In dieser Arbeit geht es um die Frage der Historizität der lk. Sabbatheilungen 13,10-17 und 14,1-6. Können sie als authentisch betrachtet werden, oder hat Lukas deutlich seine Finger im Spiel? Wie steht Jesus zum Sabbatproblem nach Meinung von Lukas? Auch die Parallelstellen in Mk. und Mt. finden Beachtung und werden zum Vergleich herangezogen, ebenso weitere Sabbatbrüche Jesu in den Evangelien.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung in die Thematik
2 Die Texte Lk 13,10-17 und Lk 14,1-6
2.1 Übersetzung des griechischen Textes
2.1.1 Lk 13,10-17
2.1.2 Lk 14,1-6
2.2 Strukturierung der Perikopen
2.3 Literarische Analyse und Exegese
2.4 0Lk 13,10-17
2.4.1 Lk 14,1-6
2.5 Eine Analyse der Sprache und des Wortschatzes
2.5.1 Lk 13,10-17
2.5.2 Lk 14,1-6
3 Die Frage nach der Historizität von Lk 13,10-17 und Lk 14,1-6
3.1 Die Sabbatheilungsberichte in Mk 3,1-6 par, Lk 13,10-17
3.2 und Lk 14,1-6
3.3 Die Logien der Sabbatheilungsperikopen im Vergleich
4 Jesus und der Sabbat
4.1 Der Sabbat im Judentum zu der Zeit Jesu
4.2 Jesu Einstellung zum Sabbat
4.3 Der lukanische Jesus und die Sabbatobservanz
5 Abschließende Betrachtung
6 Literaturverzeichnis
Anhang
1 Einführung in die Thematik
Die synoptischen Evangelien schildern verschiedene Berichte, nach denen Jesus aus jüdisch-rabbinischer Perspektive den Sabbat entehrt und entheiligt hat bzw. mit dem jüdischen Sabbatgebot in Konflikte geraten ist. Mk 2,23-28, Mt 12,1-8 und Lk 6,1-6 berichten vom Ährenraufen am Sabbat, Mk 3,1-6 sowie seine Parallelstellen Mt 12,9-14 und Lk 6,6-11 erzählen von der Sabbatheilung des Mannes mit der verdorrten Hand. Das Lukas-Evangelium enthält allerdings in seinem Sondergut zwei weitere Darstellungen von Heilungen am Sabbat: die Heilung der verkrümmten Frau (Lk 13,10-17) und des wassersüchtigen Mannes (Lk 14,1-6). In diesem Kontext ist die Frage interessant, ob diese beiden lukanischen Texte ein eigenständiges Zeugnis vom Wirken des historischen Jesus am Sabbat wiedergeben und auch einer eigenen Tradition entstammen, oder ob der markinische Bericht von der Heilung der verdorrten Hand (Mk 3,1-6) möglicherweise durch Lukas oder einen vorlukanischen Redaktor weiter ausgebaut und variiert worden ist. Möglich ist aber ebenfalls, dass Lukas in seinem Sondergut Berichte über Sabbatheilungen Jesu gefunden hat, die er selbständig prägt, die vermutlich jedoch keine historische Faktizität besitzen und eher eine bestimmte Botschaft oder Intention deutlicher hervorheben sollen. Dieser Fragestellung soll im Folgenden nachgegangen werden. Zunächst werden die lukanischen Sondergut-Texte untersucht und analysiert im Hinblick auf Struktur, Aufbau, Wortverwendung und Inhalt. Dann soll ein Vergleich mit den vorhandenen Parallelen und speziell mit den überlieferten Logien erfolgen anhand verschiedener Forschungsansichten, um Rückschlüsse auf die historische Frage zu ziehen. Abschließend sollen die Debatte und das Problem um die Sabbatheiligung in der Zeit Jesu genauer betrachtet werden, eine mutmaßliche historische Position Jesu herausgearbeitet und die lukanische Absicht zur Darstellung der jesuanischen Haltung verdeutlicht werden.
