Der Krieg ist weit weg. Wenn in Tschetschenien gekämpft wird, bekommen wir das meist nur noch zu hören, wenn mehrere hundert Menschen ihr Leben geben mussten. Das war beispielsweise im Juni 1995 der Fall, als tschetschenische Kämpfer ein russisches Krankenhaus stürmten und Geiseln nahmen, im Oktober 2002, als Tschetschenen ein Moskauer Theater mit über 700 Geiseln besetzten oder im September 2004 bei der Geiselnahme in einer Schule in Beslan.
Die Konfliktursachen sind in den Hintergrund gerückt, immer öfter werden die tschetschenischen Kämpfer mit "islamistische Terroristen" gleichgesetzt, die es hart zu bekämpfen gelte, was soweit führt, dass Russlands Präsident Putin behauptet, die tschetschenischen Rebellen und die islamistische Terrorbewegung Al-Qaida seien "absolut identisch" (Kramer 2005:57).
Welche Rolle der Islam – oder genauer: die ideologische Strömung Islamismus – im Tschetschenienkonflikt hat und wie sich diese Rolle wandelte, soll in dieser Arbeit beleuchtet werden. Ausgangsthese ist, dass der Islamismus nur als Mittel für Auseinandersetzungen benutzt wird, die ursprünglich kaum etwas damit zu tun hatten. Eigentliches Ziel der tschetschenischen Kämpfer ist immer noch die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Russland, auch wenn es in der öffentlichen Darstellung oft in den Hintergrund gerückt wird. Zusätzlich soll versucht werden zu klären, warum dieser Wandel stattgefunden hat.
Dazu wird zuerst die Region vorgestellt und auf soziale Besonderheiten eingegangen. Danach wird ein Blick auf die Geschichte Tschetscheniens geworfen, ohne die die heutigen Konflikte kaum zu verstehen sind. Die Zeit ab 1990 wird verstärkt betrachtet, um neben den Ursachen auch die Auslöser der Auseinandersetzungen erfassen zu können. Daran schließt der Versuch an, die Rolle des Islamismus im Konflikt herauszuarbeiten. Dabei lassen sich drei grobe Phasen feststellen, auf die im Text näher eingegangen wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ursprünge, Geographie, Demografie und Soziales
3. Geschichte der Region
4. Die Entwicklung Tschetscheniens ab 1990
5. Die Bedeutung Tschetscheniens für Russland
6. Der erste Tschetschenien-Krieg
7. Der zweite Tschetschenien-Krieg
8. Die Rolle des Islamismus im Tschetschenienkonflikt
8.1. Begriffsklärungen
8.2. Phase 1: 1994-1997 – Islamisierung als Mobilisierungsmittel
8.3. Phase 2: 1998-2001 – Radikalisierung
8.4. Phase 3: Ab 2001 – Verschärfung
9. Zusammenfassung
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Krieg ist weit weg. Wenn in Tschetschenien gekämpft wird, bekommen wir das meist nur noch zu hören, wenn mehrere hundert Menschen ihr Leben geben mussten. Das war beispielsweise im Juni 1995 der Fall, als tschetschenische Kämpfer ein russisches Krankenhaus stürmten und Geiseln nahmen, im Oktober 2002, als Tschetschenen ein Moskauer Theater mit über 700 Geiseln besetzten oder im September 2004 bei der Geiselnahme in einer Schule in Beslan.
Die Konfliktursachen sind in den Hintergrund gerückt, immer öfter werden die tschetschenischen Kämpfer mit "islamistische Terroristen" gleichgesetzt, die es hart zu bekämpfen gelte, was soweit führt, dass Russlands Präsident Putin behauptet, die tschetschenischen Rebellen und die islamistische Terrorbewegung Al-Qaida seien "absolut identisch" (Kramer 2005:57).
Welche Rolle der Islam – oder genauer: die ideologische Strömung Islamismus – im Tschetschenienkonflikt hat und wie sich diese Rolle wandelte, soll in dieser Arbeit beleuchtet werden.
Ausgangsthese ist, dass der Islamismus nur als Mittel für Auseinandersetzungen benutzt wird, die ursprünglich kaum etwas damit zu tun hatten. Eigentliches Ziel der tschetschenischen Kämpfer ist immer noch die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Russland, auch wenn es in der öffentlichen Darstellung oft in den Hintergrund gerückt wird. Zusätzlich soll versucht werden zu klären, warum dieser Wandel stattgefunden hat.
