Täglich werden in Deutschland durchschnittlich 100 Kinder und Jugendliche in Heimen aufgenommen. Viele von ihnen waren zuvor belastenden oder sogar traumatisierenden Lebensbedingungen ausgesetzt. Für Fachkräfte ergibt sich somit im heimerzieherischen Alltag ein intensiver pädagogischer Betreuungsbedarf.
Doch sind sie im Umgang mit Traumata geschult? Welche Folgen hat die Nicht-Erfüllung kindlicher Grundbedürfnisse und welcher Bedarf entsteht daraus für Kinder in Heimen? Was ist ein Trauma und welche Symptome treten dabei auf? Können Traumata nur in therapeutischen Settings aufgearbeitet werden oder kann die Pädagogik im Heim dabei unterstützen?
Lena Meiertoberens untersucht die Wirkung sowie die Ziele einer konsequenten Traumapädagogik. Außerdem geht sie auf Alternativen ein. Sie zeigt, wie pädagogische Fachkräfte sich traumabezogenes Fachwissen aneignen können. Ihr Buch richtet sich besonders an Führungskräfte und Mitarbeiter in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe.
Aus dem Inhalt:
- Jugendhilfe;
- Missbrauch;
- Psychobiologische Reaktion;
- Resilienz;
- Lebensweltorientierung;
- § 34 SGB VIII
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
2.1 Rechtliche Grundlagen
2.2 § 34 SGB VIII Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen
2.3 Aus welchen Lebenssituationen kommen Kinder und Jugendliche in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe?
2.4 Welchen Bedarf haben Kinder und Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe?
3 Die Gestaltung einer bedarfsgerechten Pädagogik und Heimerziehung in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII
3.1 Wirkfaktoren „erfolgreicher Heimerziehung“
3.2 Systemische Pädagogik in der Heimerziehung
3.3 Pädagogische Grundhaltung
3.4 Empowerment durch Partizipation
3.5 Bindungskorrektur als Arbeitsziel in der pädagogischen Heimerziehung
4 Die Aufnahme von traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII
4.1 Traumatisierung Definition
4.2 Psychobiologische Reaktion einer Traumatisierung
4.3 Traumafolgestörungen und Symptome
4.4 Resilienz und Trauma
4.5 Welche Bedarfe ergeben sich für Kinder und Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII aufgrund einer Traumatisierung?
5 Systemische Traumapädagogik als bedarfsgerechte Methode in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII
5.1 Traumapädagogik
5.2 Ein systemisches Verständnis von Trauma und Traumapädagogik
5.3 Haltung
5.4 Die stationäre Einrichtung als sicherer Ort - Sichern und Stabilisieren
5.5 Bindung und Beziehung
5.6 Selbstbemächtigung und Selbstwirksamkeit
6 Diskussion – Bedarf es wirklich einer besonderen Traumapädagogik in stationären Einrichtungen nach §34 SGB VIII, um eine bedarfsgerechte Pädagogik zu gewährleisten?
7 Fazit
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Grundlagen und Nachbardisziplinen systemischer Pädagogik
Abbildung 2: Die pädagogische Triade
1 Einleitung
"Heime, als Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe, können für die dort lebenden Kinder und Jugendlichen wichtige, förderliche oder verhindernde Orte des Aufwachsens sein" (Lang/Schirmer/Lang 2013, 17).
In den Institutionen der deutschen stationären Erziehungshilfe findet sich ein großer Anteil an Kindern und Jugendlichen, die stark belastenden und meist traumatisierenden Lebensbedingungen ausgesetzt waren. Es werden durchschnittlich täglich 100 Kinder und Jugendliche in stationären Erziehungshilfen aufgenommen, von denen mindestens 75% über ein oder mehrere traumatische Erlebnisse, wie schwere Unfälle, Vernachlässigung, körperliche und sexuelle Gewalt und emotionale Misshandlungen, die meisten von diesen in der unmittelbaren häuslichen Umgebung, berichten (vgl. Weiß 2016).
Im Gegensatz zu der Annahme, solche Erfahrungen könnten nur in therapeutischen Settings aufgearbeitet und bearbeitet werden, stellt auch die vorherrschende Pädagogik eine große Unterstützungsmöglichkeit dar. So ist diese in stationären Einrichtungen, die für die betroffenen jungen Menschen ihren Lebensmittelpunkt darstellen, ausgesprochen wichtig (ebenda). Mehringer betonte bereits vor vierzig Jahren die enorme Bedeutung des „therapeutischen Alltag von morgens bis abends“ (Mehringer 1979, 6).
Traumatische Erfahrungen spiegeln sich in auffälligen Verhaltensweisen und irrationalen Gefühlswelten wieder, die den heimerzieherischen Alltag aller Betroffenen, aller anderen Mitbewohner und pädagogischen Betreuer prägen. Dadurch besteht gerade für diese Kinder ein intensiver pädagogischer Betreuungsbedarf. Fachkräfte müssen den fachkompetenten und zugleich einfühlsamen Umgang mit traumabedingten Krisen und belastenden Verhaltensweisen der Kinder im Alltag verstehen, aushalten und gemeinsam mit den jungen Menschen bewältigen können (vgl. Weiß 2016). Jedoch weist Wilma Weiß diesbezüglich auf das folgende Problem hin: „Durch die Ausbildung wurden und werden soziale Fachkräfte bisher nicht auf die Konfrontation mit traumatischen Erinnerungsebenen vorbereitet“ (Weiß 2016, 86). Dadurch sind stark belastete Mädchen und Jungen in stationären Einrichtungen einem erhöhten Risiko ausgesetzt in ihrer Weiterentwicklung zu scheitern. „Dieses Risiko zeigt sich umso höher, je geringer sich das traumabezogene Fachwissen der pädagogischen Professionellen erweist. Die Besonderheiten einer destruktiven Traumadynamik erfordern besondere Berücksichtigungen und Schlussfolgerungen im pädagogischen Alltag, um nicht zu zusätzlichen neuen Belastungen oder eventuell retraumatisierenden Faktoren zu werden“ (Kühn 2017, 21).
So betonen unter Anderem pädagogische Fachexperten, wie Kühn (vgl. 2017), Weiß (vgl. 2016, 2017), Fegert (vgl. 2010) und Gahleitner et al. (vgl. 2017), die Notwendigkeit die aktuellen Erkenntnisse der Traumaforschung auch in pädagogischen Ansätzen zu berücksichtigen, um die betroffenen Mädchen und Jungen ihrem Bedarf entsprechend unterstützen zu können. Es besteht die dringende Forderung nach einer Traumapädagogik, die eine professionelle, erfolgreiche und heilsame Betreuung und Gestaltung des Alltags mit traumatisierten jungen Menschen ermöglicht und einer Überforderung und Ohnmacht der pädagogischen Fachkräfte vorbeugt (vgl. Fegert 2010). Wird zusätzlich der Tatsache Beachtung geschenkt, dass, durch den Ausbau der ambulanten Jugendhilfe, der Anteil an traumatisierten Kindern und Jugendlichen in den stationären Einrichtungen sogar eher zunehmen wird, da so nur Heranwachsende mit besonders belastetem sozialem Umfeld in die Heimerziehung gelangen und dort betreut werden (vgl. Schmid 2007), ist die Forderung nach der Integration einer fachkompetenten und konsequenten Traumapädagogik in die bestehende Heimerziehungspädagogik zunächst deutlich nachvollziehbar. Bei genauerer Betrachtung traumapädagogischer Prämissen können jedoch zusätzlich kritische Überlegungen angestellt werden, die unter der Forschungsfrage dieser Arbeit: Bedarf es tatsächlich einer besonderen Traumapädagogik in stationären Einrichtungen nach §34 SGB VIII, um eine bedarfsgerechte Pädagogik zu gewährleisten? zusammengefasst werden können und deshalb nachfolgend erarbeitet werden.