2 Die Texte Lk 13,10-17 und Lk 14,1-6
2.1 Übersetzung des griechischen Textes
2.1.1 Lukas 13, 10-17
Die Heilung der gekrümmten Frau am Sabbat
10) Er aber lehrte in einer der Synagogen an den Sabbaten.
11) Und siehe, eine Frau (war da), die hatte einen Geist der Krankheit (schon) 18 Jahre und sie war gänzlich verkrümmt und konnte sich nicht vollständig aufrichten.
12) Als aber Jesus sie sah, rief er sie herbei und sagte zu ihr: „Frau, sei frei von deiner Krankheit“,
13) und er legte ihr die Hände auf und augenblicklich wurde sie wieder aufgerichtet und pries Gott.
14) Aber der Vorsteher der Synagoge antwortete, weil er unwillig war, dass Jesus am Sabbat heilte, und sagte zu der Volksmenge: „Es sind sechs Tage, an denen es nötig ist zu arbeiten. An diesen nun kommt und lasst euch heilen und nicht am Tag des Sabbats.“
15) Der Herr aber antwortete ihm und sprach: Heuchler, löst nicht jeder einzelne von euch seinen Ochsen oder seinen Esel am Sabbat von der Krippe und führt ihn weg und tränkt ihn?
16) Diese aber, die eine Tochter Abrahams ist, die der Satan – siehe – 18 Jahre gebunden hatte, sollte sie nicht von dieser Fessel am Tag des Sabbats gelöst werden?
17) Und als er dieses sagte, schämten sich alle seine Widersacher, und die ganze Volksmenge freute sich über alle herrlichen Taten, die von ihm geschahen.
2.1.2 Lukas 14, 1-6
Die Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat
1) Und es geschah, dass er am Sabbat in das Haus eines der Führer der Pharisäer ging, um Brot zu essen, und die, die da waren, belauerten ihn.
2) Und siehe, vor ihm war ein wassersüchtiger Mann.
3) Und Jesus antwortete und sprach zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, indem er sagte: „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen oder nicht?“
4) Sie aber schwiegen. Und indem er ihn anfasste, heilte er ihn und entließ ihn.
5) Und er sagte zu ihnen: „Welchem von euch fällt ein Sohn oder ein Ochse in den Brunnen, und zieht ihn nicht sofort empor am Tag des Sabbats?“
6) Und sie konnten nichts gegen dieses erwidern.
2.2 Die Strukturierung der Perikopen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zum besseren Vergleich der Struktur der in Frage kommenden Sabbatheilungen soll diese Übersicht Hilfe bieten.
2.3 Literarische Analyse und Exegese
2.3.1 Lk 13,10-17
Die beiden Sabbatheilungsgeschichten im Sondergut des Lukas sind in den größeren Kontext des lukanischen Reiseberichts einzuordnen. Für Lk 13,10-17 lässt sich kein spezieller Kontext benennen. Im Vorfeld berichtet Jesus von dem Einsturz des Turmes in Siloah (13,1-5), der 18 Galiläer erschlug. Die Sabbatheilungsgeschichte von der verkrümmten Frau ist nun zwischen den Gleichnissen vom Feigenbaum (13,6-9) sowie vom Senfkorn und Sauerteig (13,18-21/Mk 4,30-32/Mt 13,31-33) eingebettet.
Fokus dieser Erzählung liegt nicht so sehr auf der Wunderheilung (Lk 13,11-13.17b), sondern vielmehr auf dem daran anschließenden Streitgespräch zwischen Jesus und dem Synagogenvorsteher (Lk 13,14-17a), das sich thematisch mit dem Problem der Sabbatheiligung befasst.
Formgeschichtlich fällt Lk 13,10-17 damit unter die Gattung der Apophthegmen, bei denen eine Wunder- oder Heilungserzählung Anlass für ein nachfolgendes Streitgespräch bildet bzw. in ein Streitgespräch eingebunden sein kann. Noch konkreter lassen sich diese Sabbatheilungserzählungen zu den ntl. Normenwundern[1] zählen.
