die phantastische Seite dem naturwissenschaftlichem Weltbild des Lesers deutlich näher. Im Märchen dagegen wird dem Leser das Irreale als selbstverständlicher Ist-Zustand vorgeführt und nicht näher erläutert.
Um die Gattung der phantastischen Erzählung genauer zu bestimmen, kann man fünf Merkmale betrachten, die eine phantastische Erzählung für Kinder charakterisieren.[8] Ein erstes Merkmal wäre der sprunghafte Wechsel von Realität und Phantastischem. Des Weiteren ist die „Vorrangstellung der kindlichen Welt vor der der Erwachsenen“ deren Leben als langweilig, gemein und hässlich dargestellt wird, aufzunehmen. Auch die verschieden Facetten der Komik von einfacher „ Situationskomik über Witz, Ironie bis zum Nonsense und zur Freude am Wortspiel“ zeichnen eine phantastische Erzählung aus. Ein weiteres Merkmal dieser Gattung ist das spielerische Element und die Freude am Spiel in verschiedenen Variationen. Als letztes wäre der geheimnisvolle, mystische Charakter, der dem Leser nicht durch die Handlung, sondern meist durch geheimnisvolle Andeutungen des Erzählers aufgezeigt wird, zu nennen.
Weiterführend sind drei unterschiedliche Variationen der phantastischen Erzählung zu beobachten, die der Jugendbuchforscher und Germanist Klaus Doderer aufgezeigt hat[9] und die diese Merkmale noch komplettieren.
In der ersten Variante existieren die verschiedenen Welten nebeneinander. An bestimmten „Umsteigepunkten“ ist es den Personen oder auch Gegenständen möglich zwischen der realen und der phantastischen Welt zu wechseln. Als Beispiel kann die Geschichte von „Alice im Wunderland“ angeführt werden. Die literarische Figur gelangt durch das Kaninchenloch in die phantastische Welt und entflieht am Schluss der Geschichte durch dieses Loch wieder in die reale Welt. Ein weiteres Beispiel ist Christine Nöstlingers „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, in der die „Gurkinger“ als Gesellschaft im Keller der Familie Hogelmann leben. Umsteigepunkt ist hier die Kellertür. Eine phantastische Geschichte, die sich komplett in der realen Welt abspielt, ist zur zweiten Variante zu zählen. In dieser realen Welt finden sich nun Figuren oder Gegenstände aus der phantastischen Welt wieder. Sonderbare Kinder mit phantastischen Fähigkeiten tauchen auf, Puppen oder anderes Spielzeug wird lebendig („Pinocchio“), moderne Hexen und andere Wesen existieren in der realen Welt („Die kleine Hexe“). Das Merkmal der dritten Variante: Die Erzählung spielt von Anfang bis Ende in der phantastischen Welt „mit nur dieser Erzählung eigenen Bewohnern und Gesetzmäßigkeiten“[10]. Beispiele sind hier sowohl die „Mummins“ der schwedischen Autorin T. Jansson sowie Tolkiens „ Der Kleine Hobbit“.
Zusammenfassend stellen sich zwei Merkmale der phantastischen Erzählung dar. Anspruch auf Vollständigkeit kann allerdings nicht erhoben werden, denn noch heute läuft die Diskussion über die eindeutige Einordnung und Bestimmung der Phantastischen Erzählung.
Als grundlegend kann man das Vorhandensein phantastischen und realistischen Elementen sehen. Phantastische Elemente manifestieren sich als Figuren, Gegenstände, Ereignisse oder sogar ganze Welten, „wie sie den gegebenen Gesetzlichkeiten unserer Welt entgegenstehen und so in unserer realen Welt nicht vorkommen können.“[11] Als weiteres Merkmal ist die Individuelle Handschrift des jeweiligen Autors anzuführen, die sich in Sprache, Stil sowie Thema, Handlungsverlauf und Aussage zeigt.[12]
[...]
[1] Erstausgabe in Deutschland: 1949
[2] Psychologieprofessor/Literaturkritiker Landquist 1946
[3] Nölling-Schweers 1980, 96
[4] Krüger, 1954
[5] Koch 1959,55
[6] Meißner 1989, 156
[7] Doderer, 1975-82, 38
[8] Binder 1969 zit. n. Doderer, 1975-82, 37
[9] Doderer, 1975-82, 38
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] A.a.O., 37
- Arbeit zitieren
- Sarah Unthan (Autor:in), 2004, 'Pippi Langstrumpf' von Astrid Lindgren - eine phantastische Erzählung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51443
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