"Stadtluft macht frei" - so hat es wohl zuerst Jakob Grimm im 19. Jahrhundert in glücklicher Anlehnung an die mittelalterliche Rechtssprache ausgedrückt. Und an diesen Satz schließt sich meist noch ein weiterer an: "Nach Jahr und Tag." Damit ist ein Prinzip benannt, welches bei vielen auch nur 'oberflächlicher' bzw. schon lang zurückliegender Beschäftigung mit mittelalterlicher Geschichte ein verstehendes und zustimmendes Kopfnicken erzeugt.
Diese Zustimmung begründet sich nicht nur auf den Bekanntheitsgrad dieses "Spruches" - ähnlich anderen Merksätzen aus dem schulischen Geschichtsunterricht. Sondern diese Zustimmung begründet sich auch auf der Ansicht, daß in einer - und gemeint ist das typisierende: der - Stadt des Mittelalters die Anwesenheit eines Menschen ohne die Beanspruchung durch den Leibherrn zu persönlicher Vollfreiheit führte. Und wenn doch sonst der Ausdruck "von den mittelalterlichen Zuständen" als Bezeichnung, als Synonym für Ausbeutung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit steht - hier gibt es eine Ausnahme: In der Stadt war wohl alles besser.
Kein Grundherr, dafür Handwerk und Handel, Ordnung durch Zünfte und Gilden, Schutz vor Willkür und Übergriffen durch die Mauer. Neben dem wichtigen Gut der Freiheit anscheinend Gerechtigkeit durch Recht, durch Stadtrecht. Aber: Wer gibt dieses Recht? Wie hat es sich entwickelt? Oder: Wer gibt diese Freiheit in der mittelalterlichen Stadt und wer kann sie garantieren? Damit wird deutlich: Die Auseinandersetzung mit dem Prinzip "Stadtluft macht frei" kann nicht nur nach Ursprung und Herkunft des Satzes selbst fragen, sondern muß sich eingehender mit Fragen der Stadtentwicklung im Mittelalter insgesamt befassen.
GLIEDERUNG
1. Einleitung
2. Grundzüge der Stadtentwicklung
3. Stadtherrschaft und Stadtfreiheit
4. "Stadtluft macht frei"
1. Einleitung
"Stadtluft macht frei"- so bat es wohl zu- erst Jakob Grimm im 19. Jahrhundert in glücklicher Anlehnung an die mittelalterliche Rechtssprache ausgedrückt.
Und an diesen Satz schließt sieb meist noch ein weiterer an: "Nach Jahr und Tag."
Damit ist ein Prinzip benannt, welches bei vielen auch nur 'oberflächlicher' bzw. schon lang zurückliegender Beschäftigung mit mittel alterlicher Geschichte ein verstehendes und zustimmendes Kopfnicken erzeugt.
Diese Zustimmung begründet sieb nicht nur auf den Bekanntheitsgrad dieses "Spruches" - ähnlich anderen Merksätzen aus dem schulischen Ge schichtsunterricht.
Sondern diese Zustimmung begründet sich auch auf der Ansicht, daß in einer - und gemeint ist das typisierende: der - Stadt des Mittel alters die Anwesenheit eines Menschen ohne die Beanspruchung durch den Leibberrn zu persön licher Vollfreiheit führte.
Und wenn docb sonst der Ausdruck "von den mittelalterlichen Zuständen" als Bezeichnung, als Synonym für Ausbeutung, Unterdrückung, Un gerechtigkeit steht - hier gibt em eine Aus nahme: In der Stadt war wohl alles besser. Kein Grundherr, dafür Handwerk und Handel, Ordnung durch Zünfte und Gilden, Schutz vor Willkür und Übergriffen durch die Mauer.
Neben dem wichtigen Gut der Freiheit anscheinend Gerechtigkeit durch Rectt, durch Stadtrecht. Aber: Wer gibt dieses Recht? Wie hat es sich entwickelt? Oder:Wer gibt diese Freiheit in der mittelalterlichen Stadt und wer kann sie garantieren?
Damit wird deutlich: Die Auseinandersetzung mit dem Prinzip nstadtluft macht frei" kann nicht nur nacb Ursprung und Herkunft des Satzes selbst fragen, sondern muß sieb eingehender mit Fragen der Stadtentwicklung im Mittelalter insgesamt befassen.
2. Grundzüge der Stadtentwicklung
Die landwirtschaftliche Produktion ist die Existenzgrundlage aller seßhaften Völker des Mittelalters.
Es mußten allerdings auch fast alle daran und darin arbeiten, damit sie es auch bleiben konnte: Wer im Mittelalter ein Korn Getreide sät, wird selten mehr als drei Körner ernten. Die geringe Zahl und die Einfachheit der Pro duktionsinstrumente machte die Arbeit vieler notwendig, um wenigstens dieses Ergebnis zu erreichen.
Schlechte Witterungsbedingungen können diese Situation noch verschärfen: Verringert sich der Ernteertrag um ein Drittel, muß schon die Hälfte des Ertrages wieder der Aussaat vorbe halten bleiben.
Mißernten, Hunger und früher Tod gehörten zum Alltag des Menschen im Mittelalter.
Das Überleben der Bevölkerung ist eigentlich nur erklärbar, wenn andere Nahrungsmittel mit einbezogen werden - Fleisch oder Fisch eher selten,mehr schon Milch, Eier, Gemüse aus dem bäuerlichen Gartenbau.
Angesichts solcber Ausgangsbedingungen ist es erstaunlich, daß sie doch ausgereicht haben müssen, um eine seit dem 7. Jahrhundert stetig, wenn auch langsam wachsende Zahl von Menschen zu ernähren.