Ohne Überleitung befindet sich Jesus in V.10 in einer Synagoge, wo er lehrt. Ἐν μιᾷ τῶν συναγωγῶν, also in „einer der Synagogen“, deutet darauf hin, dass er seine Lehrtätigkeit in verschiedenen Synagogen an Sabbattagen ausübte, was sich gut mit dem Reisebericht in Einklang bringen lässt. Relevant ist in erster Linie die Zeitangabe „Sabbat“ (ἐν τοῖς σάββασιν), wobei der griechische Plural möglicherweise die Regelmäßigkeit ausdrückt, mit der er an Tagen des Sabbats in den Synagogen lehrt. Vielleicht ist er aber auch schlicht gebräuchlich im Koine-Griechischen jener Zeit.[2] Diese Ungenauigkeiten und Verallgemeinerungen deuten darauf hin, dass es Lukas hier um eine beispielhafte Erzählung ging.[3]
In V.11 wird eine Frau eingeführt, die sich ebenfalls in der Synagoge aufhält und seit 18 Jahren an einer Verkrümmung leidet, da sie von einem „Geist der Krankheit“ (πνεῦμα ἔχουσα ἀσθενέιας) befallen ist.[4] Man wird annehmen können, dass sie sich recht unauffällig in der Synagoge niedergelassen hat, vielleicht in einer hinteren Ecke, da sie als Frau zu jener Zeit noch eine geringere Stellung einnimmt und darüber hinaus wegen ihrer Krankheit – die vielfach als Zeichen der Unreinheit gewertet wird – schon grundsätzlich als minderwertig betrachtet wird.[5] Doch Jesus registriert die Frau und fordert sie auf, zu ihm zu treten, ohne dass sie ihn darum gebeten hätte. Ohne Zögern heilt er die Kranke, indem er ihr die Hände auflegt und einen Heilungsausspruch tätigt; daraufhin preist sie dankend Gott (V.12f.).
Bis zu diesem Vers kann man eindeutig von einer Wunderheilungserzählung sprechen, die alle hierfür typischen Elemente enthält: Einleitung, Krankheitsbeschreibung, Handeln Jesu durch Gott, Heilung, Reaktion der/des Geheilten. Völlig abgeschlossen wird sie jedoch erst durch den Chorschluss in V.17b, wo sich das Volk an den Wundertaten erfreut, die durch Jesus geschehen.
Für unsere Fragestellung jedoch interessant sind vor allem die folgenden Verse, die das Streitsgespräch beinhalten, denn erst jetzt (V.14) meldet sich der Synagogenvorsteher (ἀρχισυνάγωγος) zu Wort, der bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erwähnt worden ist. Er ist über das Handeln Jesu erbost, wendet sich in seiner Verärgerung jedoch eigenartigerweise an das Volk[6], nicht an Jesus selbst. Möglicherweise wagt er es nicht, Jesus direkt anzugreifen und ermahnt aus diesem Grund die anwesende Volksmenge.[7] Ulonska u. a. gehen davon aus, dass der ursprüngliche Text sich mit der Ermahnung an die Sabbatregelung an die nachösterliche Gemeinde gewendet habe und nicht direkt gegen Jesu Wundertat gerichtet gewesen sei.[8] Der Synagogenvorsteher erinnert also daran, dass man am Sabbat nicht arbeiten soll, sondern sechs andere Tage dafür bereit stehen; die Tätigkeit des Heilens wertet er als „Arbeit“, um die man am Sabbat nicht bitten soll (V.14). Doch dies tut die gekrümmte Frau gerade nicht, denn sie wird ohne ihre explizite Bitte von Jesus geheilt, weshalb der Vorsteher seine Rede wohl auch nicht an sie adressiert. Mit seiner Empörung wähnt er sich im Recht, da Jesus nach seiner Auffassung zweifellos das Gesetz, das die Heiligung des Sabbats vorschreibt, und somit auch Gott und seine Gebote missachtet hat.[9] Unter Berücksichtigung der pharisäischen Gesetzesauslegung ist die Erbostheit des Synagogenvorstehers beinahe verständlich, denn wenn man schon seit 18 Jahren an der Verkrümmung leidet, liegt weder Lebensgefahr vor noch eine dringende Heilungsnotwendigkeit. Aus welchem Grund also unternimmt Jesus seine Heilungstat, die als pure Provokation erscheinen muss?