Um die Forschungsfrage innerhalb dieser Arbeit beantworten zu können, war es nötig die rechtlichen Grundlagen einer Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in einer stationären Einrichtung nach §34 SGB VIII zu thematisieren, um ein Verständnis für die darauffolgenden Ausführungen, in denen die Lebenslagen erläutert wurden, aus denen junge Menschen in stationären Einrichtungen stammen, zu bekommen. Auf der Basis des Ergebnisses, dass der Großteil der betroffenen Mädchen und Jungen aus psychosozial schwierigen und belastenden Herkunftssystemen stammt, in denen kindliche Grundbedürfnisse nicht vollends befriedigt werden konnten, wurde im daran anschließenden Kapitel eine Recherche über kindliche Grundbedürfnisse, welche Auswirkungen eine Nicht-Befriedigung dieser Bedürfnisse mit sich zieht und eine Erläuterung vorgenommen, welcher Bedarf für Mädchen und Jungen in stationären Einrichtungen daraus entsteht.
Auf der Grundlage dieser Nachforschungen ergaben sich die gewählten Inhalte für das anschließende Kapitel, welches die Gestaltung einer bedarfsgerechten Pädagogik und Heimerziehung in der Kinder- und Jugendhilfe nach §34 SGB VIII in mehreren Schritten erläutert. Es wurde sich besonders auf ein systemisches Verständnis von Pädagogik, systemische Methodik im Alltag, Ressourcenorientierung und Lebensweltorientierung bezogen. Außerdem musste die Klärung einer pädagogischen Grundhaltung vorgenommen werden, die durch Partizipation und Bindungskorrektur eine bedarfsgerechte Pädagogik in stationären Einrichtungen gewährleisten soll.
Um fortführend der traumabedingten Thematik der Forschungsfrage näher zu kommen, wurden die Definition des Traumabegriffs, psychobiologische Reaktionen einer Traumatisierung, Traumafolgestörungen und Symptome und resilienztheoretische Aspekte eines Traumas detailliert durchleuchtet. Aufgrund dieses theoretischen Wissens, konnten anschließend Rückschlüsse für eine Auflistung und Begründung der Bedarfe formuliert werden, die sich für Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen nach § 34 SGB VIII aufgrund einer Traumatisierung ergeben. Im letzten Hauptkapitel wurde eine auf die Bedarfe traumatisierter Mädchen und Jungen abgestimmte Traumapädagogik vorgestellt, um alle nötigen Informationen für eine Diskussion rund um die zu erforschende Frage zu erhalten. Es wurden Gründe für die Notwendigkeit und Ziele einer konsequenten Traumapädagogik genannt, ein systemisches Verständnis von Trauma erläutert, eine traumapädagogische Haltung, das Konzept der Salutogenese und Ressourcenorientierung im Kontext Trauma vorgestellt. Außerdem wurden basale traumapädagogische Konzepte, wie der Sichere Ort, Bindungs- und Beziehungszusammenhänge und Selbstbemächtigung erläutert.
An dieser Stelle ist es von Bedeutung zu erwähnen, dass das Thema traumatisierter Kinder und Jugendlicher mit Fluchterfahrungen in dieser Arbeit nicht explizit aufgegriffen wird. Kriegs- und fluchtbedingt traumatisierte junge Menschen sind natürlich in allen Ausführungen dieser Arbeit mit inbegriffen, da auch sie, wie alle anderen traumatisierten Heranwachsenden, in hohem Maße von einer traumasensiblen Pädagogik in der stationären Jugendhilfe profitieren. Jedoch würde eine detaillierte und zusätzliche Aufnahme von traumatischen Erfahrungen im Krieg und Flucht den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Somit erhebt diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll einen übersichtlichen Überblick über das Thema traumatisierter Kinder und Jugendlicher in stationären Einrichtungen bieten, dessen Auswahl der Inhalte durch die Fragestellung beeinflusst wurde.
2 Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
Die stationäre Kinder- und Jugendhilfe gehört zu den Hilfen zur Erziehung innerhalb des achten Sozialgesetzbuches nach § 34 (§ 34 SGB VII I „Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen“) in der Bundesrepublik Deutschland. Hilfen zur Erziehung sind Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, auf die Eltern minderjähriger Kinder einen Rechtsanspruch haben, wenn sie eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht gewährleisten können, die Hilfe aber für die Entwicklung geeignet und notwendig ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2017).
Im vergangenen Jahr 2017 hat die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen für junge Menschen bis unter 27 Jahren mit rund 986 000 gewährten Fällen einen neuen Höchststand erreicht. Es waren 29 400 bzw. 3,1 % mehr Fälle als im Vorjahr. Seit 2008 ist die Zahl der Erzieherischen Hilfen im Durchschnitt jährlich um 2% gestiegen. Im SGB VIII sind die erzieherischen Hilfen in zehn Arten untergliedert. 83 % aller 2017 beanspruchten Hilfen verteilten sich dabei auf nur vier Hilfearten: mit knapp der Hälfte aller Fälle (47 %) ist die Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) nach wie vor am häufigsten in Anspruch genommen worden. Mit Abstand folgten Heimerziehungen oder betreute Wohnformen (15 %) (§ 34 SGB VIII), sozialpädagogische Familienhilfen (12 %) (§ 31 SGB VIII) und Vollzeitpflege in Pflegefamilien (9 %) (§ 33 SGB VIII) (ebenda).
Eine detaillierte Erläuterung der Rechtlichen Grundlagen im Zusammenhang mit der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII wird im folgenden Kapitel dieser Arbeit angestrebt.
2.1 Rechtliche Grundlagen
„Das Gesetz zur Neuerung des Kinder- und Jugendhilferechts, ist ein so genanntes Artikelgesetz, bestehend aus mehreren Artikeln. Artikel 1 ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), welches in das Sozialgesetzbuch an achter Stelle (SGB VIII) aufgenommen und seit den 1990er Jahren mehrmals novelliert wurde“ (Rätz 2014,42).
Am 03.Oktober 1990 trat das SGB VIII in den neuen Bundesländern und anschließend am 01. Januar 1991 in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland in Kraft (vgl. Günder 2015). Es wurde entsprechend der Ausführungsvorschriften der verschiedenen Bundesländer konkretisiert und soll gleiche Lebensbedingungen für junge Menschen im Bundesgebiet gewährleisten (vgl. Rätz 2014).
Das SGB VIII versteht sich als ein sozialpädagogisches Recht, welches gem. §1 SGB VIII das Recht des Kindes bzw. des Jugendlichen auf Förderung der Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit formuliert (§1 SGB VIII). Außerdem bestimmt es als konkrete Aufgabe der Jugendhilfe „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen“ (Günder 2015,48). Um dies zu verdeutlichen, werden im SGB VIII eine Vielzahl konkreter sozialpädagogischer Leistungen und Unterstützungsformen aufgeführt. Diese regeln besonders die Bereiche des Rechts auf soziale Leistungen und hoheitliche Maßnahmen, zusätzlich die Organisation der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Rätz 2014).
Das Recht auf soziale Leistungen im SGB VIII unterscheidet zwischen individuellen Rechtsansprüchen und der öffentlichen Gewährleistungsverantwortung. Diese stehen jedem offen und dienen der Prävention von Problemlagen und Krisen (ebenda).
Für diese Arbeit ist die Betrachtung der individuellen Rechtsansprüche nach dem SGB VIII von großer Bedeutung. Dazu zählen zum Beispiel Hilfen zur Erziehung (§27 SGB VIIII), wie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (§31 in Verbindung mit §27 SGB VII) oder Heimunterbringung, bzw. andere betreute Wohnformen (§34 in Verbindung mit §27 SGB VIII). Um eine Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung zu legitimieren, muss „der erzieherische Bedarf, die Geeignetheit und Notwendigkeit der entsprechenden Maßnahme“ (Rätz 2014,43) gegeben sein. Somit ist in diesen Fällen immer eine sozialpädagogische und fachkompetente Beurteilung notwendig. „Individuelle Rechtsansprüche können gegebenenfalls durch die Leistungsberechtigten eingeklagt werden“ (ebenda). Zu diesem Bereich der individuellen Hilfen und Unterstützung gehören auch Interventionen in Krisen- und Konfliktfällen durch das Jugendamt. Besonders in diesen Fällen setzt das Prinzip des SGB VIII auf die lebensweltbezogene Unterstützung der Betroffenen. Einseitige Entscheidungen durch das Jugendamt sind nicht möglich. Diese benötigen die Einbeziehung, Mitwirkung und Beteiligung der Kinder, Jugendlichen und Familien. In §1, §5, §8, §9, §11, §27 und §36 spiegelt sich die gesetzlich verankerte Beteiligung und Mitbestimmung im SGB VIII aller Beteiligten wieder.