Dazu wird zuerst die Region vorgestellt und auf soziale Besonderheiten eingegangen. Danach wird ein Blick auf die Geschichte Tschetscheniens geworfen, ohne die die heutigen Konflikte kaum zu verstehen sind. Die Zeit ab 1990 wird verstärkt betrachtet, um neben den Ursachen auch die Auslöser der Auseinandersetzungen erfassen zu können. Daran schließt der Versuch an, die Rolle des Islamismus im Konflikt herauszuarbeiten. Dabei lassen sich drei grobe Phasen feststellen, auf die im Text näher eingegangen wird.
Die Quellenlage zu Tschetschenien verändert sich parallel zur Situation vor Ort. In der Zeit zwischen 1994-96, dem ersten Tschetschenienkrieg, und 1999-2000, dem zweiten Tschetschenienkrieg, gibt es vermehrt Studien und Analysen, während aktuelle Literatur spärlicher zu finden ist. Aus Aktualitätsgründen wurden bevorzugt wissenschaftliche Zeitschriften und Artikel benutzt. Da die Interessenlage je nach Sichtweise sehr unterschiedlich ist, wird bei Bedarf darauf hingewiesen, wenn es stark abweichende Deutungen eines Ereignisses gibt oder die Quelle einseitig auf russischen oder tschetschenischen Darstellungen beruht.
2. Ursprünge, Geographie, Demografie und Soziales
Tschetschenien ist eine ca. 16.000 km2 große Sowjetrepublik Russlands und damit ca. so groß wie Schleswig-Holstein[1]. Sie erstreckt vor allem sich über den Nordhang des Kaukasus-Gebirges, die Hauptstadt ist Grosny.
In Kaukasien, dem Gebiet südlich der osteuropäischen Ebene zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer grenzt Europa an Asien. Es leben besonders viele ethnische Gruppen in der Region wie sonst in kaum einer anderen Region, unter anderem Hunnen, Araber, türkische Völker, russische Kosaken, Krimtataren und Slawen. Die Tschetschenen (oder "Notscho", wie sie sich selbst nennen) gehören zu den ältesten Völkern Kaukasiens. Kulturspuren lassen sich bis zu einigen tausend Jahren zurückverfolgen. Die Sprache gehört zum vejnachskischen Zweig der kaukasischen Sprachfamilie und damit weder zur indogermanischen Sprachfamilie noch zu der der Turkvölker (Striebel 2005). In Tschetschenien leben ca. eine Million Einwohner, durch die beiden verlustreichen Kriege in den letzten Jahren wird die Zahl jedoch um Hunderttausende nach unten korrigiert werden müssen (Halbach 2003:39). Laut der sowjetischen Volkszählung von 1989 leben in Tschetschenien ca. 78 Prozent Muslime (Halbach 1996:5), nach den Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre kann jedoch angenommen werden, dass sich das prozentuale Verhältnis erhöht hat, da mehr christlich-orthodoxe Russen in andere Bereiche Russlands geflohen sind.
Das soziale Leben stützt sich meist auf Sippen von zwei bis drei Siedlungen, die sich auf gemeinsame Ahnen zurückführen lassen. Insgesamt gibt es ca. 165-170 Sippen. Der "Adat" – das Gewohnheitsrecht der Stämme und Sippen – bildet zusammen mit der islamischen Rechtsordnung Scharia den Kern der Rechtsvorstellungen. Gesellschaftlich waren die Sippen meist gleichberechtigt strukturiert, politische Entscheidungen wurden in Volksversammlungen getroffen. Einen herrschenden Adel oder Fürsten gab es nicht. Tschetschenen identifizieren sich stark mit ihren lokalen Gemeinschaften wie Sippe, Dorf oder lokalen religiösen Institutionen, aber kaum mit der Nation (vgl. Halbach 1994, Wagensohn 2000). Das lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass die unzugänglichen Bergregionen autonomes Wirtschaften erforderten und Kontakte zu entfernteren Gruppen weder leicht möglich noch unbedingt nötig waren. Die Clanstruktur erwies sich zwar als hilfreich bei der Verteidigung der Unabhängigkeit, jedoch auch sehr hinderlich für die Bildung eines Staates (Striebel 2005).
3. Geschichte der Region
Die Tschetschenen wurden zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert durch den Einfluss Georgiens zum Christentum bekehrt, verbanden die Religion aber mit lokalen Glaubenselementen. Von Süden und Osten her drangen im 16. Jahrhundert Osmanen in das Gebiet vor und bekehrten es zum (sunnitisch geprägten) Islam, den die Bewohner ebenfalls wieder mit ihren eigenen Gebräuchen zu einer Art Volksislam abwandelten (Breitner-Czuma 1998:12).