Sehr wahrscheinlich handelt Jesus nicht im Geringsten gegen Gottes Willen, indem er die geplagte Frau am Sabbat heilt. Bovon betont dieses folgendermaßen:
Nichts im Evangelientext besagt, daß die christliche Gemeinschaft, Lukas oder Jesus diese Treue zum Gebot des Gesetzes missbilligt hätten. Was sie kritisieren, ist die Interpretation der Heilung als menschliches Werk, als Frucht einer menschlichen Arbeitsverrichtung. In ihren Augen handelt es sich im Gegenteil um eine göttliche Befreiung, die der Sabbat unterstützen sollte gemäß seiner Entsprechung in der Heiligen Schrift, dem Exodus aus Ägypten […].[10]
Stattdessen rückt Lukas den Übereifer des Synagogenvorstehers durch die nachfolgende Antwort Jesu in ein äußerst schlechtes Licht. Die Rede Jesu in V.15f wird oft als sekundäre Umformung und Erinnerung an ein isoliert überliefertes echtes Jesuslogion beurteilt[11] und regelmäßig mit den Logien in Lk 14,5 und Mt 12,11 in Beziehung gesetzt.[12]
Zunächst verwendet Jesus also die Anrede „Heuchler“ (ὑποκριταί), wobei der Plural erst einmal völlig unmotiviert erscheint. Es ist jedoch zu vermuten, dass er damit die Pharisäer oder alle jene anreden will, die sich über seinen Umgang mit der Sabbatpraxis ärgern.[13] Des Weiteren verweist er auf die Tatsache, dass auch das Lösen und Führen der Tiere zur Tränke am Sabbat erlaubt ist und daran kein Anstoß genommen wird – jeder von ihnen tut dies (ἕκατος ὑμῶν).[14] Als verlogen bezeichnet er eine Haltung, die diese „Arbeit“ am Sabbat erlaubt, die Heilung der Frau jedoch untersagt, denn in seinen Augen ist die Befreiung eines Menschen von Qualen und Erniedrigung ehrenwerter und dringender als die Versorgung der Tiere. In diesem Zusammenhang erhält auch der Begriff „Lösen“ (λύω) eine größere Bedeutung, der als ἀπολέλυσαι schon in V.12 vorkommt, nun in V.15b (λύει) erscheint und schließlich auch in V.16 wieder aufgegriffen wird (λυθῆναι).[15] Geht es in V.12 um das „Losmachen“, „Befreien“, so handelt V.15 vom Lösen des Viehs (τὸν βοῦν […] ἢ τὸν ὄνον) von der Krippe, um es zur Tränke zu führen. In V.16 aber weitet Jesus seine Argumentation auf die Frau aus, die er soeben geheilt hat, indem er fragt, ob sie etwa nicht gelöst werden solle – vom Bande Satans (ἣ ἔδησεν ὁ σατανᾶς). Er wendet dabei die rhetorisch geschickte Überzeugungsformel „a minori ad maius“[16] an, die sich hier schwerlich widerlegen lässt. Zum grundlegenden Wert eines Menschen, der höher wiegt als ein Tier, fügt Jesus die Betonung an, dass es sich bei der Frau schließlich um eine Tochter Abrahams handelt (θυγατέρα Ἀβραὰμ).[17] Für Bovon impliziert dieser Ausdruck ein „starkes Bewusstsein für das Gottesvolk“[18], der darum wohl entweder auf die Judenchristen oder Jesus selbst verweist und nicht von Lk stammt.[19] Grundsätzlich wird hier der Sabbat als ein Tag der Befreiung und Errettung[20] bewertet, an dem die gute Tat am Nächsten gegenüber der Ruhe und Besinnung überwiegt.[21]
Nach Jesu Feststellung in Form einer eher rhetorischen Frage bleibt den Gegnern nur noch ein Schweigen (V.17a), wohingegen sich das Volk (ὄχλος), also vermutlich die in der Synagoge Anwesenden, über die durch ihn geschehenen Wundertaten, die deutlich Gottes Prägung tragen, freut (V.17b). Hier wird auf diese Weise noch einmal die Verbindung zur Wunderheilung aufgenommen. Im Zusammenhang mit dem folgenden Gleichnis vom Senfkorn und dem Sauerteig kann hierin schon eine „[r]eligiöse, eschatologische Freude angesichts dessen, was den Ausbruch des Reichs signalisiert“[22] erkennbar werden.