In allen Phasen eines Hilfeprozesses werden Kinder, Jugendliche und ihre Personensorgeberechtigten als autonome Akteure anerkannt (vgl. Rätz 2014). „Rechtsansprüche auf Leistungen nach dem SGB VIII machen jedoch nicht die minderjährigen Kinder und Jugendlichen geltend, sondern ihre personensorgeberechtigten Eltern“ (Rätz 2015, 49). Mit dem SGB VIII/KJHG übernimmt der deutsche Staat eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Somit ist die Förderung der Entwicklung und die Erziehung nicht allein die Aufgabe der personensorgeberechtigten Eltern oder Erziehungsberechtigten. Die Familie ist zwar durch §1631 des Bürgerliches Gesetzbuches (BGB) vor staatlichen Eingriffen in die Erziehung geschützt, jedoch obliegt dem Staat das staatliche Wächteramt, sowohl nach dem BGB, als auch dem Grundgesetz (GG) (vgl. Rätz 2014).
Dieses staatliche Wächteramt fällt unter die Hoheitlichen Maßnahmen im SGB VIII. Diese finden ihre Grundlage im Art. 6 Abs. 2 des GG, in dem „ein Tätigwerden der Kinder- und Jugendhilfe auch ohne das Einverständnis der Leistungsberechtigten“ (Rätz 2014,44) begründet wird. Im GG werden keine sozialpädagogischen Aufgaben und Ziele formuliert, sondern das Kindeswohl erhält Verfassungsrang, indem das spezifische Bedürfnis nach Schutz eines Kindes oder Jugendlichen betont wird. Kinder sind von Geburt an Träger aller Grundrechte. Somit ist die Erziehungsverantwortung der Personensorgeberechtigten an die Interessen und das Wohl des Kindes gebunden, wobei das Kindeswohl ein unbestimmter Begriff ist, der im Einzelfall ausgelegt und bestimmt werden muss. Es bestehen in der Literatur verschiedene Meinungen, wie „das Wohl des Kindes“ in seiner genauen Bedeutung zu interpretieren ist, jedoch würde eine genaue Betrachtung dieser Diskussion den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Zu beachten sind die Sichtweisen und Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen in der individuellen Auslegung des Kindeswohls (vgl. Rätz 2014).
Wie bereits erwähnt, erhält das staatliche Wächteramt auch im BGB eine konkrete Grundlage: „Im Fall der körperlichen, geistigen oder seelischen Gefährdung des Wohls des Kindes hat das Familiengericht über die Abwendung von Gefahren erforderlichen Maßnahmen zu entscheiden (§1666 BGB)“ (Rätz 2014, 51). Außerdem wurde im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform das Recht auf gewaltfreie Erziehung im BGB gesetzlich verankert (§1631 Absatz 2 BGB). Dies sieht vor, dass körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig sind (vgl. Rätz 2014).
Die Erläuterung des gesetzlichen Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII ist an dieser Stelle bedeutend. 2005 sollte die Einführung des §8a SGB VIII einen besseren Schutz von jungen Menschen in Fällen von Kindeswohlgefährdung erreichen. Zwar ist der besondere Schutz von Kindern und Jugendlichen bereits im §1 SGB VIII verankert, jedoch sollte durch §8a SGB VIII für den Schutzauftrag eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden (vgl. Günder 2015).
Wann eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt ist im SGB VIII nicht definiert. Allerdings muss in diesem Sinne auf die basalen Kinderrechte Bezug genommen werden. Das Recht auf Förderung der Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, §1 Abs. 1 SGB VIII, ist hier als zentraler Maßstab zu betrachten. „Gefährdet ist das Kindeswohl, wenn eine unmittelbar bevorstehende Gefahr“ für die Entwicklung und Erziehung „besteht, bei deren Fortdauer sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die Besorgnis künftiger Gefährdungen genügt also nicht“ (Schmidt 2017,53).
Schmidt (vgl. 2017) führt verschiedene Fallgruppen auf, die unter dem Begriff Kindeswohlgefährdung subsumiert werden können: eine Nichtvornahme gebotener medizinischer Behandlung oder Diagnostik, Erziehungsfehler (wie jede Erziehungshaltung- und -praktiken, die die kindliche Entwicklung und Entstehung von Eigenverantwortung ersticken oder hindern, außerdem andauernde Elternkonflikte und Zustände, die sich auf die geistig-seelische Entwicklung auswirken), Vernachlässigung (wie mangelhafte Ernährung, aber auch hygienische und emotionale Vernachlässigung), keine hinreichende Erziehungseignung (meist Eltern mit psychischen Erkrankungen, ebenso wie Alkohol- oder Drogenabhängige), körperliche Misshandlungen, sexueller Missbrauch und die elterliche Sorge um Schule und Ausbildung. Im letzteren Fall liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, „wenn Eltern aus sachfremden Erwägungen eine ungeeignete Schulform wählen oder es zu erheblichen Fehlzeiten ohne triftigen Grund kommt“ (Schmidt 2017,55).
„Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. (…) Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten“ (§8a Abs.1 SGB VIII).
Gewichtige Anhaltspunkte, wie sie für eine Einschätzung des Gefährdungsrisikos gefordert werden, liegen nicht erst dann vor, wenn eine Kindeswohlgefährdung bereits festgestellt werden kann. Das staatliche Wächteramt greift sobald handfeste Gründe vorliegen, „die eine Gefährdung als nicht fernliegend erscheinen lassen“ (Schmidt 2017, 55). Es handelt sich somit um konkrete Hinweise oder ernst zu nehmende Vermutungen. Die Gefährdungsabschätzung durch die zuständigen Fachkräfte stellt einen enorm wichtigen Prozess innerhalb der Aufgaben der Jugendhilfe dar, jedoch würde die weitere detaillierte Betrachtung dieses Prozesses über den Rahmen dieser Arbeit hinaus gehen.
Der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe weist in sich strukturelle Grenzen auf, da die Art der Hilfe für das Kind immer von den Eltern mitbestimmt wird, dies ist ihr ständiges Grundrecht. „Erst wenn die Eltern die Gefährdung nicht abwenden (lassen) wollen, darf der Staat auch gegen den Willen der Eltern intervenieren – durch unabhängige Richter_innen im Familiengericht“ (Emanuel 2017,199). Durch das Familiengericht können bestimmte Hilfen zur Erziehung auch gegen den Willen der Eltern durchgeführt oder gar das Kind aus der Herkunftsfamilie genommen werden. In besonders schweren Fällen kann auch die Entziehung der Personensorge entschieden werden (vgl. Emanuel 2017).
Hoheitliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes oder des Jugendlichen im SGB VIII, wie die Inobhutnahme (§42 SGB VIII), können sowohl zu den intervenierenden als auch zu den präventiven Maßnahmen im SGB VIII gehören. Festzuhalten ist, dass das Jugendamt durch §42 SGB VIII dazu verpflichtet ist, das Kind oder den Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn es um Obhut bittet. Hier wird deutlich, dass Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Schutz stellen können, ohne das Einverständnis ihrer Personensorgeberechtigten und ohne die Entscheidung eines Familiengerichts. §42 SGB VIII regelt faktisch die vorläufige Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen, die rechtlichen Konsequenzen bei Widerspruch durch die Personensorgeberechtigten, sowie die Inobhutnahme durch das Jugendamt als Eingriff bei bestehender Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen nach richterlichem Beschluss (vgl. Kirchhart 2008). Die weitere Form der Unterbringung, zum Beispiel in einer Einrichtung nach §34 SGB VIII, sowie die Dauer wird im weiteren Prozess im Kontext der Hilfeplanung nach §36 SGB VIII mit allen Beteiligten dialogisch verhandelt (vgl. Jordan 2015).
Nun soll eine genaue Betrachtung der stationären Hilfen zur Erziehung nach § 34 SGB VIII folgen, um anschließend zu klären aus welchen Lebensumständen Kinder und Jugendliche in die stationäre Jugendhilfe kommen und welche Bedarfe sich daraus für sie ergeben.
2.2 § 34 SGB VIII Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen
Im §34 SGB VIII werden die Hilfen zur Erziehung außerhalb der Herkunftsfamilie in einer Einrichtung über Tag und Nacht geregelt (vgl. Günder 2015) in Verbindung mit §27 SGB VIII (vgl. Bigos 2014).
„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen, die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“ (§34 SGB VIII), sofern sich dies „innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen vertretbaren Zeitraums“ (§37 SGB VIII) realisieren lässt (vgl. Bigos 2014).