Russland stieß Mitte des 16. Jahrhunderts nach Kaukasien vor, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebten russische Kosaken und die Bergvölker friedlich nebeneinander.
Erst als die Kosaken-Siedlungen immer größer wurden und die russische Militärpräsenz zunahm, kam es zwischen 1785 und 1791 zum ersten "Dschihad", zum Heiligen Krieg gegen die russische Armee. Der Name der tschetschenischen Hauptstadt stammt aus dieser Zeit, denn 1818 legte der Oberkommandierende der russischen Kaukasien-Armee die Festung Grosny (russisch für "die Schreckliche") als Stützpunkt für Strafexpeditionen gegen die kaukasischen Bergvölker an (Wagensohn 2000:12).
Es folgte eine lange Phase russischer Kolonialpolitik in der Region, der die Tschetschenen regelmäßig Widerstand entgegensetzten. Sie beteiligten sich auch zwischen 1832 und 1859 an den sogenannten Muridenkriegen unter dem Imam Schamil, der einen stammesübergreifenden islamischen Staat in Nordkaukasien gründete[2]. Der hier islamisch geprägte Widerstand gegen die christlich-orthodoxen Russen führte zu einer Aufwertung des Islam als sinnstiftendes Element in der tschetschenischen Bevölkerung.
Die anschließende Rückeroberung des Gebiets durch Russland 1859 bis 1864 mit hohen russischen Verlusten wurde als "erster Kaukasuskrieg" bekannt und belastet bis heute das kollektive Gedächtnis sowohl Russlands als auch Tschetscheniens (Halbach 1994:17).
Im Gegensatz zu anderen Gebieten wie Armenien sahen die Tschetschenen sich durch die Fremdherrschaft nicht beschützt, sondern unterdrückt (ebenda). Danach kam es wiederholt zu Vertreibungen und Umsiedlungen von Tschetschenen durch Russen, die zu neuen Aufständen führten, die wiederum blutig niedergeschlagen wurden. Es begann eine umfassende Emigration, bei der rund ein Fünftel der Tschetschenen ihre Heimat in Richtung Türkei und Naher Osten verließen.
Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 wurde in Tschetschenien ein Scheich einer sufitischen Bruderschaft zum Iman von Tschetschenien gewählt. Im gleichen Jahr erklärte Lenin in einem Aufruf an "alle werktätigen Muslime Russlands und des Orients", dass deren Glauben, Sitten und Institutionen "frei und unantastbar" seien (zit. nach Halbach 1996:15). Doch schon in den 30er Jahren "wurden die islamischen Institutionen in der UdSSR aufgelöst, der Islam systematisch unterdrückt, die Moscheen weitgehend geschlossen" (Wagensohn 2000:12). Dazu kam, dass die Tschetschenen mit der von Stalin verordneten "Kollektivierung der Landwirtschaft" nicht einverstanden waren (Wagensohn 2000:12). Ab 1929 begann daher ein Kampf gegen die Rote Armee, diese rächte sich mit einer Verhaftungs- und Hinrichtungswelle ab 1937.
Während des Zweiten Weltkriegs erfolgte 1944 eine von Stalin angeordnete Deportation von Tschetschenen, welche die Biographie der älteren Tschetschenen immer noch stark prägt (ebenda:13). Offizielle Begründung war, dass die Tschetschenen bei der Besetzung Nordkaukasiens vom August 1942 bis Januar 1943 durch deutsche Truppen mit dem Feind kollaboriert hätten. Fast eine halbe Million Tschetschenen wurden nach Kasachstan und Mittelasien deportiert, insgesamt kamen dabei ca. 22% aller Tschetschenen ums Leben (Grobe-Hagel 1992:144). Gleichzeitig wurde versucht, die Erinnerung an die Tschetschenen in ihrem Heimatterritorium zu beseitigen: "Da wurde Geschichte umgeschrieben, wurden Quellenarchive vernichtet, Ortsnamen ausgelöscht, Friedhöfe planiert, Baudenkmäler gesprengt und nationale Gebietskörperschaften aufgelöst" (Halbach 1994:19). Langfristig gesehen führten diese Maßnahmen aber nicht zu einer Schwächung, sondern einer Stärkung des "ethnischen" Bewusstseins der Tschetschenen (ebenda).
[...]
[1] ohne Inguschetien
[2] Was wahrscheinlich nur deshalb gelang, weil Russland im Krimkrieg bis 1856 gegen die Türkei, Großbritannien und Frankreich zu kämpfen hatte.
- Citation du texte
- Dipl. pol. Robert Kneschke (Auteur), 2005, Die Rolle des Islamismus im Tschetschenienkonflikt - Ursprünge und Wandel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51367
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