Letztlich will Lk 13,10-17 vor allem auf das wahre Wesen und den eigentlichen Sinn des Sabbats aufmerksam machen bzw. diese Aspekte wieder in Erinnerung rufen. Die Sabbatheiligung ist nicht religiöser Selbstzweck und Ritualisierung ohne Reflektion, sondern dient der Befreiung des Menschen. Bovon legt dar, dass „[d]er lukanische Jesus behauptet, den Sabbat auf die beste Art zu feiern, indem er diese Frau wiederaufrichtet: er schenkt Befreiung, Leben, Ruhe an diesem Tag.“[23] Jesus geht es allein darum, den Willen Gottes in seiner Auslegung des Sabbatgebotes zu verdeutlichen und zu erfüllen.
2.3.2 Lk 14,1-6
Im direkten Vorfeld zur Perikope über die Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat (Lk 14,1-6) steht weiterhin die Lehrtätigkeit Jesu, die er auf seinem Weg nach Jerusalem in den verschiedenen Dörfern ausübt (13,22). Hinzu kommt die Warnung der Pharisäer vor Herodes, der ihn, Jesus, zu töten beabsichtigt. Jesus soll sich deshalb von Jerusalem fernhalten, was er jedoch mit Hinweis auf die Prophetentode in Jerusalem ablehnt (13,31-35).
Die Perikope selbst ist inhaltlich in den größeren Rahmen einer Gastmahlszene[24] eingebettet (Lk 14,1-24)[25]. Mit der Einladung ins Haus eines Oberen der Pharisäer (τινος τῶν ἀρχόντῶν τῶν Φαρισαίων) erhält Jesus die Möglichkeit, die Anwesenden über das richtige Verhalten am Sabbat aufzuklären (14,1-6), über ein angemessenes, demütiges Benehmen gegenüber dem Gastgeber im Falle einer Einladung (14,7-11) und über die einzuladenden Gäste bei einem eigenen Gastmahl (14,12-14) zu unterrichten. Die Szene endet schließlich mit dem Gleichnis von der Einladung zum Gastmahl Gottes (14,15-24).
Bei dieser Perikope handelt es sich ebenfalls um ein Apophthegma, auch wenn von einem Streit-„Gespräch“ nicht im wahrsten Sinne zu reden ist, denn die Gegner Jesu äußern sich nicht ein einziges Mal in mündlicher Form, sehr wahrscheinlich jedoch in nonverbaler Weise, wie noch zu zeigen ist.
In V.1 befindet sich Jesus also im Haus eines Pharisäers, um an einem Mahl teilzunehmen (φαγεῖν ἄρτον), das an einem Sabbat stattfindet. Die Ermahnungen und Drohungen aus 13,31 verschrecken Jesus offensichtlich nicht, denn sonst hätte er sich wohl eher von dieser feindseligen Gesellschaft ferngehalten. Deren Antipathie wird darüber hinaus deutlich durch den Ausdruck παρατηρούμενοι im Sinne von „belauern“, „beobachten“ nahe gelegt. Unvermittelt tritt in V.2 ein Wassersüchtiger auf, der plötzlich vor Jesus steht. Man kann sich darüber streiten, ob die Pharisäer ihn absichtlich herbestellt haben, um Jesus zu einer Sabbatheilung zu provozieren[26] oder ob er schlicht ein neugieriger Zuschauer der gesamten Gastmahlsszenerie gewesen ist, wie es in jener Zeit nicht unüblich war.[27]
In V.3 wird deutlich, dass Jesus sich sehr wohl der lauernden Haltung der Gesetzeslehrer und Pharisäer bewusst ist, indem er ihre sehr wahrscheinlich ausdrucksstarke Mimik zum Anlass nimmt, um ihnen die Frage nach der Erlaubnis der Sabbatheilungshandlung zu stellen (ἔξεστιν τῷ σαββάτῳ θεραπεῦσαι ἢ οὔ;)[28].