Die Erwähnung „sonstiger betreuter Wohnformen“ soll verdeutlichen, dass Heimerziehung heute in einer Vielzahl sehr differenzierter Institutionen stattfindet. Der Begriff „Heimerziehung“ lässt sich nicht mehr mit dem Bild eines klassischen Kinderheims vergleichen. Er dient eher als Sammelbegriff für unterschiedliche konzeptionelle Ausrichtungen. Diese lassen sich zum Teil gar nicht trennscharf voneinander abgrenzen (vgl. Jordan 2015). Jordan (vgl. 2015) führt in seinen Ausführungen sechs verschiedene in Deutschland übliche stationäre Wohnkonzepte nach §34 SGB VIII auf:
Wohneinheiten in Zentralheimen: Dies sind Wohngruppen mit fünf bis acht Kindern in getrennten Wohnungen/Wohneinheiten innerhalb eines großen zentralen Hauses oder Geländes, betreut von vier bis fünf pädagogischen Fachkräften im Schichtdienst.
Dezentrale Wohngruppen: Dort leben fünf bis acht Kinder in kleinen Wohneinheiten in einzelnen Mietwohnungen oder Einfamilienhäusern in normalen Wohnumfeldern, von pädagogischen Fachkräften im Schichtdienst betreut. Sie können sowohl Teil eines großen Trägers sein, als auch eigenständige Kleinheime.
Wohngruppen mit sozialpädagogischen, heilpädagogischen oder therapeutischen Konzepten: Dort leben Kinder und Jugendliche in Einrichtungen mit spezialisierten Konzepten zu besonderen Fördermaßnahmen und therapeutischen Angeboten. Diese werden in den Heimalltag integriert und erfordern von den pädagogischen Fachkräften konzept- und bedarfsspezifische Kompetenzen.
Wohngruppen mit einem spezifischen Zielgruppenbezug: Dort werden nur die bestimmten Fälle aufgenommen, die den im Konzept festgelegten Förderbedarf aufweisen. Beispiele dafür sind junge Frauen mit Misshandlungserfahrungen oder junge straffällige Männer.
Familienähnliche Wohnformen: „Hier wohnen Kinder oder Jugendliche mit ihren Betreuer/inne/n eng und z.T. in privaten Räumlichkeiten zusammen. Exemplarisch für diese Unterbringungsform sind sozialpädagogische Lebensgemeinschaften, Erziehungsstellen oder Kinderdörfer, in denen bis zu vier Kinder mit ihren Betreuer/inne/n „rund um die Uhr“ zusammenleben“ (Jordan 2015, 271). Die Kinder und Jugendlichen werden zusätzlich von ergänzenden pädagogischen Fachkräften betreut, diese sind familienähnlich in den Alltag integriert.
Verselbständigungsgruppen: Diese folgen meist im Anschluss an eine „reguläre“ Heimerziehungsunterbringung, in denen die Jugendlichen WG-ähnlich zusammenleben und je nach Bedarf stundenweise sozialpädagogisch betreut werden.
Jordans Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da „die Praxis der Wohnprojekte fortwährend originelle Wohnformen entwickelt. Diese entstehen häufig hoch individuell und flexibel aus dem Bedarf einzelner Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien“ (ebenda). Deutlich wird hier, dass die Grenzen zwischen den Hilfen zur Erziehung nach §34 SGB VIII fast fließend ineinander übergehen, zumindest in familienähnlichen Wohnformen (vgl. Jordan 2015).
An dieser Stelle sind auch betreute Wohnformen für junge Erwachsene über dem 18. Lebensjahr erwähnenswert, bei denen eine Heimerziehung fortgeführt werden soll. Nach §41 SGB VIII soll jungen Volljährigen Hilfe für ihre Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden. Für die Einschätzung der Notwendigkeit einer fortzuführenden Unterbringung in einer Einrichtung nach §34 SGB VIII spielt die individuelle Situation des Volljährigen eine entscheidende Rolle (vgl. Günder 2015).
2.3 Aus welchen Lebenssituationen kommen Kinder und Jugendliche in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe?
Grundsätzlich gilt, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen der Heimerziehung versorgt werden, wenn ihre Eltern aus unterschiedlichen Gründen ihre im Grundgesetz Artikel 6 verankerten Erziehungsrechte und -pflichten kurzfristig oder langfristig nicht mehr wahrnehmen können (vgl. Rätz 2014). Rätz nennt in ihren Überlegungen Indikatoren für eine stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen: „Vorübergehende oder dauerhafte Abwesenheit der Eltern (längerfristige Unterbringung eines Elternteils im Krankenhaus oder einer psychiatrischen Klinik, Antritt einer Haftstrafe, Verschwinden, Tod, Flucht der Kinder aus ihrem Herkunftsland), Ablehnung oder Scheitern der Elternschaft bzw. Überforderung mit der Erziehungsverantwortung (alle Formen des Kindesmissbrauchs: sexueller Missbrauch, Vergewaltigung/sexuelle Nötigung, Kinderpornografie, körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung, Vernachlässigung, Scheitern von Pflege- oder Adoptionsverhältnissen), Massive Entwicklungsprobleme oder -gefährdungen (Beziehungs- und Ablösungskonflikte, Schulverweigerung, Ausreißen), Seelische Behinderungen (Psychosen, Neurosen, Sucht und Suchtgefährdung, massive Affekt- oder Persönlichkeitsstörungen etc.)“ (Rätz 2014, 172).
Die genannten Indikatoren verdeutlichen, dass die individuellen Anlässe für die Inanspruchnahme einer stationären Heimerziehung einer intensiven Klärung und späteren sozialpädagogischen Aufarbeitung mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen bedürfen. In Fällen, in denen eine seelische Behinderung eines Kindes oder Jugendlichen vorliegt (§35a SGB VIII) müssen alle Entscheidungen zusätzlich im Zusammenwirken mit Ärzten und Therapeuten getroffen werden (vgl. Rätz 2014).
In den seltensten Fällen können einzelne und eindeutige Indikatoren für eine stationäre Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie genannt werden. „Zumeist handelt es sich um vielschichtige Problemsituationen in Familien, die den Anlass von Hilfen darstellen. Deshalb bedarf es immer eines spezifischen Blicks auf den Einzelfall und seine Besonderheiten“ (Jordan 2015, 262). Heimeinweisungen erfolgen in der Regel nicht direkt beim Erstkontakt der Familien mit dem Jugendamt. Meist sind betroffene Familien „langjährig amtsbekannt“ (Günder 2015, 40).
Im Jahr 2016 (Stand 31.12.2016) befanden sich 95 582 Kinder und Jugendliche in den stationären Hilfen zur Erziehung nach §34 SGB VIII in der Bundesrepublik Deutschland. Davon waren die Jungen mit fast 68% überrepräsentiert. Knapp mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen kam aus Familiensituationen, in denen die Eltern geschieden/getrennt lebten (53%). 35% der Elternteile war alleinlebend und knapp 18% lebte zusammen mit einem neuen Partner. In fast 2% waren die Eltern verstorben. Bemerkenswert ist, dass in knapp 29% die Familiensituation als unbekannt angegeben wurde. 43% der jungen Menschen lebten vor Inanspruchnahme in ihrer Herkunftsfamilie und ca. 25% lebten vorher in einer stationären Wohnform nach §34 SGB VIII. In 55% der Fälle wurde die Heimerziehung durch soziale Dienste oder andere Institutionen, in 21% von den Eltern oder Personensorgeberechtigten und in 16% der Fälle von den jungen Menschen selbst angeregt. 27% der Herkunftsfamilien wurde die elterliche Sorge teilweise oder vollständig entzogen (vgl. Statistisches Bundesamt 2018).
