Kants praktische Philosophie spielt derzeit nur eine untergeordnete Rolle in der „Angewandten Ethik“. Dies ist wohl auch einem gängigen Vorurteil geschuldet: Der kategorische Imperativ als Moralprinzip sei nicht brauchbar zur „Lösung“ konkreter Fälle, da dieser die „Feinstruktur moralischer Phänomene“ (Pauer-Studer 2006) und die konkrete Lebensrealität der Menschen außer acht lasse. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die gängigen Vorurteile in Bezug zur Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs zu überwinden und das Anwendungspotenzial von Kants praktischer Philosophie aufzuzeigen.
Zunächst (Kapitel 2) wird der kategorische Imperativ ausführlich behandelt und von hypothetischen Imperativen abgegrenzt. Danach wird anhand von Beispielen gezeigt, wie Kants Maximen-Prüfung (Kapitel 3) auf konkrete Fälle angewandt werden kann. Im letzten Abschnitt (Kapitel 4) wird anhand von drei antiken Tugenden (Tugend der Weisheit, Tugend der Klugheit, Tugend der Tapferkeit) herausgearbeitet, wie das Ergebnis einer Maximen-Prüfung in konkreten Situationen schlussendlich auch realisiert werden kann.
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2.Der kategorische Imperativ
3.Maximen-Prüfung
4.Anwendung auf konkrete Situationen
5.Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Anwendung des kategorischen Imperativs
1. Einleitung
Kants praktische Philosophie spielt derzeit nur eine untergeordnete Rolle in der „Angewandten Ethik“. Dies ist wohl auch einem gängigen Vorurteil geschuldet: Der kategorische Imperativ als Moralprinzip sei nicht brauchbar zur „Lösung“ konkreter Fälle, da dieser die „Feinstruktur moralischer Phänomene“ (Pauer-Studer 2006, 83) und die konkrete Lebensrealität der Menschen außer acht lasse.
Nach Grimm unterscheidet sich die „Angewandte Ethik“ von den traditionellen Ethiken durch folgende fünf „pragmatische Leitkonzepte“: Umsetzbarkeit, Realisierbarkeit, Zumutbarkeit, Kontextsensitivität und wissenschaftliche Anschlussfähigkeit. In der angewandten Ethik gehe es nicht um die „Begründung, Reflexion oder Beschreibung moralischer Normen“, sondern um die „ethische Begründung von Lösungsvorschlägen“. (Grimm 2008, 326f.) Diese Lösungsvorschläge müssen sich „an den konkreten moralischen Problemstellungen orientieren, da diese bereits Vorgaben für die Begründung der Lösungsvorschläge“ enthalten. Ohne Bezug zu den „kontextuellen Bedingungen“ werde „man - wenn überhaupt - nur zufällig Probleme lösen“. (Grimm 2008, 327)
Im Gegensatz zur kantianischen Ethik erfreuen sich utilitaristische Konzeptionen in der angewandten Ethik einer großen Beliebtheit. Das konsequenzialistische Prinzip der „Nutzenmaximierung“ („das größte Glück der größten Zahl“) kann schließlich die Erfordernisse nach Berechenbarkeit, Umsetzbarkeit, Kontextsensitivität und (natur)-wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit am besten gewährleisten.
Das Ziel dieser Arbeit ist es nun, die gängigen Vorurteile in Bezug zur Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs zu überwinden und das Anwendungspotenzial von Kants praktischer Philosophie aufzuzeigen. Zunächst (Kapitel 2) wird der kategorische Imperativ ausführlich behandelt und von hypothetischen Imperativen abgegrenzt. Danach wird anhand von Beispielen gezeigt, wie Kants Maximen-Prüfung (Kapitel 3) auf konkrete Fälle angewandt werden kann. Im letzten Abschnitt (Kapitel 4) wird anhand von drei antiken Tugenden herausgearbeitet, wie das Ergebnis einer Maximen-Prüfung in konkreten Situationen schlussendlich auch realisiert werden kann.