Die Reaktion der Pharisäer und Gesetzeslehrer darauf ist ein einziges Schweigen. Bisher haben seine Widersacher noch nicht einen Ton verlauten lassen, was auch im weiteren Verlauf der Perikope unverändert so bleiben wird. Sie wissen keine passende Antwort und verbleiben regungslos. Daraufhin fasst Jesus den Wassersüchtigen an, heilt und entlässt ihn (V.4b: ἐπιλαβόμενος, ἰάσατο, ἀπέλυσεν); auf diese Weise beantwortet er ohne jede weitere Erklärung die noch ungeklärte, obgleich rhetorische Frage aus V.3b. Jesus entlässt ihn aus der Gesellschaft des Festmahls, bei der er zu diesem Zeitpunkt noch anwesend ist, aber er entlässt ihn auch von seiner Krankheit und der damit verbundenen Ohnmacht. Sehr interessant ist auch Bovons Interpretation des Begriffs ἀπολύω neben der üblichen Bedeutung „entlassen“ als „befreien“, „einen Gefangenen erlösen“, „begnadigen“[29] und bringt somit eine theologische Bedeutung ein. Jesus muss sich bewusst gewesen sein, dass er mit diesem Vorgehen enorme Provokation ausübt: weil er sich erstens als Gast in einem pharisäischen Haus befindet und dementsprechend höflich die Genehmigung des Gastgebers hätte einfordern sollen und weil er zweitens sehr genau die pharisäische Einstellung zur Sabbatpraxis einzuschätzen weiß.
Nach seiner Heilungstat wendet sich Jesus wieder an die Pharisäer und Gesetzeslehrer, nun mit der Frage, wer es am Sabbattage unterlassen würde, seinen Sohn oder Ochsen zu retten, sollte dieser in einen Brunnen gefallen sein (τίνος ὑμῶν υἱὸς ἢ βοῦς εἰς φρέαρ πεσεῖται, καὶ οὐκ εὐθέως ἀνασπάσει αὐτὸν ἐν ἡμέρᾳ τοῦ σαββάτου;)[30]. Die Forscher sind sich relativ einig, dass diese Sentenz zu den ursprünglichsten und authentischen Jesusworten zu zählen ist; strittig ist für sie jedoch, welches Textzeugnis der lk Aussage am ehesten zu Grunde liegt, wenn in 14,5 von „Sohn und Ochse“ die Rede ist. Während der Ochse einheitlich bezeugt ist, wird je nach Handschrift der Sohn auch durch ein „Schaf“ (οἶς) oder einen „Esel“ (ὄνος) ersetzt.[31] Jesus setzt damit voraus, dass die angesprochenen Pharisäer sich Gottes Zustimmung gewiss sind, wenn sie einem gefährdeten Tier oder gar einem Menschen sofort (εὐθέως) helfen würden, völlig gleichgültig, ob es Sabbatzeit ist oder nicht. In diesem Fall, bei Bedrohung des Lebens, kann die Einhaltung der Sabbatruhe nach der pharisäischen liberaleren Auslegung durchbrochen werden.[32] Dem stimmt auch Jesus unbedingt zu und geht in seiner Interpretation des Sabbatgebotes davon aus, dass seine Heilungstat ebenfalls einen ausgelieferten, hilflosen Menschen betrifft. Er will Nächstenliebe, den Dienst am Nächsten üben, jederzeit und vor allem am Tage des Sabbats, der ja ein Tag zu Ehren Gottes und seiner Schöpfung ist, wohingegen die Pharisäer und Schriftgelehrte mit ihrer Sabbatpraxis den Nächsten missachten würden, sofern er nicht den Kategorien „Sohn“, „Haustier“ oder eindeutiger „Lebensgefahr“ entspräche.[33]
Erneut sind die Pharisäer und Gesetzeslehrer nicht zu einer Erwiderung fähig (οὐκ ἴσχυσαν ἀνταποκριθῆναι), die der fragenden Argumentation Jesu eine würdige Entsprechung, eine Widerlegung oder gar eine Überbietung entgegensetzen könnte.