In diesem Zusammenhang ist es von großem Interesse die Gründe für eine Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie zu betrachten. Wie bereits erwähnt, können diese Gründe vielschichtig sein. So wurden in den Einzelfällen mehrere der folgenden Gründe angegeben und haben somit zu einer stationären Unterbringung geführt. 37,5% wurden aufgrund von Unversorgtheit des jungen Menschen (z. B. Ausfall der Bezugspersonen wegen Krankheit, stationärer Unterbringung, Inhaftierung, Tod; unbegleitet eingereiste Minderjährige), 31% wegen eingeschränkter Erziehungskompetenz der Eltern/ Personensorgeberechtigten (z. B. Erziehungsunsicherheit, pädagogische Überforderung, unangemessene Verwöhnung), 22% aufgrund von unzureichender Förderung/ Betreuung/Versorgung des jungen Menschen in der Familie (z. B. soziale, gesundheitliche, wirtschaftliche Probleme), 21% wegen Gefährdung des Kindeswohls (z. B. Vernachlässigung, körperliche, psychische, sexuelle Gewalt in der Familie) und 16% aufgrund von Entwicklungsauffälligkeiten/seelische Problemen des jungen Menschen (z. B. Entwicklungsrückstand, Ängste, Zwänge, selbst verletzendes Verhalten, suizidale Tendenzen) in einer der stationären Hilfen zur Erziehung untergebracht. 15,5% zeigten Auffälligkeiten im sozialen Verhalten/dissoziales Verhalten (z. B. Gehemmtheit, Isolation, Geschwisterrivalität, Weglaufen, Aggressivität, Drogen- /Alkoholkonsum, Delinquenz/Straftat), 15,5% litten unter Belastungen durch Problemlagen der Eltern (z. B. psychische Erkrankung, Suchtverhalten, geistige oder seelische Behinderung), 13% litten an Belastungen durch familiäre Konflikte (z. B. Partnerkonflikte, Trennung und Scheidung, Umgangs/Sorgerechtsstreitigkeiten, Eltern-/Stiefeltern-Kind-Konflikte, migrationsbedingte Konfliktlagen) und 10% wiesen Schulische/berufliche Probleme (z. B. Schwierigkeiten mit Leistungsanforderungen, Konzentrationsprobleme (ADS, Hyperaktivität), schulvermeidendes Verhalten (Schwänzen), Hochbegabung) auf (ebenda).
Kirchhart fand bereits 2008 (vgl.) in ihren Forschungen heraus, dass es sich bei betroffenen Familien oft um kinderreiche Familien mit mangelnder materieller Ausstattung handelt. Außerdem treten in diesen Familien oft beengte Wohnverhältnisse und fehlender Rückzugsraum als erschwerende Bedingungen auf.
Betrachtet man die psychosozialen Belastungsfaktoren betroffener Kinder, so werden massive Gewalterfahrungen innerhalb der Familie, Suchtproblematiken und Belastungen, wie psychische oder physische Erkrankungen, deutlich. Auch das Beziehungsinteresse der Eltern am Kind wird häufig als ambivalent eingeschätzt, in einigen Fällen wird das Kind sogar ausdrücklich abgelehnt. Stationäre Wohnformen werden immer wieder aufgrund von starken Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung eingeleitet.
Zudem wird deutlich, dass der biografische Verlauf der Herkunftsfamilie bzw. der Eltern bereits häufig durch Diskontinuität und Mangelerfahrungen geprägt ist. So bildet für die Hilfebegründung einer stationären Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mehrheitlich die gesamte Familie das Zentrum und weniger die Auffälligkeit des Kindes (vgl. Kirchhart 2008).
2.4 Welchen Bedarf haben Kinder und Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe?
Um an dieser Stelle mit der Frage dieses Kapitels fortfahren zu können, muss zuerst eine Klärung der Begriffe Bedarf und Bedürfnis erfolgen.
Als Bedarf wird all das bezeichnet, was ein Mensch zu einem gegebenen Zeitpunkt zu seinem körperlichen Wohlergehen braucht. Gemeint sind die Mittel zur gesunden Aufrechterhaltung des körperlichen organischen Systems, z.B. ein bestimmter Blutzuckerspiegel oder eine bestimmte Körpertemperatur. Aus dem körperlichen Bedarf entstehen zielgerichtete Bedürfnisse, die als Verlangen oder sogar als ein intensiver Drang empfunden werden, z.B. Hunger, Durst, Verlangen nach Sauerstoff oder eines optimalen Wärmezustandes sowie Schlaf (primäre Bedürfnisse) (vgl. Harnach 2011). Viele menschliche Bedürfnisse entstehen wiederum ohne einen direkt zuzuordnenden organischen Bedarf, als Folge von Lernvorgängen und zwischenmenschlichen Entwicklungen, z.B. das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung (sekundäre Bedürfnisse) (ebenda). Diese sind zwar nicht auf einen bestimmten organischen Bedarf zurückzuführen, jedoch hat die Vernachlässigung von sekundären Bedürfnissen, besonders bei Heranwachsenden, direkte Auswirkungen auf das körperliche Wohlergehen (vgl. Brazelton/Greenspan 2002). Sie sind als „elementare Bedürfnisse“ zu verstehen, „ohne die Kinder nicht wachsen, lernen und gedeihen können“ (Brazelton/Greenspan 2002, 9).
Aus dem vorherigen Kapitel ist bereits bekannt, dass Kinder und Jugendliche meist aus emotional ambivalenten und sowohl seelisch als auch körperlich vernachlässigenden oder missbräuchlichen familialen Beziehungsdynamiken in der stationären Erziehungshilfe aufgenommen werden. Dort fällt es ihnen oft schwer ihre Impulse zu kontrollieren und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln. Außerdem weisen sie sprachliche, kognitive, emotionale und soziale Defizite auf, die auf Vernachlässigung, Misshandlung oder sogar pränatale Schädigung zurückzuführen sind. Zudem neigen besonders jüngere Kinder „zu Aggression und impulsivem Beißen und Schlagen und sind unfähig, mit Gleichaltrigen zu spielen, Mitleid zu empfinden und Anteil zu nehmen“ (Brazelton/Greenspan 2002, 14).
Angesichts der Tatsache, dass diese Verhaltensweisen nur der Ausdruck des individuellen Leids der betroffenen Kinder sind, ist die Frage nach dem individuellen Bedarf von Kindern und Jugendlichen nicht unter dem Aspekt des Erziehungsziels zu betrachten. Stattdessen muss eine, so individuell wie mögliche Klärung der Grundbedürfnisse eines jeden Kindes, also Formen der Fürsorge und Betreuung, auf die jedes Kind ein Recht hat, vorgenommen werden (vgl. Brazelton/Greenspan 2002). „Damit eine Hilfe an den tatsächlichen und notwendigen Bedarfen im Einzelfall ausgerichtet werden kann, ist eine sorgfältige Klärung der familiären Situation und der kindlichen Bedürfnisse unabdingbar. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Bedarfe junger Kinder (…) im Rahmen der Perspektivklärung häufig entlang medizinischer und psychologischer Diagnosen begründet werden. (…)Wenn im Weiteren eine ganzheitliche sozialpädagogische Einschätzung einzelner Sichtweisen, Diagnosen und Entwicklungen ausbleibt, wird damit eine störungsfokussierte Perspektive erzeugt, die zum einen verhindert, die individuellen Menschen in ihren Beziehungs- und Lebensverhältnissen zu betrachten und die zum anderen ungeeignet ist, um Schlussfolgerungen für die pädagogische Interventionspraxis zu ziehen“ (Landesjugendamt Westfalen-Lippe 2016, 29).
Um also klären zu können, welchen Bedarf Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe haben, ist sowohl eine Betrachtung ihrer individuellen Lebenssituation als auch die Berücksichtigung allgemeiner kindlicher Grundbedürfnisse von Bedeutung. Nur so können nützliche Konsequenzen und ein bedarfsgerechter Bezugsrahmen für die pädagogische Arbeit, erstellt werden.
Brazelton und Greenspan (vgl. 2002) formulierten als Ergebnis ihrer Forschungen und jahrelangen Arbeitserfahrungen sieben kindliche elementare Grundbedürfnisse, welche die Bausteine der Entwicklung von emotionalen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten bilden, und welche außerdem bei Vernachlässigung zu sozialen, emotionalen und intellektuellen Störungen führen.
Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen: Brazelton und Greenspan betonen, dass es nicht reicht, Kinder in ihren organischen Bedürfnissen lediglich nicht zu vernachlässigen, sondern, dass sie, um Vertrauen, Empathie und Mitgefühl entwickeln zu können, auf fürsorgliche Betreuung angewiesen sind. So beeinträchtigen Familienmuster, die wenig fürsorgliche Betreuungsmuster aufweisen, die Entwicklung dieser emotionalen Fähigkeiten. Beständige, warmherzige, liebevolle und emotionale Interaktionen hingegen fördern eine gesunde Entwicklung des zentralen Nervensystems, und somit die Stressverarbeitung bei Konflikten und Krisen. Emotionaler Stress, der durch Vernachlässigung der emotionalen Bedürfnisse entsteht, verändert die Hirnphysiologie und beeinflusst so negativ die Kommunikations- und Denkfähigkeit. So fördern Beziehungen auf „elementarster Ebene Warmherzigkeit, Intimität und Wohlbehagen; sie vermitteln physische und psychische Sicherheit und schützen vor Krankheiten und Verletzung; und sie erfüllen die Grundbedürfnisse nach Fürsorge und Schutz“ (Brazelton/Greenspan 2002, 32). So lernen sie zu vertrauen, eigene Gefühle zuzulassen, diese zu kommunizieren und zu regulieren, Empathie und eigenständig Beziehungen zu anderen aufzunehmen und aufrechtzuerhalten. In Beziehungen lernen Kinder welche Verhaltensweisen angemessen sind und welche nicht. So erfahren sie, dass Selbstbeobachtung notwendig ist, um eigene Gefühle zu kommunizieren und nicht ungeachtet auf andere auszuagieren.
Somit besteht die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte in stationären Einrichtungen darin, zuverlässige, fürsorgliche und liebevolle Bedingungen zu schaffen, um zu verhindern, dass Kinder in unpersönlichen Strukturen weiterhin zu Schaden kommen.
Als eine Ergänzung kann an dieser Stelle erwähnt werden, dass auch der Psychologe Abraham Maslow das Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnis in seiner Pyramide der menschlichen Grundbedürfniss aufzählt, denn „Kinder brauchen verlässliche, konstante Bezugspersonen, einfühlendes Verständnis, Zuwendung und mit zunehmendem Alter eine Unterstützung bei der Initiierung und Aufrechterhaltung von sozialen und emotionalen Bindungen sowie eine Förderung in der Entwicklung sozialer Fertigkeiten und emotionaler Kompetenzen“ (vgl. ISA 2016).
Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation ist, sowohl nach Maslow (vgl. ISA 2016) als auch laut Brazelton und Greenspan, ebenso elementar, wie das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen. Das Gefühl einer gegebene Grundsicherheit und in seiner Lebenswelt erwünscht zu sein, ist für das emotionale und soziale Wohlbefinden eines jungen Menschen von großer Bedeutung. Vernachlässigung, Misshandlung, pränatale Schädigungen aber auch Hungersnöte oder Kriegserfahrungen, lösen hingegen Schädigungen des zentralen Nervensystems aus. Chaotische Umweltverhältnisse, wie z.B. ständig wechselnde Lebenspartner der Eltern, ambivalente und für Kinder nicht berechenbare Beziehungs- und Verhaltensdynamiken in ihren Familien, unregelmäßige An- und Abwesenheit von Bezugspersonen, aber auch unsichere, risikoreiche und ängstigende Lebensverhältnisse, führen zu Gefühlen von Ohnmacht, stetiger Unsicherheit und Einsamkeit. Die dadurch entstandene Schädigung des zentralen Nervensystems äußert sich in Überreiztheit, Unruhe, irrationalen Angstzuständen und anderen individuellen Problemlagen.
Pädagogische Fachkräfte müssen also stetig danach streben eine weitere Schädigung und Überreizung zu verhindern, indem sie die individuellen Problemlagen und Familienverhältnisse der Kinder und Jugendlichen kennen, und dementsprechend Sicherheit, Beständigkeit, Transparenz, übersichtliche für die Kinder berechenbare Strukturen und eine klare Haltung gegen körperliche Übergriffe vermitteln (vgl. Brazelton/Greenspan 2002).
Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
„Kinder unterscheiden sich in der Art und Weise, ihre Welt zu begreifen“ (Brazelton/Greenspan 2002,151). Es ist bekannt, dass ein Zusammenspiel von genetischen Anlagen und den individuellen Lebenserfahrungen „auch in der spezifischen Art und Weise Ausdruck finden, wie das Kind Reize aufnimmt, wie es sie verarbeitet und wie es seine Aktionen organisiert und plant“ (Brazelton/Greenspan 2002, 150). Viele Persönlichkeitsmerkmale ergeben sich also auch erst im „komplexen Zusammenwirken zahlreicher Faktoren“ (ebenda). Brazelton und Greenspan betonen in ihren Ausführungen, je besser und intensiver es den Bezugspersonen eines Kindes gelingt, diesen Erfahrungen zu vermitteln, die ihren spezifischen Eigenschaften entgegenkommen und entsprechen, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu körperlich, intellektuell und emotional gesunden Menschen heranwachsen. Die kindliche Entwicklung vollzieht sich innerhalb eines sozialen Interaktionsrahmens, in dem Heranwachsende Verhaltensweisen lernen, korrigieren und beobachten. Dabei sind sie auf ständige Feedbacks ihrer Umgebung angewiesen. Kinder sind darauf angewiesen alters- und entwicklungsgerechte Rückmeldungen zu bekommen, um diese verstehen und verarbeiten zu können (vgl. Brazelton/Greenspan 2002). Hier ist Maslows Grundbedürfnis nach Selbstverwirklichung eine passende Ergänzung. Demnach brauchen Kinder Zugang zu verschiedensten Erfahrungsräumen, die ihnen helfen ihre Fähigkeiten und Talente zu entfalten, um ihr natürliches Autonomiebestreben zu unterstützen, die individuelle Problemlösefähigkeit zu fördern und eigene Lebensziele entwickeln und verfolgen zu können. So erfahren sie, dass sie ihr Leben selbstwirksam gestalten können (vgl. ISA 2016).
Kinder, die kontinuierlicher emotionaler und körperlicher Vernachlässigung ausgesetzt sind, weisen meist depressive und apathische Wesenszüge auf. Einige entwickeln sich körperlich nicht weiter. Andere setzen sich extremen Stimulationen aus, sind aggressiv, promiskuitiv oder gleichgültig anderen Menschen gegenüber. Zusätzlich weisen vernachlässigte Kinder, denen individuelle Erfahrungen vorenthalten wurden, Probleme mit der Wahrnehmung von Eindrücken, mit der Informationsverarbeitung und der motorischen Funktionsfähigkeit auf (vgl. Brazelton/Greenspan 2002).
In stationären Einrichtungen müssen also dynamische und emotionale Betreuungsmuster angestrebt werden, die eine intensive Zuwendung ermöglichen, empathische Phantasiespiele fördern, freundlich und bestimmt berechenbar Grenzen setzen, individuelle Stärken zulassen, Förderungsmöglichkeiten bieten und eine respektvolle Haltung gegenüber individuellen persönlichen Grundvoraussetzungen übermitteln. So können Kinder und Jugendliche lernen komplexe Problemlagen zu überschauen und kreative Lösungen zu erarbeiten (ebenda).
Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
Individuelle Erfahrungen können nur zu einer positiven sozialen und emotionalen Entwicklung betroffener Kinder und Jugendlicher beitragen, wenn diese auch ihrem Entwicklungsstand entsprechend eingeleitet und betreut werden. Ihre kognitiven, motorischen, sprachlichen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten wirken immer zusammen und helfen dem Kind so sich in seiner Lebenswelt zurechtzufinden. Sie beginnen im Laufe ihres frühen Lebens so ein Gefühl für sich als Person, die im emotionalen Zusammenhang mit Bezugspersonen steht, zu entwickeln. Auf Grundlage dieses emotionalen Erlebens lernen sie Probleme gemeinsam mit anderen Menschen innerhalb eines sicheren Rahmens zu lösen. Besonders Kinder, die emotionale Vernachlässigung erfahren haben, und somit nicht entwicklungsentsprechende Erfahrungen in emotionalen und sozialen Interaktionen machen konnten, sind meist nicht in der Lage ihre eigenen Absichten und Gefühle zu identifizieren und zu bewältigen. Sie neigen verstärkt dazu, unbedacht emotional zu agieren und sich in schwierigen Situationen aggressiv zu verhalten.
Im heimerzieherischen Alltag ist es sehr wichtig Situationen und das Zusammenleben so zu gestalten, dass sich jedes Kind entsprechend seines kognitiven, motorischen, sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklungsstandes innerhalb der Gruppendynamik einbringen kann oder immer wieder dazu ermutigt wird. So können Kinder und Jugendliche dabei unterstützt werden ein konstantes Gefühl für die eigene Persönlichkeit, die eigenen Werte und Bedürfnisse zu entwickeln (vgl. Brazelton/Greenspan 2002).
Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen
Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen ist für Brazelton und Greenspan in das Bedürfnis nach liebevollen Beziehungen und Zuwendung gebettet, welches Kindern und Jugendlichen Vertrauen, Wärme, Intimität, Empathie und das Gefühl der Verbundenheit mit den engsten Bezugspersonen vermittelt. Der Lernprozess, in dem Heranwachsende Grenzen und Strukturen erlernen, basiert darauf, dass sie die Zustimmung ihrer Bezugspersonen suchen, von ihnen anerkannt und respektiert werden wollen und deren Missbilligung fürchten. Wenn Kinder in gewalttätigen, ambivalenten und wenig wertschätzenden Familienmustern heranwachsen, kann die Einhaltung von Grenzen und Strukturen entweder aufgrund von Angst und Vermeidung von Konflikten geschehen oder es ist zu beobachten, dass junge Menschen, die nie die positiven Gefühle von Anerkennung und Zustimmung erleben konnten, angesichts von Missbilligung auch kein Verlustgefühl verspüren, dass sie motivieren könnte ihr Verhalten zu ändern (vgl. Brazelton/Greenspan 2002).
„Normen werden auf verschiedenen Ebenen internalisiert. Eingebettet sind sie in das Gefühl, von anderen behütet und umsorgt zu werden. Die Haltung, mit der die Betreuungspersonen dem Kind begegnen, ermöglicht es ihm, eigene innere Ziele und schließlich Wertvorstellungen zu entwickeln, an denen es sein Verhalten orientiert“ (Brazelton und Greenspan 2002, 250).
Es ist also bedeutsam Kindern und Jugendlichen in ihrem Alltag klare Wertvorstellungen, Grenzen, Regeln und Strukturen vorzuleben und als einen selbstverständlichen respektvollen Teil von allen Mitgliedern der Gruppe zu erwarten. „Sobald Kinder und Jugendliche ein solches inneres Wertsystem konsolidiert haben, finden sie in sich selbst Stärke und Sicherheit (…) Die liebevolle, umsichtige Fürsorge schafft daher eine Grundlage einer sich verankerten moralischen Haltung und der Fähigkeit sich an Regeln zu halten“ (Brazelton und Greenspan, 252), sich an diesen orientieren zu wollen und zu lernen seine Impulse selbst zu kontrollieren. Es muss betont werden, dass pädagogische Fachkräfte die Grenz- und Regelsetzung immer am Entwicklungsstand der Kinder orientieren müssen, um Unsicherheit, Überforderung und Verwirrung zu vermeiden.
Weiter nennen Brazelton und Greenspan das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und nach kultureller Kontinuität und das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft. An dieser Stelle dieser Arbeit wäre aber eine detaillierte Erläuterung dieser beiden Bedürfnisse nicht zielführend für die Beantwortung der Fragestellung. Außerdem weisen die beiden zuletzt genannten kindlichen Bedürfnisse keinen direkten Zusammenhang mit einem erzieherischen Alltag in der stationären Jugendhilfe auf. So würde die weitere Besprechung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten.
3 Die Gestaltung einer bedarfsgerechten Pädagogik und Heimerziehung in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII
Bei vielen Eltern, Kindern und Jugendlichen löst der Gedanke an eine Unterbringung außerhalb der Familie Ängste und Verunsicherung aus. Das Image und die Erwartungen an ein Leben im Heim werden häufig mit negativen Assoziationen, Vorurteilen und Halbwahrheiten verbunden. Außerdem bedeutet „eine Herausnahme von Kindern und Jugendlichen durch die Jugendhilfe zugleich eine Trennung von dem gewohnten Lebenskontext. Dies führt für das gesamte Familiensystem zu entscheidenden Veränderungen in der gewohnten Alltagsorientierung und damit häufig zu einer Eskalation bereits bestehender Konflikte“ (Bigos 2014,10).
Das Praxisfeld der Heimerziehung wurde jedoch seit den 1970er Jahren zunehmend durch Veränderungs- und Spezialisierungsprozesse geprägt (vgl. Günder 2015). Besonders wurden in den vorherrschenden Lebensbedingungen die anonymen und beziehungsarmen Milieus in großen Einrichtungen, identitätsstörende und stigmatisierende Wirkungen institutioneller Erziehung, die fehlende Erziehungsplanung und die unüberschaubaren und wenig verlässlichen Beziehungssysteme in Heimen kritisiert (vgl. Jordan 2015). Rückblickend auf die Entwicklungen im Bereich der Heimerziehung bis heute zeigt sich, dass viele Kritikpunkte und Forderungen inzwischen auf breiter Basis fachliche Anerkennung gefunden haben. Besonders im Bereich der Ausdifferenzierung und Dezentralisierung der stationären und teilstationären Einrichtungen, die nun familienorientiert, milieunah und sozialpädagogisch auf- und ausgebaut werden, sind große Erfolge und Verbesserungen zu erkennen (ebenda). Die stationäre Jugendhilfe wurde „sukzessive in kleine familienähnliche Wohneinheiten überführt, um individuelle Settings zu gewährleisten“ (Rätz 2014,167). Eine individuelle Betrachtung der angemessenen Unterbringung ist von großer Bedeutung, da den Kindern und Jugendlichen ohnehin eine erhebliche Anpassungsleistung an die neuen Umstände abverlangt wird (vgl. Bigos 2014).
Heute muss sich eine fachkompetente Heimerziehung vielfältigen Qualitätskriterien stellen, um für betroffene und belastete Kinder und Jugendliche eine sichere, ihrem Bedarf entsprechende Lebensform zur Verbesserung ihrer sozialen Chancen darzustellen (vgl. Günder 2015).
Dies ist ohne Zweifel von der Qualität der Heimerziehung abhängig, welche wiederum von der Qualifikation der tätigen Fachkräfte aus verschiedenen Professionen und deren Zusammenwirken abhängig ist (vgl. Bigos 2014). Außerdem steht der Erfolg der Reintegration der jungen Menschen in ihre Herkunftsfamilie in starkem Zusammenhang mit dem Ausmaß der kindlichen Verhaltensstörungen und „dem Grad der Dysfunktionalität in der Familie sowie im sozialen Umfeld“ (Bigos 2014, 25). Die Sicherstellung eines nachhaltigen und positiven Erziehungsklimas in der Herkunftsfamilie setzt eine intensive Einbeziehung der Eltern in die Erziehungsarbeit voraus. Zudem ist die sozialpädagogische und beraterische Betreuung der Eltern als unabdingbar zu betrachten, um eine erfolgreiche Rückführung der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten (vgl. Rätz 2014).
Im Fall einer nicht realisierbaren Reintegration besteht die Aufgabe der Heimerziehung darin positive, sichere und beständige Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden. Dies beinhaltet eine zumindest ortsnahe Unterbringung sowie die Unterstützung von Kontakten zum früheren sozialen Umfeld. „Das Heim soll als positiver Lebensort frühere oftmals negative oder traumatische Lebenserfahrungen verarbeiten helfen, für günstige Entwicklungsbedingungen sorgen, Ressourcen erkennen und auf ihnen aufbauen, den einzelnen jungen Menschen als Person annehmen und wertschätzen, eine Beheimatung fördern und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven unterstützen“ (Günder 2015,15). Dabei ist eine Vermittlung in einen familienähnlichen Rahmen immer als die bevorzugte Alternative anzusehen (vgl. Bigos 2014).
Durch den ständigen und fließenden Wechsel von Einzelfall- und Gruppenarbeit im pädagogischen Alltag der stationären Erziehungshilfen erfordern die pädagogischen Fachkräfte ein vielfältiges methodisches Repertoire, da ein positiver Hilfeverlauf unter anderem stark von fachlich qualifizierten Hilfen bzw. von der Anwendung spezifischer, auf den Förderbedarf des Kindes abgestimmter Methoden abhängig ist (vgl. Günder 2015). Dabei besteht die Aufgabe der Pädagog/innen darin sich als „Individuum mit professioneller Ausrichtung um die Kinder bzw. Jugendlichen zu kümmern, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Orientierung, Sicherheit und Halt zu geben sowie Unterstützung zu leisten“ (Bigos 2014, 30). Diese Aufgabe kann nur effektiv und sinnvoll erbracht werden, wenn eine stetige Überprüfung der konzeptionellen Vorgaben und Strukturen erfolgt. Konzeptionen mit fachlich hohem Niveau, Leistungsbeschreibungen, Wirkungssteuerung, Qualitätsmanagement und Dokumentation der Leistungen sind die Grundlage und Voraussetzung, um eine erfolgreiche und bedarfsgerechte Erziehung und Methodik bewerkstelligen zu können (vgl. Bigos 2014).