Dieses Bevölkerungswachstum ermöglichte und er forderte den Ausbau der Anbauflächen in der Land wirtschaft.
Denn eine Steigerung des Ernteertrages war im wesentlichen immer begründet auf eine Auswei tung der Anbauflächen, nicht auf eine Intensi vierung der landwirtscbaftlichsr Produktion.
So stiegen in der Lombardei die Erträge erst im 9. Jahrhundert auf das oben angesprochene Zwei bis Dreifache der Aussaat; in Deutschland kam es erst im 11- Jahrhundert zu solchen Erträgen.
In diesem Jahrhundert beginnt auch ein rascheres Bevölkerungswachstum, welches bis in das 14. Jahrhundert anhält.
Es kam aber nicht nur zur nachfolgenden Phase des Landesausbaus und der Ostsiedlung, sondern auch zu Verbesserungen der Arbeitsgeräte, die eine intensivere Nutzung ermöglichten.
Neben den noch immer vorherrschenden hölzernen Hakenpflug trat nun auch der Räderpflug; die Bearbeitung schwerer Böden wurde dadurch mög lich. Eine weitere Verbesserung war das Kummet für das Pferd, welches die Leistungsfähigkeit dieses Zugtieres steigerte. Das am häufigsten benutzte Zugtier blieb natürlich das Rind. Wesentlich und notwendig,fürdie Produktions steigerung in der Landwirtschaft war die Bodennutzung in der Dreifelderwirtschaft und die Möglichkeit des regelmäßigeren Eggens, die Wald und Wiese schärfer vom Acker abgrenzte und Verbesserungen der Anbaumethoden ermöglich te.
Diese Steigerung der Erträge sorgte letztendlich dafür, daß nicht mehr nur die direkten Erzeuger der landwirtschaftlichen Produkte diese auch zur Aufrechterhaltung der eigenen Existenz un bedingt benötigten, sondern der Freiraum ent steht für eine größere Zahl von Menschen, die auch ohne die direkte Mitarbeit in der land wirtschaftlichen Produktion "miternährt" werden können.
Die zahlreichen Marktgründungen besonders im 10. Jahrhundert zeigen, daß sich Handel und Gewerbe nicht mehr nur auf die zahlenmäßig kleine Schicht i von Adel und Kirche beschränkte, sondert die t.Jberschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion von Bauern zur Ergänzung des Eigenbedarfs genutzt werden konnten: Der regionale Warenaustausch wurde durch ein verbessertes Verteilernetz :vergrößert. Diese entstehenden oder gegründeten Märkte oder Marktorte waren nach ihrer Funktiort und nach ihrer Häufigkeit sehr unterschiedlich.
Bedeutsam für alle Marktorte war dabei, daß sie sich nicht nur auf den Austausch von Gütern aus der Umgegend mit Fernhandelswaren beschränken -aurften, sondern durch regelmäßige (Wochen-)Märkte Handwerkern und Händlern das Verdienen ihres Lebensunterhaltes ermöglichen mußten.
Handel und Marktbesuch standen unter königlichem Friedensgebot. Viele geistliche und später auch weltliche Grundherren nutzen die "großzügige königliche Marktpolitikdes 1o. und 11. Jahr hunderts"(1) durch das meistmit dem Marktrecht zugestandene Münzrecht und das Recht, Abgaben und Zölle zu erbeben. Das herrschaftliche Marktgericht verpflichtete alle Händler und �aufleute zur Aner kennung des jeweils dortigen Kaufmannsrechts. Damit war ein entscheidendes mittelalterliches Rechts prinzip für den Bereich des Marktes durchbrochen: Das Ortsrecht wurde dem Geburtsrecht übergeordnet. Obwohl dieses Prinzip zuerst nur für Fernhändler galt, weitete es sich doch zum allgemeinen Rechts prinzip aus.
"Daß in Verbindung mit Marktprivilegien ein eingegrenzter Bezirk kraft Königs bannes unter besonderes Recht trat, schuf eine materielle und bezirks mäßige Voraussetzung für späteres Stadtrecht."(2)
Als Keimzellen der weiteren Entwicklung sind dabei Kaufmannssiedlungen von Fernhändlern anzusehen, die häufig neben Burgen, Pfalzen oder Bischofssitzen lagen - an Plätzen, wo schon ein Bedarf für Handels und handwerkswaren bestanden hatte.
Im 12. Jahrhundert wurden viele Märkte und Städte in verkehrstechnisch günstigen Gebieten (an Fluß Übergängen, Kreuzungen von Fernstraßen, Übergängen über Gebirge) gegründet. Von den 'gewachsenen'
Städten unterscheiden sie sich durch ihre plan mäßige Anlage der Straßen; oft entsteht auch eine 'Neustadt' neben dem schon bestehenden Siedlungs zusammenhang.
Friede und ein für alle verbindliches Recht am Marktort waren die wesentlichen Elemente, die in der mittelalterlichen Stadt von der älteren Wirtschaftseinrichtung, dem Markt, übernommen wurden.
Aber die mittelalterliche 'civitas' wird von einem zusätzlichen Element konstituiert: Der Freiheit.
[...]
(1) Ennen, Edith: Die europäische Stadt des Mittel alters, 3. Aufl., Göttingen 1979, S. 79.
(2) Ennen, S. 81.
- Citation du texte
- Hans-Joachim Olczyk (Auteur), 1984, Stadtluft macht frei. Fragen zur Stadtentwicklung im Mittelalter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512903
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