[...]
[1] In so genannten Normenwundern wird eine rechtliche Frage diskutiert, wobei das Wundergeschehen oft den Part der Beantwortung übernimmt. In der Regel geht man dabei von einem Gottesurteil aus. Gott stellt sich dabei meistens auf die Seite des vermeintlichen Übertreters der Norm. „In den Normenwundern (Mk 2,1-12; 3,1-6; Lk 14,1-6) beherrscht das expositionelle Argument die ganze Wundergeschichte. Mitte und Schluss sind zwar vorhanden: die zentralen und finalen Motive sind jedoch dem expositionellen Motiv ‚Argumentation’ untergeordnet.“ (G. Theißen, S.120) – „In einigen Normwundern folgt das Argument dem Wunder. In Lk 13,10-17 ist es in die Wundergeschichte integriert: Die abschließende Akklamation rundet Wunder und Debatte erzählerisch ab.“ (G. Theißen, S.121). Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, S.114-122. Er sieht die Ursprünge dieser Gattungsbezeichnung bei M. Dibelius, Formgeschichte.
[2] Dazu kann ich mir leider kein Urteil erlauben, da ich mit den Gewohnheiten des Koine-Griechisch nicht vertraut bin.
[3] Vgl. W. Grundmann: Evangelium nach Lukas: S.279.
[4] Auch wenn von einem Geist der Krankheit die Rede ist, ist nicht von einer Art Besessenheit auszugehen, die auszutreiben ist. Hier ist deutlich die Heilung von einem körperlichen Leiden gemeint. Vgl. auch W. Grundmann: S.279.
[5] Vgl. F. Bovon: Evangelium nach Lukas. Bd.2: S.399 (und Dtn 5,13; Ex 20,9f; Lev 22,1-9; Num 5,1-5; Dtn 23,10-15.); vgl. auch: Wunder Jesu: S.133.
[6] Erst an dieser Stelle wird das Volk explizit erwähnt, daneben noch ein einziges Mal in V.17b; dennoch wird man von 12,54 her annehmen können, dass es durchgängig anwesend war. Vgl. auch M. Trautmann: Handlungen Jesu: S.292.
[7] F. Bovon vermutet in den Adressaten, an die sich der Synagogenvorsteher wendet, die Jünger Jesu; ihnen soll ihr Fehlverhalten aufgezeigt werden, ähnlich wie in der Ährenraufen-Perikope am Sabbat. Dementsprechend wendet sich Jesus mit seinem Plural „Ihr Heuchler“ an ihre Gegner (vgl. S.396). Dies klingt alles logisch, doch da nicht explizit von den Jüngern die Rede ist, kann man auch eine allgemeine Hinwendung an das Volk vermuten.
[8] Vgl. H. Ulonska: Streiten mit Jesus: S.75.
[9] Vgl. F. Bovon: S.401f.
[10] F. Bovon: S.402.
[11] Vgl. z.B. E. Lohse: Jesu Wort über den Sabbat: S.81. Lk 14,5 gilt dabei oft als Grundlage, die schließlich umformuliert wurde. Vgl. auch C. Dietzfelbinger: Sabbatheilungen Jesu: S.286.
[12] Vgl. hierzu den Abschnitt zu den Sabbatlogien.