In diesem Abschnitt der Arbeit soll das Augenmerk auf der Gestaltung einer bedarfsgerechten Pädagogik und Heimerziehung in der Kinder- und Jugendhilfe nach § 34 SGB VIII liegen, indem bedeutende Haltungen, Werte und Methoden erläutert und vertieft werden. Zu beachten ist jedoch, dass innerhalb der Formenvielfalt der Erziehungsarrangements im Praxisfeld der Heimerziehung „das Fehlen einer allumfassenden Theorie der Heimerziehung zu konstatieren“ ist (Bigos 2014,13). Die Heimerziehung bedient sich wissenschaftstheoretisch aus dem Gebiet der Sozialpädagogik/ Sozialarbeit, also diverser Humanwissenschaften. „Demzufolge handelt es sich bei der Erziehung im Heim um ein Feld, welches von vielen Einzelentwürfen und Theorieansätzen geprägt ist, die auf recht verschiedenen Niveaus angesiedelt sind und daher keine klare Linie erkennen lassen“ (ebenda). Dies hat die Auswahl der Inhalte dieses Kapitels bedeutend beeinflusst.
3.1 Wirkfaktoren „erfolgreicher Heimerziehung“
Gabriel (vgl. 2003) kam zu dem Ergebnis, dass Heimerziehung die Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Problemlagen positiv beeinflusst und zusätzlich zur Verbesserung der sozialen Teilnahmechancen der betroffenen jungen Menschen beiträgt.
Um die Koordination und Überprüfung praktischer Konzepte und Wirkungsrahmen in erzieherischen Hilfen systematisch überprüfen und ermöglichen zu können, wurde in einem Modellprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) die Qualifizierung und die wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs- und Qualitätsentwicklung der Hilfen zur Erziehung analysiert. Es wurde systematisch und projektübergreifend ein Zusammenhang zwischen Forschung und Praxis hergestellt (vgl. Gabriel 2007).
In den Ergebnissen kristallisierten sich Merkmale, die den Effekt erzieherischer Hilfen beeinflussen, deutlich heraus, die somit auch in der stationären Jugendhilfe greifen.
Die Qualität der Hilfeplanung nach §36 SGB VIII steht dabei an erster Stelle, denn diese bietet ein Setting, in dem die Ressourcen der Herkunftsfamilie, der Umgang mit den betroffenen jungen Menschen, eine offene Kommunikationskultur und Partizipation in die Entscheidungen mit einfließen. Somit ist die „Passung der Hilfsarrangements als zentrale Qualitätsdimension“ zu betrachten (Wolf 2007, 39). Die Qualität der Hilfeplanung zeichnet sich durch die stetige Anpassung der Methoden und Strukturen an den individuellen Bedarf, den spezifischen Problemkonstellationen, Selbstkonzepten und Bedürfnissen des Kindes und seiner Familie aus (vgl. Bigos 2014).
Innerhalb des individuellen Hilfeangebots, also auch während der stationären Hilfen zur Erziehung, muss einer Beständigkeit sozialer Bezüge zum Herkunftsmilieu Rechnung getragen werden. „Kontakte zu den Eltern sind auch dann von großer Bedeutung, wenn die innerfamiliären Beziehungen konfliktreich belastet sind und wenn Kindeswohlgefährdungen zur Unterbringung führten“ (Bigos 2014, 32).
Leider werden mangelnde Stabilität der Platzierung in Einrichtungen und mangelnde Qualität der sozialen Bezüge im Modellprogramm des BMFSJ belegt. Es zeigt sich deutlich, dass bei mehr als der Hälfte aller in Erziehungsstellen untergebrachten Kinder und Jugendlichen mindestens eine abgebrochene Unterbringung vorausging, was folglich die Qualität der Hilfeplanung infrage zu stellen lässt.
Außerdem wird leider sehr deutlich, dass Jungen zu wenig Unterstützung auf emotionaler Ebene erhalten und zudem übermäßig kontrolliert werden (vgl. Gabriel 2007). Solch ungünstige Bedingungen bestärken den von Wolf (2007) formulierte Schlüsselindikator für eine erfolgreiche Heimerziehung: Die Qualität der unmittelbaren pädagogischen Beziehung. Hierbei sind die Kontinuität und Intensität der Beziehung zu mindestens einem Betreuer von höchster Bedeutung. Besonders das gemeinsame Leben der jungen Menschen mit den pädagogischen Fachkräften vor Ort, mit klaren und Orientierung gebenden Strukturen und Regeln führt Wolf als zentrale Dimension, aufgrund seiner Analysen, an. Ein geregelter Alltag, mit ausreichend Halt und Kontrolle, sowie durchsetzungsfähige und fachkompetente Pädagogen sind hier sehr wichtig.
„Sechs von sieben Hilfeverläufen werden mit positiver Bilanz beendet, wenn im Jugendamt mit hoher Fachlichkeit gearbeitet wird. Einer von zwei Hilfeverläufen scheitert, wenn die grundlegenden Standards im Jugendamt nicht eingehalten werden. Für die Einrichtungen zeigt sich noch ein viel deutlicherer Zusammenhang. Einer von vierzehn Hilfeverläufen scheitert, wenn die Einrichtung fachlich Qualifizierte Hilfe anbietet. Dahingegen scheitern zwei von drei Hilfeverläufen, wenn die Einrichtung wesentliche Standards nicht einhält“ (Baur 1998, in: Günder 2015, 190).
Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Faktor im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Heimerziehung ist der stetig nötige Respekt der Pädagogen vor den bisherigen Lebenserfahrungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen, welcher als Voraussetzung zu betrachten ist, um die passende Einrichtung für die individuellen Problemlagen der Betroffenen zu finden. Die durch konfliktreiche Erfahrungen entstandenen Überlebensstrategien und Deutungsmuster müssen von den Fachkräften verstanden und gedeutet werden, um im Alltag sinnige Lösungen für Problemlagen finden zu können (vgl. Wolf 2007).
3.2 Systemische Pädagogik in der Heimerziehung
Die Grundidee einer systemischen Pädagogik in der stationären Jugendhilfe beinhaltet ein genaues Verständnis über Wechselwirkungen und Voraussetzungen struktureller, inhaltlicher, personeller und institutioneller Angelegenheiten. Sie ist als eine Form der pädagogischen Tätigkeit zu verstehen, die eine Reihe von Aus- und Fortbildungserfordernissen voraussetzt, um die komplexen Anforderungen des Gruppenalltags kompetent bewältigen zu können (vgl. Gehrmann 2015).
Sie bildet außerdem ein differenziertes Konstrukt, welches inhaltliche und methodische Überschneidungen mehrerer Nachbardisziplinen aufweist und miteinander verbindet (Abbildung 1, 29), wobei systemtheoretische Aspekte eine basisgebende Rolle spielen und Methoden zur Verfügung stellen. Im Rahmen dieser Arbeit wird nicht konkret auf alle in Abbildung 1 aufgeführten pädagogischen Disziplinen eingegangen, doch soll sie einen verständlichen Überblick bieten.
„... Die moderne Systemtheorie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem der fruchtbarsten Konzepte in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt. Sie befasst sich mit dem heute in allen Lebensbereichen als zentral erkannten Problem der Komplexität, das heisst mit dem Problem der Vielschichtigkeit und Vernetzung, mit den Strukturen und Beziehungen sowie den Regeln und Mustern zwischen den Elementen eines Systems. Im Mittelpunkt systemtheoretischen Interesses stehen demnach nicht so sehr die Zustände der einzelnen Teile als vielmehr die Prozesse ihres Zusammenwirkens“ (Rotthaus, 2007,12).
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- Lena Meiertoberens (Autor:in), 2020, Ist eine besondere Traumapädagogik für Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung notwendig?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/513135
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