2. Der kategorische Imperativ
Im Jahr 1763 hat Kant - also gut zwei Jahrzehnte vor der Formulierung seines „Kategorischen Imperativs“ - in einer Preisschrift postuliert, dass die „ersten Gründe der Moral [...] nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig“ sind. Es müsse eine Regel oder ein Grund der Verbindlichkeit gefunden werden, welche eine „Handlung als unmittelbar no[t]wendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks“ gebietet. Handlungen, welche notwendig sind, um einen gewissen Zweck zu erreichen (z. B. Beförderung der Glückseligkeit), „sind alsdann nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche [Teile] zerfällen will, d.i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will.“ (Kant 1998, 770f.) Kant versuchte daraufhin dem Anspruch der Ethik nach Unbedingtheit, Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit gerecht zu werden, indem er ein Moralprinzip begründete, welches Handlungen notwendigerweise und unbedingt vorschreibt („Du sollst X tun“) (den Kategorischen Imperativ) und nicht bloß bedingt durch einen Zweck („Wenn du X willst, dann tu Y“) (hypothetische Imperative). (Vgl. Hölzl 2019, 13ff.; Vgl. Pauer-Studer 2006, 36.) Hypothetische Imperative sind immer bedingt durch einen (materiellen) Zweck und sind deshalb analytische Urteile, da das Mittel (z. B. als Kaufmann wahrhaftig zu sein) bereits im Zweck (z. B. Nutzen- oder Lustmaximierung) enthalten ist. Kategorische Imperative sind im Gegensatz dazu unbedingt, da diese durch einen (rein formalen) Abstraktionsprozesses zustande kommen. Diese sind synthetische Urteile, da die Zwecke erst durch den Abstraktionsprozess hinzukommen. Hypothetische Imperative sind letztendlich nur praktische Handlungsanweisungen, „um ein gewünschtes Ziel zu erreichen“ (Pauer-Studer 2006, 36). Ein kategorischer Imperativ wird „um seiner selbst willen“ akzeptiert - z. B. da man sich „als Vernunftwesen qualifizieren“ möchte (Zeidler 2016). Der kategorische Imperativ ist also ein notwendiges und apriorisches Sollen - abgegrenzt vom kontingenten und empirischen Sein. Dieser ist für alle vernünftigen Wesen geltend und abstrahiert von Partikularinteressen (z. B. der Menschen):
„Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; dass das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; dass mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und dass jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann.“ (Kant 2008, 9f.)
Kant unterscheidet somit „praktische Regeln“, deren Gründe der Verbindlichkeit in den Umständen der Welt liegen (hypothetische Imperative), und „moralische Gesetze“, welche a-priori aus dem Begriff der reinen Vernunft gewonnen werden (kategorische Imperative). Letztere müssen den Anspruch nach Unbedingtheit, Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit erfüllen:
„Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetztes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein der Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt.“ (Kant 2008, 53)
Der Kategorische Imperativ fordert uns also auf, die Maximen unserer Handlungen zu prüfen, ob diese die Anforderungen der drei Momente (Unbedingtheit, Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit) erfüllen:
„Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 2008, 53)
Kant formuliert noch drei weitere (gleichwertige) Fassungen des kategorischen Imperativs:
„[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ (Kant 2008, 54)
„Handle so, da[ss] du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant 2008, 65)
„[Handle] nur so, da[ss] der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“ (Kant 2008, 71f.)
Im nächsten Abschnitt wird nun anhand von Beispielen gezeigt, wie diese Maximen-Prüfung auf konkrete Fälle angewandt werden kann.
3. Maximen-Prüfung
Kant unterscheidet „Maximen“, deren Grundlagen in den Umständen der Welt liegen (vgl. hypothetische Imperative), und „allgemeine Gesetze“, welche a-priori aus dem Begriff der reinen Vernunft gewonnen werden (vgl. kategorischer Imperativ). Für das Verständnis des Maximen-Begriffs ist es hilfreich, Kants Definitionen von „Maxime“ und „allgemeines Gesetz“ anhand von mehreren Textstellen gegenüberzustellen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene Darstellung. In Anlehnung an Thurnherr 1994, 32ff.
Maximen sind also subjektive Grundsätze des Handelnden, welche sich dieser im Laufe seinen Lebens teils bewusst (z. B. durch Selbstreflexion) und (groß-)teils unbewusst (z. B. Einfluss von Erziehung, Kultur, Zeitgeist) zum Prinzip gemacht hat. Im Gegensatz dazu sind „allgemeine“ bzw. „moralische“ Gesetze die „richtigen“ und „objektiven“ Gesetze, welche für jedes vernünftige Wesen gültig sind.