[13] Etwas ausführlicher im Kapitel zur Sabbatthematik.
[14] Jesus bezieht sich dabei wohl auf die allgemein übliche Sabbatpraxis der Pharisäer, die weniger streng als beispielsweise die essenische und sadduzäische Auslegung des Gesetzes ist – vgl. Bovon S.402 und Anm. 64. Bovon geht von Folgendem aus: „Jesus scheint sich auf die Praxis der Pharisäer zu beziehen, die in vielem weniger streng als die Essener waren […]. Die hier den Juden zugeschriebene Haltung (V 15) scheint vernünftig zu sein […]. Die jüdische Religion hat sich den Notwendigkeiten der Natur angepaßt, und die Gesetzeslehrer haben den Hirten und Bauern erlaubt, ihre Herden zu tränken, so daß das Gebot der Ruhe nicht allzu sehr verletzt wurde.“ (S.402f.)
[15] F. Bovon liegt wohl richtig mit seiner Feststellung, nach der Lk mit dem Wort „Lösen“ spielt. Vgl. S.396.
[16] Vgl. H. Ulonska: S.77. So auch P.-G. Müller: Lukas-Evangelium: S.128 und W. Grundmann: S.280.
[17] Hier wird deutlich, dass Jesus aus der Sicht des Evangelisten einer Frau in jedem Fall einen höheren Stellenwert zugesteht als einem Haustier, was noch einmal durch die Bezeichnung „Tochter Abrahams“ unterstrichen wird.
[18] F. Bovon: S.404.
[19] Vgl. F. Bovon: S.404.
[20] Vgl. F. Bovon: S.
[21] Vgl. auch Wunder Jesu: S.136.
[22] M. Trautmann: S.404.
[23] F. Bovon: S.406f.
[24] Das Gastmahlmotiv ist bei Lk recht beliebt, vgl. auch Lk 5,29-39; 7,31-50; 11,37-54; 22,1-13.14-38; 24,30.41-43. So auch bei F. Bovon: S.464f.
[25] Vgl. hier F. Bovon: S.464f.
[26] So z.B. F. Bovon: S.471 oder F. Rienecker: Evangelium des Lukas: S.346.
[27] Vgl. u. a. K. H. Rengstorf: Evangelium nach Lukas:„Das Erscheinen eines Kranken erklärt sich ohne Schwierigkeit daraus, daß bei festlichen Anlässen Neugierige Gelegenheit hatten, aus nächster Nähe Zeugen des Geschehens zu sein (so auch 7,37). Man braucht also nicht anzunehmen, die Gegner Jesu hätten den Wassersüchtigen bestellt, um ihn zur Übertretung der Sabbatsitte zu veranlassen.“ (S.178). Vgl. auch J. Schmid: Evangelium nach Lukas:S.242.
[28] Ähnlich formuliert findet sich diese Frage auch in Mk 3,4 und Lk 6,9. Dass F. Rienecker der Ansicht ist, „die in schlichter Einfalt, Wahrheit und Liebe gestellte Frage des Herrn […] [habe] alle Gegner zum Schweigen“ gebracht, ist nicht so recht nachvollziehbar. Vgl. S.346.
[29] F. Bovon: S.476.
[30] Vor allem ist dieser Spruch der Aussage Jesu in Mt 12,11 sehr ähnlich. Dazu an anderer Stelle mehr.
[31] Vgl. hierzu z.B. F. Bovon: S.477f. Die Textkritik soll nicht weiter betrieben werden. Dennoch handelt es sich hier um einen sehr interessanten Unterschied, der nennenswert ist.
[32] Dass die pharisäische Auslegung des Gesetzes insgesamt liberaler ist als die der Essener oder Sadduzäer soll noch an anderer Stelle thematisiert werden
[33] Vgl. K.H. Rengstorf: S.178. oder P.-G. Müller: S.131.
- Quote paper
- Christin Borgmeier (Author), 2005, Jesus und die Sabbatproblematik anhand der Sabbatheilungsperikopen im Lukasevangelium, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51308
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