Eine vergleichbare Konzeption zum Begriff der Maxime lässt sich im psychotherapeutischen Bereich finden. In der Verhaltenstherapie spricht man von den „Grundannahmen“ („basic beliefs“) eines Menschen:
„Grundannahmen sind psychologische Einstellungen und Wertorientierungen, die dazu dienen, sich über eine lange Zeit hin kohärent verhalten zu können.“ (Bonelli 2016)
Grundannahmen sind „für eine Person typische grundlegende Überzeugungen, Regeln, Werthaltungen und Pläne“ - sozusagen die „Lebensphilosophie“ eines Menschen (Hautzinger 2000, 142). Diese „Kognitionen“ sind im Gegensatz zu den „automatischen Gedanken“ abstrakter und „für viele Bereiche zutreffend (genereller), dominanter, schwerer zu beeinflussen (rigider) und [...] verhaltensbestimmender.“ Grundannahmen sind „nicht unmittelbar bewu[ss]t“, können aber „erschlossen werden“. (Hautzinger 2000, 142) Diese eben oftmals unhinterfragten Annahmen über das Leben und die Welt werden schließlich zu den Fundamenten der Handlungen. Eine Grundannahme könnte z. B. lauten (vgl. Bonelli 2016):
„Materielle Sicherheit und Unabhängigkeit ist das Wichtigste im Leben.“
„Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste.“
„Ehrlichkeit ist das Wichtigste im Leben.“
„Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen verletzt wird.“
„Die Firma ist meine Familie, ich brauche keine Kinder.“
„Die Familie ist das Wichtigste im Leben.“
„Man muss erst sich selbst lieben, bevor man jemand anderen lieben kann.“
Auch Kant bringt einige Beispiele von Maximen:
„[I]ch mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen“ (Utilitaristische Maxime) (Kant 2008, 54)
„[W]enn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen.“ (Kant 2008, 55)
„Das Ausleben des Hanges zur Ergötzlichkeit („Fortpflanzung, Müßiggang und Ergötzlichkeit“) auf Kosten der Verwahrlosung der Naturgaben“ (Hedonistische Maxime) (vgl. Kant 2008, 56)
„Jeder ist sich seines Glückes Schmied“ (Vgl. Kant 2008, 56f.)
„[M]ich durch ein unwahres Versprechen aus [einer unangenehmen] Verlegenheit [...] ziehen“ (Kant 2008, 28)
„keine Beleidigung ungerächt [...] erdulden“ (Kant 2015, 722)
„Ich habe z. B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern“ (Kant 2015, 734)
Letztendlich gibt es kein „Regelwerk“, anhand dessen sich die zugrundeliegende Maxime einer Handlung bestimmen lässt. Eine Maxime kann auch nicht an einer Handlung „abgelesen“ werden. Schlussendlich ist jede (aufgedeckte) Maxime das Ergebnis einer im Vorfeld (!) einer konkreten Situation oder Handlung durchgeführten Selbstreflexion. Vernunftbegabte Wesen sind also beauftragt, die Gründe der eigenen Handlungen laufend zu hinterfragen (z. B. immer tiefer danach zu fragen, „warum“ ich so oder so handeln will) und sich somit die fundamentalen subjektiven Grundsätze (Maxime) bewusst zu machen, welche den eigenen Handlungen zugrunde liegen. Diese bewusst gemachten Grundannahmen bzw. Maximen gilt es dann zu prüfen, ob diese die Anforderungen des kategorischen Imperativs erfüllen können:
Der kategorische Imperativ fordert uns schließlich auf zu prüfen, ob unsere subjektiven Grundsätze und Grundannahmen über die Welt verallgemeinert werden können, so dass diese die Anforderungen nach Allgemeinheit, Gesetzmäßigkeit und Unbedingtheit erfüllen. Der kategorisch Imperativ ist sozusagen nicht nur eine „ethische Prüfungen“, sondern auch eine Wahrheitsprüfung (z. B.: „Ist es wahr, dass man sich durch ein unwahres Versprechen aus einer unangenehmen Affäre ziehen darf?“; „Ist es wahr, dass das Leben abzukürzen ist, wenn es bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit versprich?“; „Ist es wahr, dass man nur etwas wert ist, wenn man etwas leistet?“). Schließlich ergibt sich nach den deontologischen Moralauffassungen die „Verpflichtung zu einem bestimmten Tun aus der Einsicht in die Korrektheit des Prinzips [...], das der Handlung zugrunde liegt.“ (Pauer-Studer 2006, 35). Wenn das Prinzip wahr ist, ist es also auch gut. Und wenn das Prinzip gut ist, ist es auch wahr. (Selbst-)Erkenntnis bzw. Selbstdenken verbürgt die Unbedingtheit des moralischen Prinzips und ist somit die Voraussetzung für moralisches Handeln.
[...]
- Arbeit zitieren
- BA Alexander Hölzl (Autor:in), 2019, Anwendung des kategorischen Imperativs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/512870
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